Alfred Hermanni

Der Große Hunger oder die Rückkehr vom Mars

 

 

von Alfred Hermanni und Peter Jaskewitz

(Alle Rechte vorbehalten)                                                                                        29.01.2010

 

„Houston! Hier spricht die internationale Marsmission Virgo 2! Houston, wir haben ein Problem! Bitte kommen, Houston!“, rief die hübsche, dunkelblonde Astronavigatorin Annick Bloyard zum wiederholten Male ins Mikrofon. Eine Antwort blieb auch jetzt aus. Seit der Meteoritenschauer die Funkantenne zerstörte, war das auch kein Wunder, dennoch versuchte es die junge kanadische Frau immer wieder, so als könnten die noch verbliebenen Antennenstummel wie durch ein Wunder ihre Funktion wiedererlangen.

„Wir müssen warten bis wir in den Mondorbit eingeschwenkt sind“, nuschelte Edward Jaszkiewicz, der polnische Physiker und Kommandant der Marsmission, geduldig und nicht brüsk wie es sonst seine Art war.

„Noch 36 Stunden, und wir sind in Reichweite der Mondstation Centauri Beta. Mit Hilfe der Funkgeräte in unseren Raumanzügen können wir darüber Verbindung mit Houston aufnehmen. Bis dahin gedulde dich bitte, Annick. Es macht vorher keinen Sinn. Die Antenne ist zerstört, die Raumanzüge sind die einzige Chance. Wir sollten froh sein, sie überhaupt noch zu haben, nach all dem, was auf dem Mars geschehen ist“, erklärte Edward geduldig weiter.
Das war ungewöhnlich, denn normalerweise war er eher verschlossen, sozusagen mundfaul und sprach nur das Nötigste. Und das kurz und knapp in Hauptsätzen. Seine ausgiebige Ansprache in ihre Richtung ließ sich nur mit seiner großen Zuneigung für sie erklären. Doch die Wirkung auf Annick war beruhigend, wie sich an ihrem dankbaren Blick zeigte.

Verlegen und unbewegten Gesichts, ganz in seiner Rolle als Kommandant, wandte er sich wieder ab. Und als er sich unbeobachtet glaubte, streifte er sie mit einem zärtlichen Blick.

 

Aber die Ereignisse seit der Ankunft auf dem Mars hatten wohl auch ihn, genauso wie die gesamte Planung der Marsexpedition, mächtig durcheinander gebracht. Vor vier Monaten begann diese Mission, um mit den Vorbereitungen für das erste Kolonieprojekt auf dem Mars zu beginnen. Und dabei hatte alles so vielversprechend angefangen.

 

„Ich weiß es ja. Aber ich kann nicht tatenlos herumsitzen und warten“, erwiderte Annick und ließ das Mikrofon in wieder in seine Halterung gleiten. „Irgendetwas müssen wir doch tun können“, seufzte sie.

„Nein, nicht wirklich“, stellte Edward nüchtern und knapp fest, wieder ganz der knöttrige Einzelgänger. Und doch dachte auch  er mit Grauen an die Ereignisse der letzten Wochen zurück, Tage, in denen alle an ihre existenziellen Grenzen gerieten…

 

                                                                 *

 

Zwei Monate zuvor:

 

„Das war eine perfekte Landung, Tosh. Erstklassige Arbeit“, mehr übellaunig als erfreut lobte der Kommandant den Piloten der Landefähre knapp über Funk. Mehr Ansprache war von ihm kaum zu erwarten.

„Wirklich toll, butterweich aufgesetzt. Ausgezeichnet.“ Das Lob von Sybil, die neben ihm auf dem Platz des Co-Piloten saß, freute Tosh hingegen besonders. Auch wenn er es nicht direkt zeigte, mochte er sie doch sehr gern.

Die Landefähre „Enterprise“ stand nun auf dem Mars, in der Region Utopia Planitia, während das Mutterschiff im Orbit kreiste. Der Krater Elysium befand sich nur zwei Kilometer südlich vom Landepunkt und war deutlich zu erkennen. Nach nur knapp zwei Monaten Flugzeit hatte das Mutterschiff „Orion 2“ dank des neu entwickelten Ionentriebwerks den Mars schneller erreicht als je ein Raumschiff zuvor.

Perfekt arbeitende Triebwerke, die als Ringwulst um die zentrale Einheit des Raumschiffs angeordnet waren, eine vorher nie erreichte Geschwindigkeit sowie eine äußerst effektive Energieausbeute, sollten der geplanten Kolonisierung des Mars den nötigen Vorschub geben.

Die erst seit einigen Jahren beherrschbare künstliche Gravitation vermittelte zumindest die Illusion irdischer Verhältnisse und half, das Wohlbefinden und die Belastbarkeit der Mannschaft zu erhöhen. So war es fast selbstverständlich, dass sich das mehrstufige Mutterschiff mit seiner umfangreichen Ladung bald in Rekordzeit im Marsorbit befand. Schließlich vermittelte eine nahezu synchrone, permanente Hyperfunkverbindung ein Gefühl von Heimatnähe. Eine direkte Bildübertragung über eine so große Entfernung war jedoch noch nicht erreicht worden, so dass sich die Menschen schon persönlich auf den Weg zum Mars machen mussten.

Die genaue Erkundung der Umgebung und die Prüfung der geologischen Umgebungsverhältnisse sowie viele weitere Tests konnten jetzt in Angriff genommen werden. Sie waren Grundlage für das Ausmaß des geplanten Terraformings des Mars und seiner Atmosphäre, um diesen für die Menschen bewohnbar zu machen. Nicht zuletzt sollten auch die im hinteren Teil des Raumschiffs mitgeführten Container mit ihren Messstationen ausgebracht und an verschiedenen Standorten aufgestellt werden, um mit ihrer Hilfe von der Erde aus den Fortgang des Terraforming-Prozesses zu verfolgen.

 

Nach der nächsten Schlafperiode, die in zwei Stunden beginnen sollte, war der Ausstieg der ersten menschlichen Vorhut geplant.

