Christiane Mielck-Retzdorff

Das Schicksal im Sakko

„Edith, Liebes, weißt Du, wo mein braunes Cordsakko ist?“ rief Anton aus dem Schlafzimmer, wo er den Kleiderschrank durchwühlte.

Prompt stand seine Frau in der Tür, was in der kleinen Wohnung, die seit dem Auszug der Kinder ihr Zuhause war, kein Kunststück darstellte.

„Was machst du denn für eine Unordnung!“ herrschte sie ihn an.

„Ich suche mein Lieblingssakko“, erklärte Anton den Kopf zwischen Kleidungsstücken.

„Es wurde heute morgen vom Roten Kreuz abgeholt“, erklärte seine Frau.

Anton tauchte gebückt aus dem Schrank hervor.

„War es so ernsthaft krank?“ fragte er in einem Anflug von Ironie.

„Es war ein Schandfleck“, stellte Edith energisch fest. „Jahrelang habe ich es geduldet, und zweimal hast du es schon aus der Altkleidersammlung rausgefischt. Nun ist es endgültig weg!“

Resigniert ließ Anton die Schultern hängen. Er hatte sich dieses Sakko vor über 20 Jahren für seinen ersten Auftritt mit einer Jazzband gegönnt. Sie spielten damals in einer kleinen, verrauchten Kneipe, und er blies beschwingt das Saxophon. Natürlich saß Edith im Publikum, und obwohl sie sich eher für Volksmusik begeisterte, registrierte sie doch mit hoher Zufriedenheit den Applaus der Gäste.

„So kann ein Amtsinspektor  nun wirklich nicht rumlaufen“, ergänzte Edith.

Erst kürzlich war Anton befördert worden, und auch wenn er selbst dieses Ereignis für wenig erwähnenswert und seine Tätigkeit in der Grundsteuerstelle der Gemeinde für unspektakulär hielt, war Edith doch mächtig stolz auf ihn und seinen neuen Titel gewesen. Sie hatte sogar alle ihre Freundinnen zu Kaffee und Kuchen eingeladen.

Vielleicht sollten sie nach Österreich umsiedeln. Dort wäre Edith dann Frau Amtsinspektor. Anton schmunzelte bei dem Gedanken.

 

Es war Samstagabend und Anton erlebte gerade eines seiner wöchentlichen Highlights, die Sportschau, als Edith hineinplatze und fragte:

„Anton, wo ist eigentlich der Lottozettel?“

Es gibt diese Momente im Leben eines jeden Menschen, in denen er sich unvorbereitet und blitzschnell entscheiden musste zwischen Wahrheit und Lüge. Da in diesen Fällen oft die Wahrheit das größere Übel darstellte, musste das Abwägen der verschiedenen Risiken so zügig erfolgen, dass bei einer Lüge kein Verdacht aufkam. Gleichzeitig sollte sie einfach und glaubhaft sein.

„Tut mir leid, mein Schatz, ich habe vergessen, Lotto zu spielen.“

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“ entrüstete sich Edith. „Wir spielen doch jeden Samstag Lotto.“

„Tja, und nun habe ich es eben einmal vergessen“, entgegnete Anton mehr mit dem Fußballspiel als den Worten seiner Frau beschäftigt.

Das Lottospiel war ein Ritual, dass sie seit ihrer Hochzeit mit immer den gleichen Zahlen pflegten. Gewonnen hatte sie aber in all den Jahren höchstens und sehr selten Kleinbeträge. Damit war die Angelegenheit für Anton in die Bedeutungslosigkeit geglitten.

 

Das änderte sich schlagartig, als Edith, ihrer Gewohnheit entsprechend, die Ziehung der Lottozahlen verfolgte, die in dieser Woche zu 100% mit ihren Glückszahlen übereinstimmten.

Zuerst freute sich Edith bei jeder neuen Zahl wie ein kleines Kind, jubelte und wurde immer aufgeregter. Doch als die fünfte, treffende Zahl in das Röhrchen gefallen war, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie nichts gewonnen haben konnten.

Fassungslos starrte sie den armen Anton an, der blass in seinem Sessel kauerte. Dann, als auch die letzte Zahl gezogen war, fing Edith an zu weinen.

Hilflos blickte Anton zwischen seiner aufgelösten Frau und der freundlich lächelnden Lottofee hin und her. Irgendein Glückspilz würde jetzt um einiges reicher sein. Aber diese Tatsache berührte ihn wenig. Wie oft hatten Edith und er schon die erhofften Millionen verplant und waren leer ausgegangen.

