Klaus D. Andreß

Die Begegnung

Sie sitzt schräg links von mir am Nebentisch beim Café Kranzler am Kurfürstendamm. Vor sich hat sie ein Latte Macchiato stehen, von dem sie hin und wieder einen Schluck zu sich nimmt, sich dann wieder zurücklehnt, die Augen schließt und sich den wärmenden Sonnenlicht hingibt. Ihr Gesicht ist der Septembersonne zugewandt, deren Strahlen ihre Schultern umhüllen wie ein Schal und zart über ihr Gesicht streicheln. Ihre Augen sind geschlossen, so dass ich sie unbemerkt betrachten kann.

Sie ist jung, sehr jung, nicht viel älter als zweiundzwanzig, allerhöch­stens vierundzwanzig Jahre. Sie ist so jung, dass sie meine Tochter sein könnte. Das schwarze Haar fällt ihr wie ein samtener Schleier auf die schma­len Schultern und umrahmt das ovale Gesicht, in denen zwei dunkelbraune Augen und ein schma­les Lippenpaar neben einer zier­lichen Stupsnase ruhen.

Ein Gesicht ohne Aufregungen, weder langweilig noch außer­gewöhnlich, geht es mir durch den Sinn. Etwas liegt in diesem Gesicht, was sich mir noch nicht erschließt. Vielleicht genügt es mir deshalb nicht, sie nur anzu­schauen mit offenen Augen und ohne zu blinzeln, aus Angst, einen Moment ihr Gesicht nicht zu sehen, den Moment zu verpassen, in dem sich das Besondere offenbart ...

In ihrem Anblick versunken beginne ich zu träumen. Erinnerungen aus meiner Jugendzeit steigen in mir auf. Die Jahre ziehen wie ein Film an mir vorbei. Die Zeit mit Annemarie, meiner ersten großen Liebe, vorbei nach nur einem Jahr. Ich war sechzehn und für mich hatte das Leben danach keinen Sinn mehr, ich wollte sterben. Ich muss lächeln; gut, dass ich am Leben geblieben bin, ich hätte viele der folgenden unvergesslichen schönen, erquicklichen und einzigartigen Stunden, den Liebeskummer und das Liebesleid nicht erlebt. Ich hätte Helene nicht kennengelernt, auch Emilie, Martha und Josefa nicht, nicht Ursula und Barbara ...

Die wenigen Monate mit Helene fallen mir ein, die um einige Jahre ältere Gymnasiastin, für die ich das Spielzeug war, mit dem sie ihre Sexualität auslebte. Trotz aller Peinlichkeiten und Verletzungen, es waren Erfahrungen, die ich nicht missen möchte.

Es folgte nach einer kurzen Pause das erlebnisreiche Jahr mit Emilie, der exzentrischen Holländerin und die Episoden mit der zickigen Martha, der burschikosen Schneiderin aus der schönen Stadt Aachen. Auch erinnere ich mich an Josefa, die stämmige Blondine,  mein lieber Mann, die konnte nicht nur umwerfend küssen … und Ursula, meinen Schwarm aus der Grundschule; die schwarzen Haare, die schwarzen Augen, die schlanke Gestalt ..., mein Kindertraum. Sie hat mich nie erhört. Nicht zuletzt Barbara, die Arzthelferin, die ich auf der Stelle geheiratet hätte, wenn sie nicht aus lauter Barmherzigkeit zu ihrem Freund zurückgekehrt wäre. Ich habe mir damals geschworen, nie wieder eine dauerhafte Beziehung einzugehen oder mich zu binden. Dabei ist es dann auch geblieben. Es waren aufregende Zeiten mit ihr, viel Herzblut und Schmerz, Liebeskummer und, und …

Ich bin damals davongelaufen nach Berlin, habe Barbara aufgegeben, ohne um sie zu kämpfen. Lange her, fast vergessen ...

 

In meinen Erinnerungen versunken denke ich an die vergangenen Jahre und Jahrzehnte und mein Blick verweilt versonnen auf dem mädchenhaften Gesicht der jungen Frau.

Herrliche Jugend, so herzerfrischend, so unbekümmert. Das ganze Leben noch vor sich mit all den Hoffnungen und Träumen, den unvergesslichen Erlebnissen, den Erfolgen und auch den Nieder­lagen. Irgend etwas an ihr erinnert sie mich an Barbara. Ist es ihre Nase, die der von Barbara ähnelt? Ist es ihr Mund mit den vollen, weichen Lippen, die mich an meinen Traum erinnern? Ich weiß es nicht.

Mir wird das Herz schwermütig. Mir kommen Gedanken in den Kopf, über die ich mich wegen meines Alters eigentlich schämen müsste. Ach, könnte ich noch einmal so jung sein wie sie, einmal noch, einmal für einen einzigen Tag.

Heute, – jetzt.

