Christiane Mielck-Retzdorff

Fräulein Müllers Geheimnis

 

Alle nannten sie Fräulein Müller, obwohl diese Bezeichnung für eine unverheiratete Frau noch aus den düsteren Zeiten der Voremanzipation stammte, und keiner wusste, ob es ein illegitimes Überbleibsel aus dieser Aera war oder wer und wann es als Spitznamen in Umlauf gebracht hatte. Aber Fräulein Müller störte sich nicht daran, und gerade mit fortschreitendem Alter meinte sie oft mit einem Augenzwinkern,  dieser Titel gäbe ihr etwas jugendlich Mädchenhaftes.

 

Fräulein Müller als Lehrerin für Deutsch und Englisch war über alle Klassen hinweg sehr beliebt bei den Schülern des Gymnasiums. Sie galt gleichermaßen als fair und freundlich wie streng und konsequent. Und ihre hohe fachliche Kompetenz wurde nicht einmal von ihren Kollegen angezweifelt.

 

Außerdem glaubt sie unerschütterlich an das Gute in allen Menschen, was sich nicht in salbungsvollen Worten äußerte sondern in Mitgefühl und Fürsorge. Dabei verlor sie jedoch nie die für Autorität notwendige Distanz zu ihren Zöglingen. Es umgab sie eine Aura der festen Überzeugung, der sich selbst die renitentesten Schüler nicht entziehen konnten. Gelegentlichem Spott begegnete sie mit der gleichen Souveränität wie jugendlicher Rebellion. Nichts Menschliches schien ihr fremd, und so trat sie jeder neuen Herausforderung freundlich und offen entgegen.

 

Als ein Schüler meinte, sie mit der, dem Namen Fräulein zugeordneten, Jungfräulichkeit konfrontieren zu müssen, heilte eine kurze Abhandlung über den Wandel der Moralvorstellungen und dem damit verbundenen freieren Verhaltens junger Mädchen schnell seine Vorstellungen über die sexuelle Abstinenz der modernen, ledigen Frauen, ohne das Fräulein Müller tatsächlich etwas von sich preisgab. Allerdings meinten die Schüler in ihrem Gesichtsausdruck Erinnerungen an vergangene Freuden entdeckt zu haben.

 

Fräulein Müller ging ganz in ihrem Beruf als Lehrerin auf und scheute sich auch nicht vor zusätzlichen Aufgaben, wenn sie ihren Schülern zu Gute kamen. So hatte sie auch die Tätigkeit der Bibliothekarin in der Schulbücherei übernommen.

 

Und eben dort saß sie an jenem winterlichen Spätnachmittag und füllte Karteikarten für neue Bücher aus, als sie plötzlich von einem lauten Klirren aus ihrer Tätigkeit gerissen wurde. Es hörte sich an, als wenn jemand eine Scheibe eingeschmissen hätte. Fräulein Müller erstarrte. Ein Einbrecher! Hastig griff sie nach ihrem Handy in der Handtasche und hoffte inbrünstig, dass es auch aufgeladen war. Schon ertönte ein weiteres Klirren gefolgt von einem dumpfen Aufprall, als wäre ein großer Stein auf den Boden gefallen. Würden Einbrecher so einen Lärm machen und das gleich zweimal? Und wieder zerriss das gleiche Geräusch die Stille der verlassenen Schule. Der Hausmeister ist wegen seines verstauchten Knöchels beim Arzt, schoss es Fräulein Müller durch den Kopf. Hastig rief sie die Polizei an.

 

Die Geräusche kamen aus dem Erdgeschoss, wo auch die Bücherei lag. Fräulein Müller lauschte in die Stille in Erwartung eines weiteren Klirrens, das auch prompt ertönte. Wie viele Täter mochten das sein? Jetzt vermutete Fräulein Müller sinnlosen Vandalismus betrunkener oder drogensüchtiger Jugendlicher. Das Schüler ihrer Schule zu solchen Taten fähig waren, hielt sie für ausgeschlossen. Sie wollte ruhig abwarten, bis die Polizei eintraf.