Die Katastrophe, von der Edith schluchzend stammelte, konnte er nicht nachvollziehen. Es hatte sich doch nichts in ihrem Leben geändert. Oder war es genau das, was seine Frau so verzweifelt sein ließ. War sie denn so unzufrieden?

Anton Versuche Edith zu trösten, verwandelte ihren Kummer nur in Wut. Sie schimpfte wie ein Rohrspatz über seine Nachlässigkeit, seine Gefühlsarmut, seine Ignoranz, ihr armseliges Leben, verlorene Träume und ihr ganzes verkorkstes Dasein. So hatte Anton sie noch nie erlebt. Und dann herrschte auf einmal eine Stille, die noch beunruhigender war als Ediths Worte. Wie zur Beruhigung ertönte der gellende Schrei eines Mordopfers aus dem Fernseher.

 

Zum Glück war Edith eine vernünftige und realistische Frau. Sie belastete sich nie lange mit Dingen, die sie nicht ändern konnte. Und sie hatte sogar die Größe, sich bei Anton für ihr Verhalten zu entschuldigen. Er hatte es ja nicht mit Absicht gemacht.

 

Doch Anton fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Ihm war, als rüttele das Schicksal an ihm und wollte ihn zwingen, sich nicht zu ergeben, sondern zu kämpfen. Er sollte aufstehen aus dem Sumpf des Alltags und sich sein Recht erobern. Verheißungsvolle, goldene Türme lockten ihn in der Ferne, doch seine Füße wollten ihn nicht vorwärts tragen. Flehentlich schallten Ediths Rufe von dort zu ihm, doch eine geisterhafte Gestalt stellte sich ihm in den Weg. Unsichtbare Stimmen schalten ihn hämisch einen Feigling, während er verzweifelt versuchte, seine lähmende Trägheit zu überwinden. Anton erwachte schweißgebadet in dem Bewusstsein des vollendeten Versagens.

 

Der Zufall wollte es, dass Anton schon am Montag auf seinem Heimweg von der Arbeit ein Mann entgegenkam, der sein altes Cordsakko trug. Unbeabsichtigt schaute er ihn wohl so intensiv an, dass der Mann stehen blieb und ihn ansprach.

„Guten Tag, war das zufällig mal ihr Sakko?“

Dieser Satz war Anton peinlich, denn er wusste, dass die Kleidersammlungen des Roten Kreuzes in einen Laden gebracht wurden, wo man sie weiter an Bedürftige verteilte. Er wollte diesen Menschen auf keinen Fall beschämen.

„Es tut mir leid, wenn sie den Eindruck gewonnen haben, ich starre sie an“, antwortete Anton. „Das war bestimmt nicht meine Absicht.“

„Schon gut“, sagte der Mann und lächelte freundlich. „ Und, war das nun mal ihr Sakko?“

„Ja, in der Tat, und ich habe sehr daran gehangen. Meine Frau hat es weggeben. Aber nun gehört es natürlich ihnen.“

Bei näherer Betrachtung machte der Mann eigentlich gar keinen bedürftigen Eindruck. Im Grunde passte nicht einmal das verschlissene Sakko zu seinem gepflegten Äußeren. Dabei schaute er Anton offen und ungezwungen ins Gesicht.

„Was halten sie davon, wenn wir gemeinsam einen Kaffee trinken“, schlug der Mann vor und Anton willigte beinahe mechanisch ein.

In seinem Kopf begann es wild aber unkontrolliert zu arbeiten. Das Schicksal rief ihn…Wer war der Mann…eine zweite Chance… aufstehen und kämpfen…die Gerechtigkeit wieder herstellen…Ediths Träume…Was sollte er tun…

Nur aus der Ferne vernahm Anton, dass der Mann ihn zu sich nach Hause einlud, da er dort zu seinem Kaffee auch eine Zigarette rauchen konnte. Und schon traten sie durch die Tür in eine großzügige und freundlich eingerichtete Wohnung.

Der Mann nahm Anton den Mantel ab und bot ihm einen Platz am Tisch in der Wohnküche an. Dann bediente er einen Knopf an einer sehr modernen Kaffeemaschine und schon wenige Augenblicke später sprudelte das duftende, heiße Getränk in zwei Becher mit dem Logo des FC St. Pauli.

„Ich heiße übrigens Werner Hildebrand“, stellte der Mann sich vor. „Sie können ruhig Werner zu mir sagen. Immerhin trage ich ja schon ihre Klamotten.“

„Anton Bremer“, antwortete der Gast mit einem höflichen Kopfsenken.