Dann würde ich es wagen, sie anzusprechen, die unbekannte Schöne …

 

Während mir die Erinnerungen frei und ungezügelt durch den Kopf spazieren und ich ihnen träumend nachhänge, der Wirklichkeit entrückt, hat sie ihre Augen schon lange geöffnet und schaut mich mit einem freundlichen Gesichtsausdruck und offenem Blick an, als ahne sie meine Gedanken der vergangenen Minuten oder sie liest sie von meinem Gesicht ab. Es breitet sich in mir eine Ahnung von Außergewöhnlichkeit aus, und einen Moment später, als sich unsere Blicke kurz kreuzen, keimt in mir vage die Hoffnung auf etwas Besonderes, etwas Einmaliges.

Ihr scheuer Augenkontakt nimmt mich gefangen, das kurze Niederschlagen der Augenlider, die leichte, abwendende Bewegung ihres Kopfes zur Seite und der nachfolgende, aus den Augenwinkeln zurückgeworfene, unschuldig fragende, neugierige Blick lassen meine Ahnung und meine Hoffnungen zur Gewissheit werden. Ein außerge­wöhn­licher Mensch, ein denkwürdiger Augenblick, der meine Fan­tasie beflügelt und mein Herz hüpfen lässt.

In mir steigen Wünsche und Erwartungen auf. Meine Hemmungen verstummen in aufkeimenden Sehnsüchten, rufen in mir Verblüf­fung, Unruhe und Unbeweglichkeit hervor, eine lähmende Starre bemächtigt sich meiner.

Ich bemerke, wie ich erröte und mir die Hitze in den Kopf steigt und fühle mich ertappt, als lägen meine Gedanken in fetten Buch­staben vor mir auf dem Tisch, als klebten meine Wünsche unübersehbar in rotleuchtenden Lettern auf meiner Stirn.

Das kurze Niederschlagen ihrer Augen, mein verwirrtes Vorbei­schauen, ihr vorsichtiges Suchen meines Blickes, das stumme Augenspiel als zaghaftes Wagnis, ein gegenseitiges wortloses Fragen und Antworten, ein vorsichtiges Verstehen, mein sanftes Verlangen.

Mein Atem wird mit jedem der sich überschlagenen Gedanken tiefer und stiller in der Hoffnung, sie bemerkt nicht meinen rasenden Herzschlag, die Hitze, die in mir aufsteigt ...

Während sie mir zaghaft lächelnd gegenübersitzt und ich langsam meine Fassung wiederfinde, baut sich im Bruchteil eines Lidschlags eine begehrliche Spannung in mir auf.

Weich und feinfühlig sind meine Gedanken, voller Hingabe und entsetzlichem Entsagen, bangem Hoffen und schmerzhaftem Verlieren. Würde sie erahnen, was ich in diesem Moment fühle, empfinde und wünsche, sie würde mich wahrscheinlich auslachen.

Ich bin in diesem Augenblick unendlich alt und müde. Ich möchte mich an ihr ausruhen, um die Kraft zu schöpfen, die mir entglitten ist, um zu Atem zu kommen. Ich möchte an ihrer Seite noch einmal jung sein, unbekümmert und voller Tatendrang. Ich möchte ihre Jugend fühlen und genießen. Ich möchte wieder das fröhliche Herz finden, das noch vor zwanzig, dreißig Jahren in meiner Brust schlug. Ich wünsche mir ...

Doch da sind meine Zweifel, da ist ihre Jugend, da ist mein Alter und da ist meine Angst, mich vor ihr lächerlich zu machen, meine Unentschlossenheit, mein Zögern ...

 

Ihr Blick ruht weiterhin auf mir, ernst jetzt und entspannt, ruhig, etwas nachdenklich. Ich fühle mich elend. Schwermut trübt mir den Sinn und spült Gedanken der Verzweiflung an das Ufer meiner Hoff­nungslosigkeit. Ich will der Situation entfliehen. Ich wende meinen Blick von ihr ab und suche nach der Bedienung, ich mache mich bemerkbar, möchte schnell meinen Kaffee bezahlen und eilig auf­brechen.

Ich will vor meinen Gedanken, vor meinen Einbildungen und zaghaften Hoffnungen flüchten. Ich will ihrem Bild entkommen und auch meinem Verlangen. Ich will diesen Raum verlassen, der mit meinen Fantasien und Wünschen, meiner Hoffnung und der Ent­täuschung, meiner Ängstlichkeit und meiner Verzagtheit angefüllt ist. Ich will ihrem Blick, der immer noch auf mir ruht und mir jetzt Unbehagen bereitet, entfliehen.