 

Es war die nun folgende Ruhe, die Fräulein Müller neugierig werden ließ. Weder Grölen noch Schritte noch Gelächter waren zu hören. Waren die Täter weitergezogen? Entgegen ihrer Vernunft verließ sie schleichend die Räume der Bibliothek und pirschte vorsichtig im Dämmerlicht der spärlichen Außenbeleuchtung zu einem Fenster im Flur, von wo aus sie den Schulhof überblicken konnte. Hier erschien alles unversehrt. Es musste die Fenster der Klassenzimmer getroffen haben.

 

Fräulein Müller schaute, in der Hocke kauernd, über die Fensterbank hinaus und registrierte erst jetzt bewusst den Haufen Pflastersteine, die zur Erneuerung eines Teils des Schulhofes angeliefert worden waren. Wie praktisch, dachte sie. Dann bemerkte sie jemanden, der nach einem der Steine griff und ihn mit Kraft in eines der Fenster schleuderte. Als sich die Augen von Fräulein Müller mehr an die Dunkelheit gewöhnt hatten und das Licht kurz auf das Gesicht der Person dort draußen fiel, erschrak sie.

 

Eilig rannte sie zum Ausgang und erreichte den Ort des Geschehens gerade als die Person erneut einen Stein Richtung Gebäude werfen wollte.

„Melanie, hör sofort auf damit“, rief sie in einem Tonfall zwischen Befehl und Entsetzen.

Das junge Mädchen verharrte sofort und starrte sie an. Sie war vollkommen derangiert. Die Haare zerzaust, die Kleidung beschmutzt und das Make-up von Tränen zerlaufen.

Langsam ging Fräulein Müller zu Melanie hin, die willenlos den Pflasterstein aus ihrer Hand fallen ließ. Fräulein Müller schüttelte fassungslos den Kopf. Das Mädchen schaute verwirrt und schien erst jetzt zu begreifen, was sie angerichtet hatte.

„Melanie, wir haben jetzt keine Zeit für Erklärungen. Ich habe die Polizei gerufen. Daher ist es das Beste, ich bringe Dich erstmal in die Bibliothek und regele hier alles. Einverstanden?“

Melanie nickte stumm und folgte Fräulein Müller in das Gebäude.

„Wie soll ich das bloß meiner Mutter beibringen? Das können wir doch nie bezahlen“, stammelte Melanie.

„Darüber reden wir später“, antwortete Fräulein Müller sachlich. „Setz dich erstmal hier hin und rühre dich nicht vom Fleck bis ich wiederkomme. Hast du das verstanden?“

Wieder nickte Melanie und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

 

Während Fräulein Müller zurück auf den Schulhof ging, fragte sie sich, was wohl in ihre Zögling gefahren sein mag. Melanie war immer eine fleißige, gute und unauffällige Schülerin gewesen. Sie war beliebt, sah gut aus und war seit etwa 1 ½  Jahren mit dem Schulsprecher Christoph Zirner zusammen, auch einem angenehmen und vorbildlichen Schüler dieses Gymnasiums.

 

Es musste einen sehr triftigen Grund geben, dass Melanie derartig wütend geworden war und die Beherrschung verloren hatte. Fräulein Müller wollte den Grund dafür herausfinden und Melanie, wenn möglich, helfen. Deshalb beschloss sie, zwei ihrer Grundsätze untreu zu werden. Erstens der Ehrlichkeit und zweitens der Distanz. Der Polizei würde es genügen, von randalierenden Jugendlichen auszugehen, und die Schule war auch gegen Glasbruch durch Vandalismus versichert.

 

Fräulein Müller nahm Melanie mit zu sich nach Hause, was sie noch nie mit einem Schüler vorher getan hatte, und kochte ihnen beiden einen Tee. Schon auf der Fahrt hatte sie Melanie gefragt, ob sie Drogen oder Alkohol zu sich genommen hätte, aber Melanie verneinte überzeugend beides. Langsam entwickelte sie sich auch wieder zu dem Mädchen, das Fräulein Müller seit Jahren kannte. Auch war sie ihrer Lehrerin unendlich dankbar, dass diese vor der Polizei nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.