Sybil Celestine Fleming sollte die Rolle zukommen, als erste Frau der Menschheit ihren Fuß auf den roten Planeten setzen. Dieser Augenblick war gemäß Houstons Regie selbstverständlich zu filmen und entsprechend zu dokumentieren, um die Menschen später von der Notwendigkeit der Marsbesiedlung zu überzeugen. So jedenfalls die Planung…

 

„Ich habe hier etwas, und ich weiß nicht, was es ist“, ließ sich Simon von seinem Ortungsgerät in der Landefähre vernehmen. „Ein deutliches Ortungsecho samt Funksignal aus Richtung Krater schätze ich“, teilte der israelische Elektroniker und Funkspezialist mit.
„Ja genau, es kommt aus dem Kraterzentrum. Ich kann es aber noch nicht einordnen oder identifizieren“, fügte er nervös und fast ungeduldig hinzu. Ihm konnte nichts schnell genug gehen. So war er eben.

„Wie meinst du das? Welche Art von Signal?“, fragte in aller Ruhe Joaquin Sebina, unser so gar nicht temperamentvolle spanische Kollege, der als Biologe und Mediziner der Mission mitreiste. Er war keineswegs ein Macho, wie man es von einem Spanier vermutet hätte und taugte eher als ausgleichendes Element.

„Warte, ich stelle den Lautsprecher an“, antwortete Simon hastig und nahm die Kopfhörer ab. Ein leiser Piepton erklang, regelmäßig im Abstand von einer Sekunde, jeweils neunmal. Dann neun Sekunden Pause, und das Signal war wieder da.

„Das ist eindeutig nicht natürlichen Ursprungs. Und es kommt aus dem Krater, sagst du?“, fragte Tosh, der englische Pilot unserer Landefähre.

„Eindeutig, kein Zweifel, es kommt aus dem Krater“, bestätigte Simon seine Entdeckung, nachdem er mittlerweile eine Funkpeilung vorgenommen hatte.

„Dann mach´ Meldung beim Kommandanten, am besten sofort. Er muss entscheiden, wie es weitergehen soll“, befahl der Pilot.

 

Die Antwort des Commandante war wie erwartet kurz und eindeutig: Untersuchen. Identifizieren und herausfinden, was es bezwecken soll. Das Ganze, wenn möglich gestern, mit größter Sorgfalt und Umsicht. Keinerlei Risiko, keine Alleingänge, und eine sichere Rückkehr zur Landefähre hatten Priorität.

 

Die Distanz zum Krater wurde mit dem neuentwickelten Marsrover zurück gelegt. Pilot des Fahrzeuges war Rajif Singh, Ingenieur und Triebwerkspezilist aus Indien.

Als sie den Kraterrand erreichten, türmte sich der Ringwall über einhundert Meter hoch vor ihnen auf. Das war selbst für den optimierten Elektromotor des Rovers und seine gehärteten Antriebsräder zuviel.

„Bis wir einen Weg über dieses Hindernis finden, schicke ich schon mal eine Sonde zur Erkundung des Kraterinneren los“, kommentierte Simon seine Vorbereitungen zum Start des Geräts.

Zehn Minuten später schwebte die Mini-Drohne über den Ringwall zur Mitte des Kraters und sendete die ersten Aufnahmen. Leistungsstarke Rotoren mit hoher Drehzahl sorgten für genügenden Auftrieb, so dass die Drohne ruhig über dem Krater schweben konnte. Sie sandte gestochen scharfe Bilder in hoher Auflösung.

„Was ist denn das? Ich glaube es einfach nicht. Träume ich, ist es wirklich das, was ich sehe?“. fragte Simon in die Runde und blickte fragend jeden einzelnen an.

„Du träumst nicht Simon, dort steht tatsächlich eine Pyramide“, erwiderte Sybil, unsere Geologin und Molekularbiologin, nach einem Blick auf den zentralen Monitor „Allerdings eine relativ kleine im Vergleich zu den ägyptischen oder aztekischen Bauten. Schaut, den Daten zufolge beträgt die Breite am Fuß nur fünfunddreißig Meter, dreieckige Grundform und fünfzig Meter hoch. Eine ungewöhnliche Form für eine Pyramide, würde ich sagen“, erklärte sie weiter.

Sie mochte sich in der Rolle als Lehrerin und zeigte dabei eine gewisse Eitelkeit, was nicht zuletzt ihrer hübschen fraulichen Erscheinung geschuldet war. Zumindest Tosh schmolz bei jedem ihrer Vorträge dahin.

„Und da ist noch etwas. Das Objekt strahlt Wärme aus. Guckt euch die Infrarotaufnahmen an!“, rief Simon mit erregter Stimme dazwischen. Tatsächlich deutete alles darauf hin, dass im Inneren der Pyramide Energie erzeugt wurde.

„Wir sollten den Rest der Crew informieren und beim Kommandanten nachfragen, wie wir weitermachen sollen“, gab Simon vor. Die zustimmende Antwort des Kommandanten ließ nicht lange auf sich warten.

Die Neugier war zu groß, und die Aussicht, hier den Fund des Jahrtausends gemacht zu haben, erzeugte in Allen eine angespannte Erwartung. Also suchte die Crew des Rovers nach einem möglichen Weg über den Ringwall. Hierbei leistete die Drohne einen wichtigen Beitrag und zeigte kurz darauf Bilder des Geländes, die eine befahrbare Strecke ins Kraterinnere erkennen ließen.

Dann standen sie vor der Pyramide: Silbrig glänzend mit absolut glatter Oberfläche bot sie sich ihnen dar.

„Schaut euch diese Oberflächenstruktur an, völlig glatt, kein Kratzer zu erkennen. Bei den heftigen Staubstürmen hier auf dem Mars, ist das eigentlich kaum zu glauben“, teilte Sybil ihre geologische Erkenntnis mit den beiden anderen Crewmitgliedern.

Sie verließen den Rover und näherten sich vorsichtig an. Bald standen sie direkt vor dem Bauwerk und umrundeten es in respektablem Abstand.

„Und hier, seht euch das an, Symbole, einwandfrei“, stellte Sybil fest, hob ihre rechte Hand und berührte ein kreisförmiges Zeichen.
„Nein, Sybil, nicht!“, rief Simon noch, aber es war zu spät.

 

Vor ihnen tat sich ein länglicher Spalt auf, der immer breiter wurde und den Eingang zur Pyramide freigab.

„Wollen wir hineingehen oder hier draußen warten, bis sich der Eingang wieder schließt?“, fragte Sybil. Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern setzte zielstrebig ihren Fuß über die Schwelle. Nichts geschah. Singh und Simon folgten ihr und gingen langsam hinein. Im Inneren leuchtete es dunkelblau, und nur vage konnten sie erkennen, was vor ihnen lag.

