Sie sitzt schräg links von
mir am Nebentisch beim Café Kranzler am Kurfürstendamm. Vor sich hat sie ein
Latte Macchiato stehen, von dem sie hin und wieder einen Schluck zu sich nimmt,
sich dann wieder zurücklehnt, die Augen schließt und sich den wärmenden
Sonnenlicht hingibt. Ihr Gesicht ist der Septembersonne zugewandt, deren
Strahlen ihre Schultern umhüllen wie ein Schal und zart über ihr Gesicht
streicheln. Ihre Augen sind geschlossen, so dass ich sie unbemerkt betrachten
kann.
Sie ist jung, sehr jung,
nicht viel älter als zweiundzwanzig, allerhöchstens vierundzwanzig Jahre. Sie
ist so jung, dass sie meine Tochter sein könnte. Das schwarze Haar fällt ihr
wie ein samtener Schleier auf die schmalen Schultern und umrahmt das ovale Gesicht,
in denen zwei dunkelbraune Augen und ein schmales Lippenpaar neben einer zierlichen
Stupsnase ruhen.
Ein Gesicht ohne Aufregungen,
weder langweilig noch außergewöhnlich, geht es mir durch den Sinn. Etwas liegt
in diesem Gesicht, was sich mir noch nicht erschließt. Vielleicht genügt es mir
deshalb nicht, sie nur anzuschauen mit offenen Augen und ohne zu blinzeln, aus
Angst, einen Moment ihr Gesicht nicht zu sehen, den Moment zu verpassen, in dem
sich das Besondere offenbart ...
In ihrem Anblick versunken
beginne ich zu träumen. Erinnerungen aus meiner Jugendzeit steigen in mir auf.
Die Jahre ziehen wie ein Film an mir vorbei. Die Zeit mit Annemarie, meiner ersten
großen Liebe, vorbei nach nur einem Jahr. Ich war sechzehn und für mich hatte
das Leben danach keinen Sinn mehr, ich wollte sterben. Ich muss lächeln; gut,
dass ich am Leben geblieben bin, ich hätte viele der folgenden unvergesslichen
schönen, erquicklichen und einzigartigen Stunden, den Liebeskummer und das
Liebesleid nicht erlebt. Ich hätte Helene nicht kennengelernt, auch Emilie,
Martha und Josefa nicht, nicht Ursula und Barbara ...
Die wenigen Monate mit Helene
fallen mir ein, die um einige Jahre ältere Gymnasiastin, für die ich das
Spielzeug war, mit dem sie ihre Sexualität auslebte. Trotz aller Peinlichkeiten
und Verletzungen, es waren Erfahrungen, die ich nicht missen möchte.
Es folgte nach einer kurzen
Pause das erlebnisreiche Jahr mit Emilie, der exzentrischen Holländerin und die
Episoden mit der zickigen Martha, der burschikosen Schneiderin aus der schönen
Stadt Aachen. Auch erinnere ich mich an Josefa, die stämmige Blondine, mein lieber Mann, die konnte nicht nur umwerfend
küssen … und Ursula, meinen Schwarm aus der Grundschule; die schwarzen Haare,
die schwarzen Augen, die schlanke Gestalt ..., mein Kindertraum. Sie hat mich
nie erhört. Nicht zuletzt Barbara, die Arzthelferin, die ich auf der Stelle
geheiratet hätte, wenn sie nicht aus lauter Barmherzigkeit zu ihrem Freund
zurückgekehrt wäre. Ich habe mir damals geschworen, nie wieder eine dauerhafte
Beziehung einzugehen oder mich zu binden. Dabei ist es dann auch geblieben. Es
waren aufregende Zeiten mit ihr, viel Herzblut und Schmerz, Liebeskummer und,
und …
Ich bin damals davongelaufen nach Berlin, habe Barbara aufgegeben, ohne um sie zu kämpfen. Lange her, fast vergessen ...
In meinen Erinnerungen
versunken denke ich an die vergangenen Jahre und Jahrzehnte und mein Blick
verweilt versonnen auf dem mädchenhaften Gesicht der jungen Frau.
Herrliche Jugend, so
herzerfrischend, so unbekümmert. Das ganze Leben noch vor sich mit all den
Hoffnungen und Träumen, den unvergesslichen Erlebnissen, den Erfolgen und auch
den Niederlagen. Irgend etwas an ihr erinnert sie mich an Barbara. Ist es ihre
Nase, die der von Barbara ähnelt? Ist es ihr Mund mit den vollen, weichen Lippen,
die mich an meinen Traum erinnern? Ich weiß es nicht.
Mir wird das Herz
schwermütig. Mir kommen Gedanken in den Kopf, über die ich mich wegen meines
Alters eigentlich schämen müsste. Ach, könnte ich noch einmal so jung sein wie
sie, einmal noch, einmal für einen einzigen Tag.
Heute, – jetzt.