 

Als beide am Wohnzimmertisch Platz genommen hatten, steuerte Fräulein Müller direkt auf ihr Ziel, den Grund für Melanies Verhalten zu erfahren, los.

„Nun, Melanie, was ist passiert?“

Melanie war zu klug, um sich mit ausschweifenden Erklärungen zu entschuldigen.

„Christoph hat Schluss gemacht.“

Das erstaunte Fräulein Müller, denn die beiden galten als ideales Paar an der Schule.

„Und warum das? Hat er eine neue Freundin?“

„Das glaube ich nicht“, antwortete Melanie, „ das hätte sich schnell rumgesprochen und irgendeine dieser echten Freundinnen hätte es mir schon gesteckt.“

„Wann ist das denn passiert? Und was hat Christoph gesagt?“

Melanie traten die Tränen in die Augen.

„Er wollte mich wie immer nach der Schule mit seinem Auto nach Hause fahren, doch als ich am Wagen ankam, sagte er nur, es sei aus, weil wir nicht zusammen passen würden.“

„Das war alles?“ fragte Fräulein Müller ungläubig.

„Ja, dann setzte er sich hinters Steuer und fuhr ab. Ich war natürlich völlig perplex.“

Nun weinte Melanie. Doch schon nach kurzer zeit versiegten ihre Tränen und sie bekam einen wütend entschlossenen Gesichtsausdruck wie Fräulein Müller ihn noch nie bei ihr gesehen hatte.

„Das haben seine Eltern ihm eingeredet!“ verkündete sie mit vor Verbitterung leise zitternder Stimme.

„Aber wie kommst Du denn darauf?“

Fräulein Müller hatte ein sehr gutes Personengedächtnis und erinnerte sich an das Ehepaar Zirner als höfliche, hoch gebildete und im erträglichen Maß arrogante Leute, die sich nie in die Belange der Lehrer einmischten.

„Sie mochten mich von Anfang an nicht. Die Tochter einer Frau, die an einer Supermarktkasse ihr Geld verdient, ist eben nicht standesgemäß. Und mein Erzeuger ist angeblich unbekannt. Vermutlich irgend so ein Versager, der nicht einmal weiß, dass ich existiere.“

Melanie redete sich langsam in Rage.

„Der Vater war ja noch ganz ok und sah mich wohl gerne im knappen Bikini am Swimmingpool liegen, aber die Mutter triezte mich, wo sie konnte. Dabei machte sie noch so einen hilfsbereiten Eindruck, während sie mir Klamotten empfahl, die ich mir nie hätte leisten können. Ständig sprach sie von großen Gesellschaften mit Geldadel und Prominenz, der Welt der Reichen und Mächtigen, zu der natürlich auch sie und Christoph gehörten. Wenn ich bei ihnen zuhause war, legte sie einen übertriebenen Wert auf Etikette, was auch Christoph bemerkte, und sah mich jedes Mal mitleidig an, wenn ich auch nur den kleinsten Fehler machte. Wenn Christoph dann etwas sagte, erklärte sie unschuldig, sie wolle nur mein Bestes. Schließlich könne ich nichts dafür, dass mir nicht die nötige Erziehung vermittelt wurde.“

„Das ist nicht nur gemein sondern auch falsch. Ich halte Dich für ein sehr wohl erzogenes Mädchen.“

„Und dann soll ich Christoph noch ständig vom Lernen für das Abitur abgehalten haben“, erklärte Melanie resigniert. „Dabei wollte ich doch nur ab und zu etwas Zeit mit ihm verbringen. Ich liebe ihn doch so.“

Ablenkung suchend sah Melanie sich in dem Zimmer um und entdeckte das Foto eines sehr gut aussehenden Mannes.

„Wer ist denn das?“ fragte sie neugierig.

„Das ist Georg,“ antwortete Fräulein Müller kurz und wurde sich bewusst, dass die Zeit gekommen war, ihr Schweigen zu brechen.