„Helmlampen einschalten!“, lautete Singhs Aufforderung. Nacheinander flammten drei kleine, aber leistungsstarke  Scheinwerfer an den Helmen der Druckanzüge auf. Sekunden später war plötzlich der gesamte Raum erleuchtet.

An der veränderten Akustik erkannten sie, dass sie sich in einem größeren Saal befinden mussten.

„Ich glaube wir können die Helmlampen wieder ausschalten; scheint so, als hätte man uns erwartet. Und wenn gleich jemand zur Begrüßung erscheint, fress’ ich `n Besen“, meinte Simon, aber nichts und niemand erschien.

„Und was ist das dort? Seht ihr es, vor uns in der Mitte?“, fügte er hinzu. „Sieht aus wie ein Block aus Stahl, schätze ich. Wir müssen näher heran“, erklärte er überflüssigerweise.

„Mir ist unheimlich. Irgendwie gruselig“, flüsterte Sybil. Langsam näherten sie sich dem unbekannten dunklen Quader.

 

Als sie noch etwa zwei Meter vom Block entfernt waren, begann dieser plötzlich in bläulichem Licht zu wabern und verschwand. Zum Vorschein kam ein sargähnlicher Behälter von silbergrauer Farbe. Er schwebte eine Handbreit über dem Boden. Singh begann das Objekt zu umrunden und nahm es genau in Augenschein. Er trat langsam heran.

„Sieht aus wie ein Sarg. Was mag sich wohl darin befinden? Ob wir ihn öffnen können?“, dachte Singh laut nach.
„Spinnst du, warum sollen wir ihn öffnen? Wer weiß, was sich darin befindet, und ob es für uns nicht gefährlich ist?“, gab Sybil leise zu bedenken.

„Ich kann keine Nahtstelle oder etwas Ähnliches erkennen, das wie ein Öffnungsmechanismus aussieht. Nur diese Symbole auf der Oberfläche. Genau wie am Pyramideneingang“, bemerkte Singh. Simon trat nun ebenfalls heran und schaute sich die Symbole an. Er hob seine Hand, fuhr sachte über dessen Oberfläche und

berührte eines der Symbole, doch nichts geschah. Seine Finger glitten weiter und berührten ein anderes Symbol.

Plötzlich erlosch das Licht, und Dunkelheit umgab die Crew im Inneren der Pyramide.

Sybil kreischte auf. Auch den anderen fuhr der Schrecken in die Glieder, als der Raum plötzlich von tief violettem Licht durchdrungen wurde.

Ein leises Sirren drang aus dem Behälter, und plötzlich wurde das Kopfteil des Sarkophags milchig-transparent. Undeutlich wurde ein menschenähnliches Gesicht sichtbar. Schwarzes, schulterlanges Haar und unergründlich tiefe, dunkle Augen bestimmten schemenhaft das äußere Aussehen, zwar schön, aber kaum erkennbar, ob Mann oder Frau  - eher androgyn….

Wie gebannt starrten sie auf die humanoide Erscheinung, als diese unerwartet die Augen öffnete. Die nachtschwarzen Augen sahen sie an und schienen durch sie hindurch zu blicken. Dann schlossen sich die Augenlider wieder.

Singh trat plötzlich noch näher an den Sarg heran und berührte unvermittelt, wie unter Zwang, die transparente Fläche des Kopfteils.

 

Seine Hand glitt hindurch. Es knisterte wie bei einer elektrischen Entladung. Plötzlich versteifte sich Singhs Körper, seine Augen brachen und wurden stumpf, jedoch mit vor Entsetzen geweiteten Pupillen. Ein glühender Ring erschien an der Kontaktstelle seines Arms, waberte schnell um seinen Körper herum und hinterließ... nichts. Der Arm war einfach fort, und nach Bruchteilen von Sekunden war auch von Singh nichts mehr zu sehen. Er war einfach verschwunden, restlos, und ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, aufgelöst als hätte er nie existiert.

Sybil zitterte am ganzen Körper.

Unfähig einen Laut über die Lippen zu bringen, stand sie mit weit aufgerissenen Augen vor dem Sarg und brach zusammen.

Simon war ebenfalls wie paralysiert und reagierte erst Sekunden später auf ihren Zusammenbruch. Mit fahrigen Bewegungen, noch sichtlich erschüttert, begann er Sybil zu schütteln. Er klopfte ihr auf den Helm, rief verzweifelt ihren Namen. Endlich öffnete sie ihre Augen und begann zu weinen. Sie schluchzte hemmungslos.

Der Schrecken hielt sie noch immer im eisigen Griff. Es dauerte Minuten, ehe sie sich gefasst hatte und wieder ansprechbar war. Inzwischen hatte Simon über Funk den Rest der Crew über das Unglück informiert.

Vom Kommandanten wurde die sofortige Rückkehr angeordnet. Aber plötzlich entdeckte Simon etwas Neues. Der Sarg schwebte nicht nur, er ließ sich auch mit Leichtigkeit bewegen. Mit einem leichten Druck auf seine Seite konnte man ihn ohne weiteres manövrieren. Er unterrichtete den Kommandanten von der neuen Lage und erhielt den Befehl, den Sarkophag zunächst zur Landefähre zu bringen und auf weitere Befehle zu warten. Die Zentrale in Houston sollte über das weitere Vorgehen befinden.

Es bedurfte keines Kraftaufwandes, den Behälter zum Marsrover zu bringen. Vorsichtig befestigte Simon ein Seil an ihm und zog den schwebenden Sarg noch behutsamer zur Landfähre. Dort angekommen, schob er ihn in den kleinen Laderaum. Dann half er der seelisch zutiefst erschütterten Sybil ins Gefährt. Tosh startete die Landefähre und flog sichtlich irritiert zum Mutterschiff. Dann wurde der Sarkophag umgehend im Frachtraum der Zentraleinheit untergebracht. Houston hatte zwischenzeitlich Anweisung gegeben, die Mission sofort abzubrechen und den Fund des Jahrtausends zunächst zur Mondstation Centauri Beta und später zu weiteren Untersuchung zur Erde zu bringen.

 

Im Mutterschiff  standen sie schweigend vor dem Sarkophag und schauten ihn an. Wieder war es Simon, der das Symbol drückte und hoffte, dass es einen Effekt hervorrief wie beim ersten Mal. Und genauso geschah es.

