Patrick Schön

Das Tal des Löwen

Tom Savage saß auf dem kühlen Boden seiner Gefängniszelle, als Pater Brendan zu ihm kam. Er war über den Besuch des Geistlichen froh, doch er stand nicht auf, als dieser die Zelle betrat.

Pater Brendan streckte ihm die Hand entgegen, doch Savage blickte verschämt weg. Sie kannten sich schon lange. Brendan hatte Savage einst getauft. Er schämte sich, dass er ihn in der Zelle sah, doch er hätte ihn diesem Moment nur ihn zusich kommen lassen. Pater Brendan tollerierte sein Verhalten nicht, doch er verurteilte ihn nicht. Manchmal glaubte Savage sogar, Pater Brendan hätte ein Maß an Verständnis für ihn.

»Wie geht es dir?«, fragte Pater Brendan. Seine große und mächtige Gestalt warf einen Schatten auf Savage. Er blickte zu dem Geistlichen hoch.

»Sie sind der erste der mich das heute frägt.«, antwortete er ihm.

Savages Stimme klang nervös, was er zu verbergen versuchte.

»Es sind jetzt noch 27 Minuten, Tom.«, sprach Brendan sanft. In seiner Hand hielt er den legendären Hut. Noch nie hatte man ihn ohne ihn gesehen.

In der Stadt witzelte man sogar, dass er mit dem Hut geboren worden sei.

Die Zeitangabe machte Savage noch nervöser und er buhlte in seinen persöhnlichen Sachen herum, die alle neben ihm auf dem Boden lagen.»Was, Pater«, begann er aufgeregt, »machen sie den Galgen schon zurecht?« Pater Brendan nickte stumm. »Bin ich froh drüber.«, sprach Savage in einer verbitterten Tonart. »Mit vierzehn haben sie mich das erste Mal eingebuchtet. Ich will Sie nicht belügen, Pater. Ich hab den damals verprügelt, aber Sie wissen, dass ich meine Gründe hatte.«

Pater Brendan schwieg und hörte seinem jugendlichen Freund gut zu. Er war schon öfters an diesem Ort gewesen und hatte viele Männer solche Sachen reden hören. Tom Savage war jedoch etwas besonderes. Er kannte hn seit dessen Geburt und war mit ihm stets gut ausgekommen. Er hätte nie erwartet ihn an diesem Ort zu treffen.

Der Pata hatte immer gedacht, dass Tom Savage ein anständiger Junge sei.

»Deine Gründe sind mir klar, Tom. Sie waren mir immer klar. Es ist gut, dass du einsiehst, dass du etwas falsches getan hast.«

Savage blickte verlegen weg. »Ich bin froh, Pater, dass ich mit allem endlich abschließen kann. Mein ganzes Leben sitze ich jetzt schon hinter Gittern. Kaum war ich wieder raus, haben sie mich wegen Doppelmordes wieder eingebuchtet. Ein Verbrechen für das ich völlig unschuldig bin. Ein Verbrechen von dem es heißt, es sei das brutalste und widerwärtigste, dass man je in der Geschichte Kaliforniens gesehen hat.«, sagte Savage verbittert. Pater Brendan kannte natürlich die Unschuldsbeteuerungen von Savage. Jeder kannte sie und einige glaubten ihm auch. Im Frühjahr des Jahres 1929 hatte man ihn wegen des Mordes an Elise und Timothy Parker verhaftet. Die Parkers waren Waisenkinder gewesen, die im städtischen Kinderheim gelebt hatten.

Der Junge war bereits siebzehn Jahre und versucht sich in verschiedenen Jobs. Er träumte davon, seiner Schwester (sie war dreizehn und ging noch in die Schule) ein gutes Leben bieten zu können, während er zeitgleich um die Anerkennung der Arbeitersicht kämpfte.

Sie wurden eines Morgens brutal erstochen in ihrem Zimmer aufgefunden. Die Polizei ging von einem Raubmord aus und ermittelte schnell. dass Tom Savage, damals frisch aus dem Gefängnis entlassen, die beiden kurz vor ihrer Ermordung besucht hatte. Savage hatte acht Jahre wegen versuchten Mordes gesessen und war bereits 23 Jahre, als er wieder frei war.

Die Geschworenen befanden ihn des Doppelmordes für schuldig und seit dem saß er wieder ein. Seit sechs Jahren nun. Er saß im Folsom State Prison in Kalifornien und war mitlerweile 28 Jahre alt. Vierzehn davon hatte er hinter Gittern verbracht.

»Ich bin froh, dass ich mit all diesem Abschätzen der Wahrheit fertig bin. Ich weiß, dass die ganze Stadt nur darauf wartet mich Jammern zu hören, doch dies werde ich nicht tun. Ich denk' ja nicht mal dran. Wieso sollte ich auch?« Savage brach in nervöses Lachen aus und blickte zu seinem ehemaligen Mentor auf. »Wieso sollte ich diesen Verrätern und Lügnern diesen Gefallen tun?« Pater Brendan stand vor ihm und hörte dem Verurteilten zu. »Wieso sollte ich überhaupt? Ich bin doch froh darüber.« Pater Brendan ging in die Knie und blickte Savage an.