Werner Hildebrand stellte die Kaffeebecher, Zucker und Milch auf den Tisch und zündete sich eine Zigarette an.

Anton zwang sich, nach außen die Ruhe zu bewahren und sah sich in der Küche um, während er vorsichtig einen Schluck von dem Kaffee nahm. Wieso fiel sein Blick ausgerechnet auf den Messerblock? Er musste etwas sagen, um der Situation etwas Zwangloses zu geben.

„Gefällt ihnen mein Sakko?“

„Sag doch bitte Werner und Du.“

Ok, Werner, wieso gerade dieses Sakko?“

Werner lächelte.

„Es erinnert mich an frühere Zeiten. Als Student war ich damals viel in Jazzclubs. Da trug mal ein Saxophonist so ein Sakko. Der spielte echt klasse.“

Anton erschrak. Aber Werner würde ihn bestimmt nicht wiedererkennen mit seiner Halbglatze und ohne Bart. Doch etwas machte Anton stutzig.

„Du hast studiert? Und wieso gehörst Du jetzt zu den Bedürftigen?“

„Du hast mich ertappt, Anton“, gestand Werner, „ich hätte das Sakko gar nicht mitnehmen dürfen.“

Wieder ein Wink des Schicksals, dachte Anton.

„Und was hast Du beim Roten Kreuz gemacht?“

„Meine Frau arbeitet ehrenamtlich in der Kleiderkammer.“

„Ach so“, murmelte Anton und schaute wieder auf den Messerblock. Er musste herausfinden, ob Werner bereits die Innentasche des Sakkos gefunden hatte oder ob wohl möglich schon die Mitarbeiter des Roten Kreuzes die Taschen gefilzt hatten. Doch Werner lenkte ihn ab.

„Weißt Du, Anton, es gab durchaus Zeiten, da musste ich meine Klamotten dort besorgen. Als ich meinen Job verloren hatte und mich kurz darauf meine Frau mit den beiden Kindern verließ, suchte ich reichlich Trost im Alkohol. Ich war beinahe schon auf der Straße gelandet, als ich in der Kleiderkammer Sabine kennenlernte. Sie hat sich rührend um mich gekümmert, diverse Rückfälle ausgehalten und mich schließlich vom Alkohol weg gebracht. Nun habe ich wieder einen Job und Sabine ist meine Frau.“

Dieses Schicksal rührte Anton. Welch ein angenehmes und glückliches Leben hatte er doch bisher geführt. Er schämt sich plötzlich seiner wirren Gedanken.

„Übrigens habe ich etwas in der Innentasche des Sakkos gefunden. Das gehört sicher Dir“, sagte Werner, griff in die Innenseite des Sakkos und legte den fein säuberlich zusammengefalteten Lottoschein auf den Tisch.

Anton starrte ihn fassungslos an.

„Was ist?“ fragte Werner erstaunt. „Ist das nicht dein Lottozettel?“

„Doch, doch“, stammelte Anton.

„Na, dann ist ja alles in Ordnung. Wir haben uns schon gefragt, warum ihn niemand in der Kleiderkammer als vermisst gemeldet hat. Da tauchen gelegentlich Sachen in den Taschen der Kleidungsstücke auf, die die Leute dann wiederhaben wollen.“

„Das habe ich nicht gewusst“, flüsterte Anton den Zettel fixierend.

„Ach, Du meinst, den hätte sich bestimmt jemand unter den Nagel gerissen in der Hoffnung auf einen Gewinn. Du, wenn ich das Sakko nicht sofort gegriffen hätte, hätten es bestimmt die Mitarbeiter noch mal durchgesehen und dann den Zettel zu den anderen Fundsachen gelegt.“

„Meinst Du wirklich?“ fragte Anton ungläubig.

„Das sind grundanständige Leute dort“, erklärte Werner mit fester Überzeugung. „Aber es scheint ja sowieso eine Niete zu sein, sonst wärst Du ja schon heute Morgen gekommen und hättest danach gefragt.“

Anton wurde bewusst, dass er nicht an sein Glück geglaubt hatte und schon gar nicht darum gekämpft hätte. Im Grunde war ein Hauptgewinn auch jetzt für ihn noch unvorstellbar. Wie in Trance steckte er den Zettel in seine Jackentasche und verabschiedete sich bald. Wie sollte er Edith nur seine Lüge erklären?

 

 

 

 

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