Das Kopfteil wurde transparent, und das Gesicht der humanoiden Erscheinung wurde sichtbar. Sie öffnete die Augen. Und diesmal sprach sie zu ihnen. Aber sie hörten sie nicht. Die Botschaft erklang direkt in ihrem Inneren. Eine mentale Stimme drang tief in das Bewusstsein eines jeden Einzelnen und ließ sie ob ihrer Intensität und Kälte innerlich erschauern. Noch nie hatten sie telepathischen Kontakt zu einem anderen Wesen.

 

„Habt keine Angst. Schaut mich an und begreift, wen ihr wiedergefunden habt. Ich kenne euch. Ihr bringt mich nur zurück. Dorthin, wo ich schon einmal war.“

 

„Was meinst du damit? Die Erde? Wer bist du?“, stellte Simon gleich mehrere Fragen zugleich.

 

„Ihr braucht nicht zu sprechen, ich verstehe eure Gedanken auch so. Ja, ich war vor langer Zeit schon einmal bei euch. Ich komme und gehe wie es mir beliebt. Ich ernähre mich von euch. Eure Seelen und Körper nähren mich, und die Zeit ist da, für eine neue Speisung. Ich bringe euch Frieden. Ihr werdet ein Gesetz daraus machen. Ihr werdet all diejenigen töten, die meine Anweisungen missachten. Ihr werdet Kriege führen für das Gesetz, mein Gesetz. Und ihr werdet mich nähren durch eure Lebenden und Toten. Damit ich wachsen und Kraft gewinnen kann, immer weiter…
Dies ist mein Plan: Ich sende euch meine Botschaft der Liebe. ihr werdet sie wie immer nach Menschenart pervertieren und alles hassen, was anders ist, so wie ihr`s stets getan. Ich werde also zu euch hinab fahren, werde unter euch sein. Und so wie vor langer Zeit, werde ich wieder bei euch leben."

 

„Du warst schon einmal auf der Erde? Wann war das?“, fragte Tosh stockend. „Und weshalb fanden wir dich dann auf dem Mars? Und wozu braucht jemand wie du überhaupt ein Raumfahrzeug?“, ergänzte Edward trocken.

 

„Schon die alten Mythen Eurer Bibel und apokryphen Schriften künden von mir. Ich bin Behemoth, unüberwindbar selbst von den riesigen Nephelim. Der Prophet Hesekiel war der einzige, der mich einst erkannte und bezwang. Ich wurde verbannt und mit Hilfe des Maya-Königs Pakal von Palenque in dessen Raumschiff 573 v. Chr. zum Mars gebracht. Dort ließ man mich hungrig und in Stasis in der Pyramide meines Mars-Exils zurück. Die Narren hätten mich töten sollen. Im Alten Testament Eures Gottes, unter Hes.12/2, künden die Worte und Schriften dieses dreimal verfluchten Sohnes eines israelischen Priesters namens Bussi bereits von mir: Menschensohn, du wohnst inmitten des widerspenstigen Geschlechts, das Augen hat, zu sehen und doch nicht sieht und Ohren, zu hören und doch nicht hört…
Über zweieinhalb quälende Jahrtausende sind seither verstrichen. Und nun ist es wieder soweit. Der Zyklus beginnt von neuem. Unterwerft Euch, sofort! Denn es ist die Zeit für euch gekommen, mich zu ernähren! Denn mein Hunger ist groß.“

 

Die Eröffnungen des Marswesens riefen zunächst ungläubiges Erstaunen und dann eine Mischung von Furcht, Entsetzen und Lähmung bei den Menschen hervor.
„Wir denken nicht daran!“, widersprach der Kommandant  - „…und wir werden abwarten und Tee trinken“, stieß Anthony „Tosh“ Warren, der englische Pilot, schließlich gepresst hervor und wandte sich an die anderen. Es sollte wohl witzig und irgendwie very british wirken, verfehlte aber gänzlich seine Wirkung.

 

„Du hast echt die Ruhe weg, Tosh. Macht es dir denn überhaupt nichts aus, dass wir Singh verloren haben und sich nun ein solcher „Gast“ an Bord befindet?“, wandte Joaquin Sebina ein.

„Und ob mir das etwas ausmacht. Aber soll jetzt blinder Gehorsam oder Aktionismus unsere nächsten Handlungen bestimmen?“, entgegnete Tosh und fügte noch hinzu: „Um unseren „Gast“ wird sich schon die NASA kümmern.“

„Mir gefällt nicht, dass wir vorher nichts über ihn herausfinden durften. Der liegt in diesem Behälter und existiert vor sich hin. Mir gefällt das ganz und gar nicht. Ich hab ein sauschlechtes Gefühl“, mischte sich nun auch Sybil Celestine Fleming ein. „Ich glaube auch nicht, dass die NASA sich lange um unseren Gast kümmern wird. Dies wird ganz schnell zu einem Fall für irgendeinen der Geheimdienste, CIA, NSA oder was weiß ich. Jedenfalls glaube ich, dass der ganz schnell verschwinden wird. Und wir werden dann zu Geheimnisträgern erster Klasse, oder verschwinden auch ganz plötzlich: bedauerlicher Unfall oder so.“

„Sybil und ihre Verschwörungstheorien, die hören nie auf“, spöttelte Tosh freundlich.
„Du musst das ja auch nicht glauben, Tosh. Aber wundere dich nicht, wenn du eines Morgens Besuch von Männern in schwarz erhältst“, fügte sie hinzu.

„Ja, ja, die Men in Black. Ich hab´ schon richtig Angst“, witzelte nun auch Annick, aber wohl eher, um sich Mut zu machen.

„Es ist nicht falsch, wenn wir Bedenken oder auch Angst vor dem haben, was auf uns zu kommen wird. Denkt an unseren Gast. Was wissen wir denn wirklich?“, fragte Edward in die Runde und schaute jedem in die Augen. „Wir wissen nur, das wir einen Humanoiden auf dem Mars gefunden haben, fähig zur telepathischen Verständigung, in einem Behälter liegend, dessen Technologie nicht irdisch, zumindest aber ziemlich unverständlich ist. Es behauptet, ein gewisser Behemoth sowie über 2.500 Jahre alt zu sein und will den biblischen Hesekiel und einen Maya-Prinzen Pakal von Palenque kennen.“

„Vielleicht sollten wir noch mal versuchen diesen „Sarg“ zu öffnen. Immerhin hat unser Gast beim ersten Versuch die Augen geöffnet“, schlug Tosh vor.