In dieser unerträglichen Spannung aus Verzweiflung und Mut­losigkeit erhebt sie sich von ihrem Sitz und schreitet gemessenen Schrittes, aber zielstrebig auf meinen Tisch zu, wie eine Göttin aus einer anderen Welt, ihren Blick an mir vorbei auf die Eingangstür des Cafés gerichtet. Mir bleibt fast das Herz stehen vor Aufregung. Jetzt ist sie nur noch wenige Meter von mir entfernt. Ich schaue auf ihre schlanken Beine, erblicke die wohlgerundeten Waden und frage mich, ob sie nahe genug an mir vorbeigehen wird, dass ich ihren Geruch wahrnehmen kann, ihn mitnehmen und nächtens von ihm träumen kann. Ich hebe meinen Kopf, mein Blick sucht ihr Gesicht, ihre Augen. Sie ist nur noch vier, fünf Schritte entfernt, sie schaut mich an, lächelt und bemerkt im Vorbeigehen, ohne ihre Schritte zu verlangsamen: »Würden Sie bitte einen Moment auf mein Buch aufpassen, ich bin gleich wieder zurück.«

Ehe ich eine Antwort stottern kann, ist sie an mir vorbeigeschrit­ten. Vor Überraschung, das hätte ich am allerwenigsten erwartet, habe ich vergessen, auf ihr Parfüm, auf ihren Geruch zu achten.

In meinen Kopf klingt ihre Stimme nach wie der Hall eines Glockengeläuts. Ich lasse mir ihre Worte noch einmal durch den Kopf gehen, und dann noch einmal und noch einmal, um mich ihrer Stimme zu vergegenwärtigen, sie festzuhalten.

Zauberhaft, ...

weich wie Samt, ...

melodisch, ein Sopran, ...

engelhaft zart, ...

einfach unirdisch,  so ...

 

... eigentlich unbeschreiblich, – schön, ...

– einfach schön.

 

Ich spanne meinen Rücken, richte mich auf und schaue auf ihren Tisch. Dort steht das noch halbvolle Glas Latte Macchiato, aber dort liegt kein Buch. Sie hatte die ganze Zeit überhaupt kein Buch in ihren Händen gehalten, sie hat nur in der Sonne gesessen und sich von ihr kosen lassen ...

Meine Verwirrung ist jetzt grenzenloser, denn je. Meine Gedanken hüpfen durch meinen Kopf wie aufgeregte Kinder zu Weihnachten um den Tannenbaum, wild durcheinander und ungeordnet.

‚Sicherlich hat sie mein Anstarren genervt ...’, geht es mir durch den Kopf, ‚... und sich geschickt davon gemacht’. Ich denke, es wäre ihr wohl unangenehm, wenn ein alter Mann sie ansprechen würde ...

Ich bin immer noch verwirrt und mit meinen Gedanken beschäf­tigt, als sie plötzlich an mir vorbei zu ihrem Tisch geht, ihr halb gefülltes Glas in die Hand nimmt und, jetzt zaghaft lächelnd, auf mich zu kommt, vor mir stehen bleibt und mich mit einneh­mender Freundlichkeit fragt, ob sie sich zu mir setzen darf. Der Klos in meinem Hals lässt mich nur zustimmend nicken. Sie setzt ihr Glas ab, schaut mir ins Gesicht und stellt sich vor mit den Worten:

»Ich bin Luzi ...«

Als wir uns gegenübersitzen, habe ich das Gefühl, die Luft zwischen uns ist mit explosiver Hochspannung geladen. Mein Herz rast derart schnell, dass ich sicher bin, es springt jeden Moment aus meiner Brust. Das scheue aneinander Vorbeiblicken, meine Un­sicherheit, ihre mich aufreizende Zurückhaltung, ihr fragender Blick, die wortlose Stille zwischen uns, die fernen Verkehrsgeräusche, die vom pulsierenden Kurfürstendamm wie durch Watte zu mir dringen ...

Wenn sie jetzt meine irrwitzige Gedankenwelt betreten könnte, dann würde sie davoneilen, schlimmer noch, sie würde mich auslachen. Eigentlich möchte ich aufstehen und sie in meine Arme nehmen, eigentlich möchte ich ... Aber da ist meine Unsicherheit, mein Alter, ihre Jugend, meine Vernunft. Ich will mich erheben, meine Beine fühlen sich bleischwer an, versagen mir den Dienst, meine Stimme ist gelähmt, ich bringe kein Wort, keine Silbe hervor, mein Kopf ist leer, doch mein Herz fließt mir über ...

Sie sitzt mir regungslos gegenüber, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Hände stützend unter das Kinn geschoben, wartet sie ab. Und ihr Blick ruht interessiert und zugleich verwun­dert auf mir. Ihrer linkes Auge hat sie leicht, fast unmerklich zusammengekniffen, so, als wollte sie fragen: »Na, keine Traute?«

Ich halte diese Spannung nicht mehr aus. In diesem Augenblick meiner Verzweiflung beugt sich Luzi zu mir, schaut mich mit offenen Augen an und legt sehr vorsichtig, fast ängstlich ihre Hand auf meinen Arm.

Allein diese Berührung jagt mir einen wohligen Schauer durch meinen Körper. Ich spüre, wie mich die Rührung übermannt und in meinen Augen behutsam eine Träne geboren wird ...

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