Dann würde ich es wagen, sie anzusprechen, die unbekannte Schöne …
Während mir die Erinnerungen
frei und ungezügelt durch den Kopf spazieren und ich ihnen träumend nachhänge,
der Wirklichkeit entrückt, hat sie ihre Augen schon lange geöffnet und schaut
mich mit einem freundlichen Gesichtsausdruck und offenem Blick an, als ahne sie
meine Gedanken der vergangenen Minuten oder sie liest sie von meinem Gesicht
ab. Es breitet sich in mir eine Ahnung von Außergewöhnlichkeit aus, und einen
Moment später, als sich unsere Blicke kurz kreuzen, keimt in mir vage die Hoffnung
auf etwas Besonderes, etwas Einmaliges.
Ihr scheuer Augenkontakt
nimmt mich gefangen, das kurze Niederschlagen der Augenlider, die leichte,
abwendende Bewegung ihres Kopfes zur Seite und der nachfolgende, aus den
Augenwinkeln zurückgeworfene, unschuldig fragende, neugierige Blick lassen
meine Ahnung und meine Hoffnungen zur Gewissheit werden. Ein außergewöhnlicher
Mensch, ein denkwürdiger Augenblick, der meine Fantasie beflügelt und mein
Herz hüpfen lässt.
In mir steigen Wünsche und
Erwartungen auf. Meine Hemmungen verstummen in aufkeimenden Sehnsüchten, rufen
in mir Verblüffung, Unruhe und Unbeweglichkeit hervor, eine lähmende Starre
bemächtigt sich meiner.
Ich bemerke, wie ich erröte
und mir die Hitze in den Kopf steigt und fühle mich ertappt, als lägen meine
Gedanken in fetten Buchstaben vor mir auf dem Tisch, als klebten meine Wünsche
unübersehbar in rotleuchtenden Lettern auf meiner Stirn.
Das kurze Niederschlagen
ihrer Augen, mein verwirrtes Vorbeischauen, ihr vorsichtiges Suchen meines
Blickes, das stumme Augenspiel als zaghaftes Wagnis, ein gegenseitiges
wortloses Fragen und Antworten, ein vorsichtiges Verstehen, mein sanftes
Verlangen.
Mein Atem wird mit jedem der
sich überschlagenen Gedanken tiefer und stiller in der Hoffnung, sie bemerkt
nicht meinen rasenden Herzschlag, die Hitze, die in mir aufsteigt ...
Während sie mir zaghaft
lächelnd gegenübersitzt und ich langsam meine Fassung wiederfinde, baut sich im
Bruchteil eines Lidschlags eine begehrliche Spannung in mir auf.
Weich und feinfühlig sind
meine Gedanken, voller Hingabe und entsetzlichem Entsagen, bangem Hoffen und
schmerzhaftem Verlieren. Würde sie erahnen, was ich in diesem Moment fühle,
empfinde und wünsche, sie würde mich wahrscheinlich auslachen.
Ich bin in diesem Augenblick
unendlich alt und müde. Ich möchte mich an ihr ausruhen, um die Kraft zu
schöpfen, die mir entglitten ist, um zu Atem zu kommen. Ich möchte an ihrer
Seite noch einmal jung sein, unbekümmert und voller Tatendrang. Ich möchte ihre
Jugend fühlen und genießen. Ich möchte wieder das fröhliche Herz finden, das
noch vor zwanzig, dreißig Jahren in meiner Brust schlug. Ich wünsche mir ...
Doch da sind meine Zweifel,
da ist ihre Jugend, da ist mein Alter und da ist meine Angst, mich vor ihr
lächerlich zu machen, meine Unentschlossenheit, mein Zögern ...
Ihr Blick ruht weiterhin auf
mir, ernst jetzt und entspannt, ruhig, etwas nachdenklich. Ich fühle mich
elend. Schwermut trübt mir den Sinn und spült Gedanken der Verzweiflung an das
Ufer meiner Hoffnungslosigkeit. Ich will der Situation entfliehen. Ich wende
meinen Blick von ihr ab und suche nach der Bedienung, ich mache mich bemerkbar,
möchte schnell meinen Kaffee bezahlen und eilig aufbrechen.
Ich will vor meinen Gedanken,
vor meinen Einbildungen und zaghaften Hoffnungen flüchten. Ich will ihrem Bild
entkommen und auch meinem Verlangen. Ich will diesen Raum verlassen, der mit
meinen Fantasien und Wünschen, meiner Hoffnung und der Enttäuschung, meiner
Ängstlichkeit und meiner Verzagtheit angefüllt ist. Ich will ihrem Blick, der
immer noch auf mir ruht und mir jetzt Unbehagen bereitet, entfliehen.