„Ob es in einen Zusammenhang mit dem Öffnungsversuch steht, wissen wir nicht“, warf Joaquin jedoch ein und blickte fragend in die Richtung Simon Avihars.
„Warum siehst du mich so an, Joaquin, ich habe nur dieses Symbol auf dem Behälter berührt, dann wurde der Deckel in Kopfhöhe transparent, und es hat die Augen geöffnet. Ich weiß nicht, ob es daran lag? Möglicherweise, ja vielleicht“, gab Simon zu.

„Mir wird allein schon gruselig bei dem Gedanken, den „Sarg“ zu öffnen“, meinte Annick, die unsere Mission als Astronavigatorin begleitete und sich besonders durch ihr einfühlsames Wesen auszeichnete, mit dem sie selbst Edward, unseren sonst so spröden Kommandanten beeindruckte. „Wer weiß denn schon, wer dieser Mann ist?“, fügte sie noch hinzu.

„Wenn es denn ein Mann ist. Ist er überhaupt ein Mensch, auch wenn er scheinbar aussieht wie ein solcher? Vielleicht ist es auch nur ein Hologramm und ganz und gar nicht menschlich? Wir sollten es versuchen und erfahren mehr, vielleicht ist es wirklich ein menschliches Wesen. Und wir kennen nicht einmal sein Geschlecht“, reagierte Tosh auf Aninicks Bemerkung .

„Einige „Vielleichts“ zuviel, oder?“, kommentierte Edward Toshs´ Ausführungen und befand: „Aber ich schätze, Versuch macht klug.“
„Es bleibt noch die Frage, warum der Deckel nach so kurzer Zeit wieder undurchsichtig wurde.“

„Vielleicht klappt der zweite Versuch auch gar nicht.“ Doch Simons halbherzige Bemerkung fand kein Gehör, und so begab sich die Crew in den Frachtraum.
Nur Sybil und Annick waren nicht zu bewegen, dorthin mitzukommen. Niemand machte ihnen daraus einen Vorwurf.

 

                                                                  *

 

Doch die nächsten Tage wurden zu einer einzigen Katastrophe. Einen nach dem anderen verspeiste das Wesen vom Mars.

Es gab kein Entrinnen, außer der Flucht durch die Luke ins All. Und selbst diese Möglichkeit schien fraglich, weil Behemoth dies durch mentale Versklavung verhindern könnte. Zwar ließ sich der Sarg nicht öffnen, aber eine erneute Berührung des Kopfteils führte zu katastrophalen Folgen. Nach Singh in der Pyramide, traf es Tosh. Wie sein indischer Kollege, wurde auch er plötzlich transparent als er das Symbol berührte und verschwand nach einem kurzen entsetzten Schrei rückstandslos. Etwas wie ein mentales Echo des Wohlbehagens ließ das unbegreifliche Wesen sie spüren. Und es klang bedeutend kräftiger als zuvor.

„Gute Ernährung ist alles!“, reagierte sich der Kommandant in einer Anwandlung schwarzen Humors ab, wobei ihm das Grauen im Gesicht geschrieben stand.
 

Der Versuch, auf seinen Befehl den Sarkophag in den Weltenraum auszuschleusen, kostete ein weiteres Menschenleben, als Simon und Joaquin versuchten, den Sarkophag vom Frachtraum in die Schleusenkammer zu bewegen.

Nicht nur, dass sich dieser keinen Millimeter bewegen oder heben ließ, er bildete einen transparenten Energieschirm heraus, der bei Annäherung schmerzhafte Reaktionen bis hin zu Krampfanfällen hervorrief.

Dann urplötzlich bildete sich um Simon ein dunkles Wabern heraus, das ihn ganz langsam schmerzhaft verzerrte und im wahrsten Sinne entstofflichte.

Mit Schaudern beobachteten Edward und die beiden Frauen in der Zentrale, wie Simon starb und ohne einen Laut verging.

Und wiederum erklang das mentale Wohlbehagen Behemoths tief im Inneren der Menschen. Abermals gekräftigt, strotzte es nun vor psionischer Stärke.
Nun lernten die letzten Crewmitglieder, dass der Seelen- und Körperfresser vom Mars seine Nahrungsaufnahme variieren konnte. Es speiste gewöhnlich schmerzlos, zumindest war kein Laut des Opfers zu vernehmen, wenn es jemandem die Aura und danach seinen Körper nahm. Aber wenn es ihm beliebte oder bei Verärgerung, wie nach dem Versuch der Ausschleusung, geschah dies langsam, geradezu sadistisch träge.

Nahezu sichtbar für jeden Zuschauer, entriss es seinem Opfer Molekül für Molekül, das unter infernalischen Schmerzen einen vielfachen Tod in Zeitlupe starb.

Joaquin war angesichts Simons Tod im Frachtraum zusammengebrochen und reagierte nicht mehr auf Weckrufe. Ehe Edward aber weitere Anweisungen geben konnte, rannte Sybil in den Frachtraum und zerrte den bewusstlosen Spanier unter Aufbietung aller Kräfte heraus.

Das Marswesen war entweder zu satt oder nicht in der Lage, diese Aktion zu verhindern, so dass die Rettungsaktion gelang.

Und überhaupt: Ohne Hilfe war es anscheinend auch nicht in der Lage, sich fortzubewegen. Vielleicht aber nur im Moment, weil es noch nicht kräftig genug war.

Dann fällte der Kommandant eine folgenschwere Entscheidung. Er betätigte den Auto-Befehl zur Kurskorrektur: Rückkehr zum Mars bei voller Beschleunigung, um das Mutterschiff auf dem roten Planeten zerschellen zu lassen. Eine typische, skurrile Anwandlung Edwards, der lieber das Leben der Crew und seines opfern und der Menschheit eine Rolle als Nahrungsquelle eines Seelen- und Körperfressers ersparen wollte. Persönlich und insgeheim hatte er den neuen Kurs berechnet sowie den Kurscomputer programmiert. Allerdings entging ihm, dass der Rechner mit seiner automatischen Sprachausgabe pflichtgemäß und lautstark per Rundruf auf den vermeintlichen Kollisionskurs und die scheinbare Bedrohung für die Besatzung reagierte.