„Der sieht aber gut aus“, stellte Melanie anerkennend fest.

„George sah schon als Junge blendend aus, wuchs zu einem charmanten Lebemann heran und nun haben die fortschreitenden Jahre einen sehr attraktiven Gentleman aus ihm gemacht.“

Melanie lächelte verschmitzt.

„Waren Sie mal in ihn verliebt?“

„Ich bin es noch heute“, sagte Fräulein Müller in ihrer zweifelsfreien Offenheit.

Melanie sah sie fragend an, wagte aber aus Respekt vor ihr nicht, auf weitere Einzelheiten zu drängen.

„Weißt Du, Melanie, für alles im Leben gibt es die richtige Zeit und nun ist wohl der Moment gekommen, wo ich Dir aus meinem Leben erzählen sollte.“

Melanie setzte sich gespannt und freudig aufrecht hin.

„Auch ich lernte Georg auf dem Gymnasium kennen. Damals war ich sechzehn Jahre alt, er siebzehn und der Schwarm aller Mädchen. Warum er gerade mich zu seiner Freundin machte, ist mir bis heute ein Rätsel, aber natürlich war ich überglücklich und sehr stolz. Georg war meine große Liebe und ist es bis heute. Aber er war ein rastloser Mann, der die Welt und das Wissen erobern wollte. Seine Eltern waren sehr vermögend und so standen ihm alle Möglichkeiten offen, während ich aus Verhältnissen stammte, wo schon der Besuch einer weiterführenden Schule einen Luxus darstellte. Nach dem Abitur verließ er Deutschland und studierte an verschiedenen Universitäten im Ausland. Dort machte er auch Karriere und verdiente sehr viel Geld…“

„… und dann heiratete er eine Frau aus der besten Gesellschaft, bekam wohlgeratene Kinder und lebte glücklich bis an sein Lebensende, während Sie ihr Dasein als Lehrerin fristen und ihrer Liebe nachtrauern“, ergänzte Melanie.

Fräulein Müller lachte.

„Ganz so ist es nicht. Georg hat nie geheiratet, was bei seinem unsteten Leben wohl auch vernünftig war. Vermutlich hatte er aber viele Affären. Doch wir haben nie den Kontakt zueinander verloren.“

In diesem Augenblick drehte sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür, und beide Frauen sahen zum Flur, wo kurz darauf in prachtvoller Lebensgröße, edel gekleidet und mit einem unwiderstehlichen Lächeln auf den Lippen Georg erschien. Melanie verschlug es die Sprache, während Georg Fräulein Müller mit einem Kuss begrüßte.

„Wie schön, wir haben Besuch“, stellte er fest. „Eine deiner Schülerinnen?“

„Ja, darf ich Dir Melanie Günter vorstellen.“

Georg reichte Melanie die Hand und sah sie lange intensiv an. Melanie errötete.

„Es ist wohl besser, wenn ich mich jetzt verabschiede“, stotterte sie.

„Doch hoffentlich nicht meinetwegen“, sagte Georg. „Ich genieße gemeinhin die Gesellschaft junger Damen.“

„Nein, nein“, beteuerte Melanie hastig. „Es ist schon spät, und meine Mutter kommt gleich nach Hause. Sie macht sich sonst Sorgen.“

Schon stand Melanie auf, verabschiedete sich höflich, wobei sie länger als beabsichtigt die Hand von Georg hielt und entschwand.

„Ein reizendes Geschöpf“, bemerkte Georg. „Wie alt ist sie?“

Fräulein Müller sah ihn mit dem gleichen durchdringenden Blick an, mit dem sie auch die Gedanken ihrer Schüler erraten konnte.

„17“, antwortete Fräulein Müller, „und sie sieht ihrer Mutter sehr ähnlich.“

Georg setzte sich, und eine Denkerfalte spielte auf seiner Stirn.

„Liebling“, fragte Fräulein Müller ahnungsvoll, „kann es sein, dass ich bald eine Stieftochter habe?“

 

 

 

 

 

 

 

 

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