Victoria Hohlhuth

Kino

Zum aller ersten Mal gehe ich allein ins Kino. Kaum zu glauben. Dieses Mal hat sich einfach niemand gefunden, der mich zum aktuellen Herz-Schmerz-Liebes-Schnulzen-Seufz-Happy-End-Film begleitet. Gut, dass sich mein Freund geweigert hat mitzukommen, war mir schon vorher klar, aber nicht eine Freundin ließ sich überreden. „Nein, Vicky. Diesen Kitsch schau selbst ich mir nicht an, Sorry“ haben sie gesagt. Gut, denke ich mir, du bist schon ein großes Mädchen, geh ich eben allein.

In die Nachmittagsvorstellung, aber da es Mitte Jänner ist, ist es schon gegen 17:00 finster wie Nachts um 03:00. Die Straßen sind total vereist, selbst auf der Autobahn wurde nicht ordentlich geräumt. Während der ganzen Fahrt herrscht dichtes Schneetreiben. Ich wundere mich tatsächlich pünktlich und in einem Stück vor der Kinokasse anzukommen.

Der Saal ist fast leer, anscheinend vertritt der Großteil der potenziellen Zielgruppe die Meinung meiner Freundinnen, … Umso besser, mehr Platz für mich und auch keiner, der in den Film quatscht.

Ich mache es mir in der Mitte der vorletzten Reihe (Mitte letzte Reihe war schon besetzt) mit meinen Maltesers, die ich mir zuvor beim Kino-Kiosk um stolze € 3,50 geleistet habe, gemütlich.

Das Licht geht aus, die Leinwand wird hell und es beginnen die immer gleichen Verbraucherinformationen, die das spärliche Publikum berieseln.

Die erste Malteser-Kugel wandert in meinen Mund. Mhhh, das knackt so schön, und die Schokolade schmilzt angenehm auf meiner Zunge.

Kugel um Kugel verschlinge ich, während die Werbung von den Vorschauen der demnächst erscheinenden Kinofilme abgelöst wird.

Kurz vor Filmstart rutscht dann auch das Pärchen, das die Sitze hinter mir reserviert hat auf die freien Plätze. Typisch, denke ich, da ist eh nix los, und doch gibt es immer einen, der zu spät kommt, …

Nach dem üblichen Geraschel und Geklimper, bis die Jacken verstaut, das Popcorn ausbalanciert ist, und man endlich bequem sitzt, ist es endlich wieder ruhig und der Vorspann vorbei. Erleichtert lausche ich den Stimmen der Darsteller.

Doch die Ruhe währt nicht lange. Schon nach gefühlten 5 Minuten mischen sich andere Laute zu denen aus den Lautsprechern.

Oh je! Ein frisch verliebtes Paar! Die eindeutigen Schmatz- und Kussgeräusche lassen gar keine andere Schlussfolgerung zu. Dazu mischen sich bald die ersten Seufzer und das Geräusch wenn Hände über Kleidung streifen.

Ich konzentriere mich auf den Film und blende das Theater hinter mir aus. Eine ganze Weile gelingt mir das auch, aber als nach circa der Hälfte des Films auch noch Stöhnen und heftiges Atmen hinzu kommt, kann ich mich nicht mehr beherrschen, drehe den Kopf zu Seite mache so laut und so vorwurfsvoll wie nur möglich: Scht!

Als es kurz darauf still ist, denke ich schon, ich habe gewonnen. Ich kann meinen Triumpf kaum auskosten, als es auch schon wieder los geht. Ein-zwei Mal versuche ich es noch mit meinem „Scht“ werde aber ignoriert. Ich gebe mich geschlagen, so berauschend ist der Film nun auch wieder nicht, um sich deswegen mit einem liebestollen Pärchen anzulegen. Wenn da nur nicht das Kino in meinem Kopf wäre!

Das Stöhnen und Schmatzen und Atmen wird immer lauter, ein Reißverschluss wird geöffnet, ich fühle mich in meinem Sessel von Minute zu Minute unbehaglicher. In etwa so stelle ich mir das Gefühl vor, das man empfindet, wenn man sich unfreiwillig im gleichen Raum mit Personen aufhält, die gerade Sex haben. Bei den beiden da hinten, fehlt wahrscheinlich auch nicht mehr viel.

Denk an den Film, Vicky, denk einfach an den Film!

Nach weiteren 10 Minuten ist ein kurzer, unterdrückter Schrei zu vernehmen. Gleich darauf höre ich wie sich jemand erhebt und zum Ausgang eilt. Da gleichzeitig die große Schlussszene mit dem theatralischen Titellied einsetzt, merkt es wahrscheinlich niemand sonst. Also lag ich mit meiner Vermutung richtig, und sicher geht er sich gerade waschen (igitt), während sie noch sitzen bleibt um sich während des Abspanns ein wenig zurecht zu zupfen.

Die Lichter gehen an. Ich stehe auf, drehe mich um, und habe auch schon einen coolen Spruch auf den Lippen, wie „na, wie hat er dir gefallen - der Film, meine ich?“, als mir das erste Wort im Hals stecken bleibt.

Das Mädchen, blond, nicht älter als 17, die hellen Augen weit aufgerissen, starrt immer noch auf die Leinwand. Ihr Mund ist zu einem überraschten O verzerrt. Darunter klafft ein rotes Loch, ihr Hals wurde von einem Ohr zum anderen aufgeschnitten. Immer noch unfähig mich zu rühren oder etwas zu sagen, sehe ich zu wie das Blut Schwall um Schwall ihre Bluse tränkt. Unwillkürlich muss ich nach unten sehen. Ihr Blut ist auch bis auf die Lehne meines Stuhls gespritzt, sie muss schon während des Liebesspiels so weit nach unten gerutscht sein, dass nichts davon auf mir gelandet ist. Während ich immer noch dastehe und versuche zu begreifen, gehen die Zuschauer aus den vorderen Reihen an uns vorbei. Eine Frau schaut neugierig herüber und bleibt schließlich vor unserer Sitzreihe stehen. Ich wünschte sie würde weiter gehen, um ihretwillen. Sie tut es nicht. Dann fängt sie an zu schreien, …

 

ENDE

Zu dieser kleinen Geschichte hat mich der folgende Text eines lieben Freundes inspiriert:

Aus. Dass es aus ist, merk ich meistens im Kino.
Groß erscheint das Wort ENDE auf der Leinwand.
Es bewegt sich nochmal, diese ENDE-Wort,
atmet geradezu, dann erstarrt es.

Aus. Mein Gott! Jetzt hinaus? Oft bleib ich noch,
warte, bis die Platzanweiserin kommt und die Müllberge
beseitigt. Aber ich kann sitzen bleiben, solange
ich will, es läuft immer auf diese blöde ENDE hinaus.

Ich muss hinaus, obwohl ich nach dem Film immer das Gefühl habe,
nicht Weiterleben zu können.
Kein Mensch kann mir den Übergang zum Leben wieder herstellen.
Im Theater oder im Konzert ist das ganz anders. Da steht oder
springt man gar auf vor Begeisterung. Applaudiert und ist in der Welt zurück.
Das Stück ist aus, jetzt geht es erst richtig los.
Man ist schon ganz ungeduldig hinauszukommen, um seine
Meinung zu sagen, denen die drin waren und vor allen denen,
die nicht drin waren.

Aber nach dem Kino ist es wirklich und wahrhaftig AUS !
Victoria Hohlhuth, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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