 

Die Antwort Behemoths erfolgte prompt und grausam, indem es zunächst Sybil psionisch unterwarf und versklavte. Mit unglaublicher Geschwindigkeit betrat diese unter diesem Zwang abermals den Lagerraum und wurde dort langsam unter Schmerzen verspeist.

Dann überschlugen sich die Ereignisse, indem es versuchte, Edwards Persönlichkeit ebenfalls zu unterwerfen.

Der brutale paramentale Angriff warf den Kommandanten nieder. Er wälzte sich am Boden und zuckte wie unter einem epileptischen Anfall, blieb dabei aber völlig stumm.

 

                                                                  *

 

Hier, zu diesem Zeitpunkt, ergab sich wohl die Wende. Edward berichtete später von dieser unheimlichen psionischen Begegnung  - natürlich kurz und knapp wie es seine Art war: Demzufolge drang das Marswesen brutal und mit hypnotischer Macht direkt in seine Persönlichkeit ein und versuchte, sie unter seine Kontrolle zu bringen.

Er habe zwar ein gewisses Unwohlsein und etwas Ähnliches wie einen Kopfschmerz verspürt, so Edward, aber keineswegs die Qualen, die ihm das Wesen suggerierte. Die Attacke war wohl zu ertragen gewesen, nicht mehr oder weniger wie die vielen Peitschenhiebe seiner Stiefmutter, die er jedoch bereits in seiner Kindheit wegzustecken gelernt habe.

Und was niemand ahnen konnte, am wenigsten er selbst: Mental war Edward völlig taub und für den Seelen- und Körperfresser wegen seiner skurrilen, eigenartigen Persönlichkeitsstruktur nicht lesbar, nicht übernehmbar, und irgendwie verschluckte es sich immer wieder bei seinen Versuchen, sich Edwards Seele und seinen Körper einzuverleiben. Dessen Persönlichkeit schien auf seltsame Weise nicht kompatibel mit der Wesensstruktur Behemoths.

So blieb dem Marswesen nur, sich telepathisch an ihn zu wenden. Verhandlungen waren also nur auf Augenhöhe möglich.
Dabei erkannte Edward, dass das Wesen mit steigender Nahrungsaufnahme seine äußere Form verändert hat: Es wirkte nun nicht mehr menschlich, sondern eher wie ein Mischwesen mit insektoid-vogelartigen Elementen, dann wieder wie die Erscheinung eines Riesentiers nach Art eines Flußpferds oder Krokodils.
Da sich der Kommandant trotz aller psionischen Einschüchterungsversuche nicht unterworfen hat, ergab sich im übertragenen Sinne ein mentales Remis.
Das Marswesen verfügte über keinerlei Druckmittel, das war dem Kommandanten sehr wohl bewusst. Und als Nahrungsmittel schied er wohl aus Gründen mentaler Inkompatibilität und wegen der Fähigkeit, das Raumschiff bis zum Mond zu bringen, ebenfalls aus. Insgeheim hatte Edward allerdings Angst, dass das Wesen ihn mit der Drohung erpressen könnte, als nächstes seine Anique zu verspeisen.

Diese Angst erschloss sich dem Marswesen jedoch nicht, so dass es sich aufs Verhandeln und Bitten verlegte und seinen quälenden Hunger erkennen ließ.

Es wurde deutlich, dass der Seelen- und Körperfresser, einmal erwacht, auf ständige Nahrungszufuhr angewiesen war, um seine psionischen Macht zu erhalten. Das Wesen hatte einen unbändig großen Hunger und Angst, es mit dem nur noch geringen lebenden „Nahrungsvorrat“ an Bord nicht mehr bis zur Erde zu schaffen. Allerdings konnte es Edward dabei in einer Art Starre halten, so dass er zu keiner Bewegung oder Sprache fähig war.

 

Da verfiel Edward auf eine ungewöhnliche Idee.

Es kam darauf an, diese nicht durch zu heftige Reaktionen preiszugeben. Der Kommandant war bekanntlich nicht nur seltsam und verschlossen, sondern durchaus schlau und zur Täuschung fähig. So heuchelte er Verständnis und gab vor, nach einer akzeptablen Lösung zu suchen, um das Leben der Besatzungsmitglieder wenigstens zu verlängern.

Scheinbar ungern gab er Behemoth nun preis, dass er in der letzten Stufe des Raumschiffs auf eine ganze Hundertschaft von Cyborgs zurückgreifen und ihm deren seelische Aura zur Besänftigung und zur Stillung des größten Hungers anbieten könnte.
 

Die Cyborgs befanden sich tatsächlich in der hinteren Stufe des Mutterschiffs und lagen im Tiefschlaf. Ursprünglich waren sie als Hilfskräfte dazu bestimmt, die vorbereitenden Maßnahmen zur Urbarmachung des Mars zu überwachen
(wie einst erfolgreich bei der Besiedlung des australischen Kontinents praktiziert).

Es handelte sich zumeist um die Gehirne von Verbrechern, Mördern oder nicht-therapierbaren Pädophilen bzw. anderen gesellschaftlich nicht mehr integrierbaren Menschen, die in einen robotischen Torso installiert waren, der an die Marsatmosphäre angepasst war. Auch hier galt das alte Prinzip: Todesstrafe oder Lebens- und Existenzverlängerung  - und sei es in einer metallischen Umhüllung. Auch die Cyborgs wollten nur weiterleben.

Entsprechend der  Planung sollten sie auf dem Mars zurückgelassen werden, wenn sich die „Orion 2“ auf die Rückreise begab. Doch die bekannten Ereignisse bei der Auffindung des Sarkophags hatten diese Tatsache aber fast vergessen gemacht.

 

Vor Hunger kaum zu einer logischen Überlegung fähig, willigte das Marswesen schließlich ein. Edward wurde aus seiner Starre entlassen. Er schüttelte sich kurz und gab der restlichen Besatzung mit unbewegtem Gesicht und stoischer Ruhe den Befehl, die automatisch gesteuerte Erweckung der Cyborgs einzuleiten
- kurzangebunden wie sonst und ohne seine Entscheidung im Geringsten zu erläutern.
Es konnte dem Marswesen plötzlich nicht schnell genug gehen, sich im Sarkophag in den hinteren Teil des Schiffs bugsieren zu lassen. Und so begab sich der traurige Rest der Crew daran, den Behälter, wieder leicht und beweglich, dort hinzubringen.

 

Diese Aufgabe fiel nun dem mittlerweile aus seiner Bewusstlosigkeit erwachten

Joaquin und Edward zu.