In dieser unerträglichen
Spannung aus Verzweiflung und Mutlosigkeit erhebt sie sich von ihrem Sitz und
schreitet gemessenen Schrittes, aber zielstrebig auf meinen Tisch zu, wie eine
Göttin aus einer anderen Welt, ihren Blick an mir vorbei auf die Eingangstür
des Cafés gerichtet. Mir bleibt fast das Herz stehen vor Aufregung. Jetzt ist
sie nur noch wenige Meter von mir entfernt. Ich schaue auf ihre schlanken
Beine, erblicke die wohlgerundeten Waden und frage mich, ob sie nahe genug an
mir vorbeigehen wird, dass ich ihren Geruch wahrnehmen kann, ihn mitnehmen und
nächtens von ihm träumen kann. Ich hebe meinen Kopf, mein Blick sucht ihr
Gesicht, ihre Augen. Sie ist nur noch vier, fünf Schritte entfernt, sie schaut
mich an, lächelt und bemerkt im Vorbeigehen, ohne ihre Schritte zu
verlangsamen: »Würden Sie bitte einen Moment auf mein Buch aufpassen, ich bin
gleich wieder zurück.«
Ehe ich eine Antwort stottern
kann, ist sie an mir vorbeigeschritten. Vor Überraschung, das hätte ich am
allerwenigsten erwartet, habe ich vergessen, auf ihr Parfüm, auf ihren Geruch
zu achten.
In meinen Kopf klingt ihre
Stimme nach wie der Hall eines Glockengeläuts. Ich lasse mir ihre Worte noch
einmal durch den Kopf gehen, und dann noch einmal und noch einmal, um mich ihrer
Stimme zu vergegenwärtigen, sie festzuhalten.
Zauberhaft, ...
weich wie Samt, ...
melodisch, ein Sopran, ...
engelhaft zart, ...
einfach unirdisch, so ...
... eigentlich unbeschreiblich, – schön, ...
– einfach schön.
Ich spanne meinen Rücken,
richte mich auf und schaue auf ihren Tisch. Dort steht das noch halbvolle Glas
Latte Macchiato, aber dort liegt kein Buch. Sie hatte die ganze Zeit überhaupt
kein Buch in ihren Händen gehalten, sie hat nur in der Sonne gesessen und sich
von ihr kosen lassen ...
Meine Verwirrung ist jetzt
grenzenloser, denn je. Meine Gedanken hüpfen durch meinen Kopf wie aufgeregte
Kinder zu Weihnachten um den Tannenbaum, wild durcheinander und ungeordnet.
‚Sicherlich hat sie mein
Anstarren genervt ...’, geht es mir durch den Kopf, ‚... und sich geschickt
davon gemacht’. Ich denke, es wäre ihr wohl unangenehm, wenn ein alter Mann sie
ansprechen würde ...
Ich bin immer noch verwirrt
und mit meinen Gedanken beschäftigt, als sie plötzlich an mir vorbei zu ihrem
Tisch geht, ihr halb gefülltes Glas in die Hand nimmt und, jetzt zaghaft
lächelnd, auf mich zu kommt, vor mir stehen bleibt und mich mit einnehmender
Freundlichkeit fragt, ob sie sich zu mir setzen darf. Der Klos in meinem Hals
lässt mich nur zustimmend nicken. Sie setzt ihr Glas ab, schaut mir ins Gesicht
und stellt sich vor mit den Worten:
»Ich bin Luzi ...«
Als wir uns gegenübersitzen,
habe ich das Gefühl, die Luft zwischen uns ist mit explosiver Hochspannung
geladen. Mein Herz rast derart schnell, dass ich sicher bin, es springt jeden
Moment aus meiner Brust. Das scheue aneinander Vorbeiblicken, meine Unsicherheit,
ihre mich aufreizende Zurückhaltung, ihr fragender Blick, die wortlose Stille
zwischen uns, die fernen Verkehrsgeräusche, die vom pulsierenden Kurfürstendamm
wie durch Watte zu mir dringen ...
Wenn sie jetzt meine
irrwitzige Gedankenwelt betreten könnte, dann würde sie davoneilen, schlimmer
noch, sie würde mich auslachen. Eigentlich möchte ich aufstehen und sie in
meine Arme nehmen, eigentlich möchte ich ... Aber da ist meine Unsicherheit,
mein Alter, ihre Jugend, meine Vernunft. Ich will mich erheben, meine Beine
fühlen sich bleischwer an, versagen mir den Dienst, meine Stimme ist gelähmt,
ich bringe kein Wort, keine Silbe hervor, mein Kopf ist leer, doch mein Herz
fließt mir über ...
Sie sitzt mir regungslos
gegenüber, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Hände stützend unter das Kinn
geschoben, wartet sie ab. Und ihr Blick ruht interessiert und zugleich verwundert
auf mir. Ihrer linkes Auge hat sie leicht, fast unmerklich zusammengekniffen,
so, als wollte sie fragen: »Na, keine Traute?«
Ich halte diese Spannung
nicht mehr aus. In diesem Augenblick meiner Verzweiflung beugt sich Luzi zu
mir, schaut mich mit offenen Augen an und legt sehr vorsichtig, fast ängstlich
ihre Hand auf meinen Arm.
Allein diese Berührung jagt
mir einen wohligen Schauer durch meinen Körper. Ich spüre, wie mich die Rührung
übermannt und in meinen Augen behutsam eine Träne geboren wird ...
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus D. Andreß).
Der Beitrag wurde von Klaus D. Andreß auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.02.2010.
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