Annick war vor panischer Angst durch nichts zu bewegen, dem Spanier zu helfen und den Kommandanten zu entlasten.

Edward übernahm diese Aufgabe, und es zeigte sich an seiner Körpersprache, dass er die Aufgabe wohl deshalb ausführte, um Annick zu schützen.

Der Sarkophag wurde durch die innere Schleuse in die Stasisräume zu den Cyborgs transportiert. Doch kaum wollten sich die beiden Männer auf den Rückweg zur Zentraleinheit machen, griff das Marswesen erneut gierig und brutal zu, um sich eine Zwischenmahlzeit zu genehmigen. Weil der Kommandant nicht in Frage kam, traf es folgerichtig Joaquin, diesmal jedoch geräuschlos und schnell.

Gestärkt begann sich Behemoth über die erwachten Cyborgs herzumachen, die der Gefahr völlig ahnungslos und überrascht ausgesetzt waren. Auch sie starben reihenweise unter entsetztem Wimmern.

Edward versuchte, diesen Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen und eilte zur Schleuse, welche zur Zentraleinheit des Raumschiffs führte.

Gerade als er das zweite Schott schließen wollte, ereilte es ihn.

Das Marswesen versuchte es nach der Stärkung bei den Cyborgs wieder und griff Edward unvermittelt und wütend noch einmal mit seiner ganzen mentalen Macht an, um ihn zu versklaven. Er brach zusammen und wand sich fürchterlich zuckend am Boden.

Er fiel zwischen die Schleusentüren, die sich nicht mehr schließen konnten. Zu
keiner Bewegung mehr fähig versank Edward in tiefe Bewusstlosigkeit.

Annick, die den Vorgang per Video beobachtete überwand mit Mühe ihre panische Angst und eilte dem Kommandanten zu Hilfe. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte zog sie Edward durch das Schott und schloss dieses geistesgegenwärtig und blitzschnell unter Eingabe ihres PIN-Codes. Sie zerrte ihn weiter in die Zentraleinheit des Raumschiffs.

Als Edward erwachte, sah er als erstes in Annicks tränenüberströmtes Antlitz und bemerkte ihre Freude, als sie sein Erwachen feststellte. Das wiederum machte ihn sehr verlegen und erst recht, als sie ihn spontan umarmte. Und in diesem Moment brach es aus ihm heraus. Er gestand ihr mit stockenden Worten seine Liebe zu ihr, was sie entgegen seiner Erwartung mit einem zärtlichen Kuss quittierte  - so als sei ihr das schon lange klar.

 

Zwar bemerkte auch das Marswesen, dass es wiederum an Edward gescheitert war. Doch der Angriff hatte es ebenfalls erschöpft. Deshalb machte es sich zunächst über einige Cyborgs her und ließ sich von einigen dieser unterworfenen Geschöpfe im Sarkophag zur Schleuse bewegen, um das verschlossene Schott zu knacken. Es konnte jedoch nichts ausrichten, weil die Cyborgs den Code zur Öffnung der Schleuse nicht besaßen. Das Marswesen ließ den Sarkophag mehrere Male heftig vor die Schleusentür stoßen, um sie mechanisch aufzubrechen. Doch das Material hielt den Kräften stand. Zur Teleportation war Behemoth anscheinend nicht fähig. Und um Edward anzugreifen, war die Entfernung zu groß. Vielleicht sah es auch keinen Sinn mehr darin, gegen diesen unbegreiflichen, mit mentaler Taubheit geschlagenen Menschen nochmals anzugehen.
 

 

 

Diese Verzögerung reichte Edward. In der Zentrale angekommen, betätigte er mit einem kurzen trockenen Schlag den Schalter der Abkoppelungsautomatik, die die hintere Stufe des Raumschiffs mittels einer Sprengung vom Mutterschiff abtrennte.

Die Endstufe trudelte langsam durch den Raum auf den Mars zu, während die Zentraleinheit weiterhin angetrieben wurde und sich rasch vom Ort des Geschehens entfernte.

Die Funkverbindung bestand noch, und so konnten Edward und Annick das enttäuschte Geheul des wütenden Marswesens klar und deutlich vernehmen.

„Warum hast Du das getan, unwürdiger Mensch? Willst Du mich, deinen Herrn und Gebieter etwa angreifen? Du hast gelogen und mich ausgesetzt! Warum hast du nichts gesagt?“, Edward antworte in der ihm eigenen Art.
„Weil Du nicht gefragt hast. Und ich gebe gern zu, dass ich dich getäuscht habe. Denn dass die Menschen zur Lüge und Täuschung fähig sind, müsstest du doch eigentlich wissen, wenn du uns
so gut zu kennen glaubtest.“

Und langsam, geradezu sadistisch träge sank seine Hand in Richtung der automatischen Fernzündung nieder, die nun den Vernichtungsbefehl im abgetrennten Raumschiffteil aktivierte. Dort verkündete die Rundrufanlage prompt und lautstark die nahende Sprengung.

Behemoth verlegte sich nun aufs Bitten und versprach sogar, die künftige Macht auf Erden mit Edward teilen zu wollen. Als es merkte, dass Edward nicht darauf einging, bat es um ein wenig mehr Zeit. Es wollte sich stärken, um dem Tod gefasst ins Auge sehen zu können und wenigstens seine Henkersmahlzeit beenden.

Das lehnte Edward kategorisch ab. Nach seinen Gründen befragt, entgegnete er dem Seelen- und Körperfresser: „Cyborgs sind auch nur Menschen und kein Futter!“

Er betätigte umgehend die Sofortzündung.
Und eine kleine, intensive Sonne leuchtete für Sekunden zwischen Mars und Raumschiff
...

                                                                  *

 

Zurück in der Gegenwart:

 

„Houston! Hier spricht die internationale Marsmission Virgo 2! Houston, wir haben ein Problem! Bitte kommen, Houston!“, rief die hübsche, dunkelblonde Astronavigatorin Annick Bloyard zum wiederholten Male ins Mikrofon. Eine Antwort blieb auch jetzt aus. Seit der Meteoritenschauer die Funkantenne zerstörte, war das auch kein Wunder, dennoch versuchte es die junge kanadische Frau immer wieder, so als könnten die noch verbliebenen Antennenstummel wie durch ein Wunder ihre Funktion wiedererlangen.

„Wir müssen warten bis wir im Mondorbit sind“, nuschelte Edward Jaszkiewicz, der polnische Physiker und Kommandant der Marsmission, geduldig und nicht brüsk wie es sonst seine Art war.

„Noch 36 Stunden, und wir sind in Reichweite der Mondstation Centauri Beta. Mit Hilfe der Funkgeräte in unseren Raumanzügen können wir darüber Verbindung mit Houston aufnehmen. Bis dahin gedulde dich bitte, Annick. Es macht vorher keinen Sinn. Die Antenne ist zerstört, die Raumanzüge sind die einzige Chance.

Wir sollten froh sein, sie überhaupt noch zu haben, nach all dem, was auf dem Mars geschehen ist“, erklärte Edward geduldig weiter.
Das war ungewöhnlich, denn normalerweise war er eher verschlossen, sozusagen mundfaul und sprach nur das Nötigste. Und das kurz und knapp in Hauptsätzen.

Seine ausgiebige Ansprache in ihre Richtung ließ sich nur mit seiner großen

Zuneigung für sie erklären.

Doch die Wirkung auf Annick war beruhigend, wie sich an ihrem dankbaren Blick zeigte. Verlegen und unbewegten Gesichts, ganz in seiner Rolle als Kommandant, wandte er sich wieder ab. Und als er sich unbeobachtet glaubte, streifte er sie mit einem zärtlichen Blick.

 

Aber die Ereignisse seit der Ankunft auf dem Mars hatten wohl auch ihn, genauso wie die gesamte Planung der Marsexpedition, mächtig durcheinander gebracht. Vor vier Monaten begann diese Mission, um mit den Vorbereitungen für das erste Kolonieprojekt auf dem Mars zu beginnen. Und dabei hatte alles so vielversprechend angefangen.

 

„Ich weiß es ja. Aber ich kann nicht tatenlos herumsitzen und warten“, erwiderte Annick und ließ das Mikrofon in wieder in seine Halterung gleiten.

„Irgendetwas müssen wir doch tun können“, seufzte sie. „Nein, nicht wirklich“, stellte Edward nüchtern und knapp fest, wieder ganz der knöttrige Einzelgänger. Und doch dachte auch er mit Grauen an die Ereignisse der letzten Wochen zurück, Tage, in denen alle an ihre existenziellen Grenzen gerieten …

 

                                                        *

 

Und endlich, nach langen 36 Stunden leuchtete Luna vor ihnen auf. Mit Tränen in den Augen nahmen sie im Hintergrund auch ihren blauen Heimatplaneten wahr. Instinktiv suchte Edward nach Polen, dem Land seiner Vorfahren, ließ es aber bald sein. Es gab wichtigeres zu tun. Er schleuste sich im Raumanzug aus, um eine optimale Funkverbindung zur Mondstation Centauri Beta sicherzustellen.
Als wäre nichts geschehen, kam die Funkverbindung unmittelbar und ohne Probleme zustande. Der Kommandant erhielt eine Direktverbindung nach Houston und konnte schon einmal vorab zum Verlauf der Mission berichten.

Von dort erfuhr er, dass sie auf der Mondstation von einer Schar Wissenschaftlern und bis an die Zähne bewaffneten Sicherheitskräften erwartet wurden. Aus Erfahrung wusste der Kommandant, was sie erwartete: Tests, Verhöre, medizinische Untersuchungen, Berichte schreiben … - usw.

 

Er schleuste sich wieder ein in das Raumschiff, in dem er bereits sehnsüchtig von Annick erwartet wurde. Haarklein musste er alles, jedes Wort, berichten. Sie umarmten sich am Ende und ließen die grausamen Ereignisse vor ihrem geistigen Auge Revue passieren: Es war, als wenn sie alle noch einmal mit ihnen Verbindung treten wollten, bevor sie endgültig Abschied nahmen 

 

Sybil, die etwas eitle und schöne Geologin und Molekularbiologin

Singh, der introvertierte Ingenieur und Triebwerkespezialist

Tosh, der englische Pilot, stets ein wenig arrogant und very british

Simon, der nervöse israelische Elektroniker und Funkspezialist

Joaquin, der spanische Biologe und Mediziner ohne Machoeigenschaften

und irgendwie auch die

Cyborgs, die den höchsten Blutzoll zu entrichten hatten.

 

Das Leben würde weitergehen, das wussten Annick und Edward. Zunächst zögernd, bald aber sicherer, führte die Zweisamkeit der letzten Tage doch dazu, dass sie sich Gedanken über ihre Zukunft machten  - besonders als die Ankunft auf Centauri Beta unmittelbar kurz bevorstand.

„Ob ich dich heirate, so ganz altmodisch, weiß ich noch gar nicht“, kokettierte Annick mit der gemeinsamen Beziehungsperspektive. „Und Edward, glaub´ nur nicht, dass ich dir womöglich die Ehefrau mit 6 Kindern im alten Europa mache, und das noch in Polen oder Deutschland“, verkündete sie selbstbewusst. Ein wenig verlegen, aber kurz und knapp wie sonst, entgegnete er: „Nicht hier und jetzt, das ist klar, aber vielleicht in einer Parallelwelt unter ganz anderen Voraussetzungen … oder, meine Liebe?“ Da lächelte Annick.

 

Es war vorbei. Die Erde hatte sie wieder. Die Untersuchungen waren abgeschlossen.

Die Theologie musste zur Verärgerung des Vatikan das Alte Testament auf neuer Grundlage interpretieren, die Archäologie konnte die Darstellung auf der Grabplatte von Palenque und Pakal nicht mehr als rituelle Handlung abtun und ein besonders „guter Freund“ aller konservativ-phantasielosen Archäologen, Erich von Däniken, erfuhr angesichts der Vorgänge nach Jahrzehnten eine späte Genugtuung. Und: Die neue Marsmission war bereits in Vorbereitung, mit Edward als Kommandanten.
Arm in Arm schritten beide über das Flugfeld, einer gemeinsamen Zukunft entgegen. Annick und Edward wollten aber zunächst eine ausgiebige  Weltreise unternehmen, hin zu den Pyramiden der Ägypter, Inkas und Maya, um dort den Palast des Prinzen Pakal in Palenque zu besuchen und vielleicht einen der Tempel zu finden, zu denen einst Hesekiel, der stets unterschätzte tapfere alttestamentarische Held, verbracht worden war.

 

                                                                  Ende

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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