»Sie haben mir ein letztes Mahl, eine Henkersmahlzeit angeboten. Doch ich werde nicht stillschweigend Urfehde mit denen Abschhließen, die an meinem Tod schuldig sind. Bin ich doch nicht schuldig für dieses Verbrechen. Wie bereits gesagt, ich bin froh, dass all das hier endlich vorbei sein wird.« Savage stieß den Teller mit dem letzten Mahl verbittert von sich weg.

»Wieso bist du darüber froh?«, fragte er ihn, worafhin Savage ihn ansah. »Pater, ich bin jetzt seit vierzehn Jahren in dieser Gefangenschaft. Ich sitz' für 'was ein, was ich nicht einmal getan habe. Bald, werde ich endlich frei sein.«

Pater Brendan stand wieder richtig auf und blickte auf seinen alten Freund hinab. »Ich werde meinen Frieden im Tal finden. Den Frieden im Tal des Löwen.« Pater Brendan verstand Savages Worte nicht. »Frieden im Tal des Löwen? Tom, wie meinst du das?«

Während Savage ihm antwortete rückte sich Pater Brendan den kleinen Stuhl zurecht und setzte sich hin.

»Das hat mir Albert erzählt. Meine Seele wird ins Tal wandern. In das schöne Tal, der wunderschönste Ort, den es im ganzen Universum überhaupt gibt. Da fließt klares, blaues Wasser, Vögel singen fröhlich und jeder ist frei. In diesem Tal legt sich der Löwe friedlich zum Lamm und sogar eine Kreatur wie ich findet dort seinen Frieden. Dort gibt es keine Sorgen, keine Probleme. In diesem Tal gibt es Frieden für mich.«

Pater Brendan kannte diese Erzählung bereits. Sie war bei Gefangen in diesem Zellenblock weit verbreitet und viele Männer, die in der Situation von Tom Savage waren, hatten ihm vom Tal des Löwen erzählt. Es war keine biblische Erzählung und Pater Brendan nahm an, dass sie von einem Häftling stammte. Viele wollten von ihm dann wissen, ob dieses Tal wirklich existierte und ob sie dahin kommen würden, wenn sie es hinter sich gebracht hatten. Obwohl Pater Brendan nicht an dieses Tal des Löwen glaubte bejahte er diese Fragen immer. Er brachte es nicht fertig diesen gebrochenen Männern den Traum vom Tal zu zerstören.

Tom Savage war der erste, der es das Tal des Löwen nannte. Es war generell nur als das Tal bekannt.

»Dort werde ich meinen Frieden finden, Pater. Doch Sie müssen mir noch einen letzten Gefallen tun.« Pater Brendan hatte erwartet einen letzten Gefallen erledigen zu müssen. So gut wie jeder bat ihn noch um etwas. Viele wollten, dass er in ihrem Namen bei den Angehörigen der Opfer um Verzeihung bat. Andere wollten, dass er den eigenen Angehörigen eine letzte Botschaft überreichte. »Ich kann nur mit Ihrer Hilfe in das Tal gelangen«, sprach Savage ruhig, »wenn ich tot bin, dann lassen Sie mich bitte nicht begraben. Ich war jetzt mein ganzes Leben lang eingesperrt, ich darf nicht bis in die Ewigkeit in einem Sarg gefangen sein. Im Tod muss ich wenigstens frei sein. Lassen Sie mich doch bitte einäschern und verstreuen Sie meine Asche über die Felder meines Vaters.« Diese letzte Bitte war ungewöhnlich und als Pater hatte Brendan seine Einwände gegen eine Einäscherung, doch er wollte Savage diese letzte Bitte nicht abschlagen.

»Ich kann nicht in das Tal des Löwen gelangen, wenn mein Körper gefangen ist. Vielleicht wäre auch meine Seele mitgefangen. Ich kann dieses Risiko nicht eingehen, wenn ich frei sein will.« Pater Brendan sah ihn an.

Tom Savage, Insasse des Todesstrakts in Folsom, ehemaliger Messdiener.

»Tom, willst du deinen Frieden mit Gott machen?«

Der Totgeweihte blickte den Geistlichen an, wobei er einmal Scham verspürte, an diesem Ort vom Pater besucht zu werden.

»Denken Sie, das Tal des Löwen ist von Gott erschaffen worden? Für Menschen wie mich?«

Pater Brendan umfasste seinen Hut und sah durch die kalte Zelle.

Wie viel hatte dieser Mann noch?

Savages Besitztümer waren lediglich ein altes Buch (»Frankenstein«) und ein seine Schuhe, die aber keine Schnürsenkel mehr hatten, da er sich daran aufhängen hätte können, ehe sie ihn zu ihrem Galgen brachten.

»Ich weiß ni...« Dem Pater fehlten die Worte.

Was hatte dieser Mann noch?

Was hatte er noch und was hatte er jemals gehabt?

Pater Brendan kannte die Lebensgeschichte von Tom Savage und wusste, dass dieser niemals etwas vom Leben gehabt hatte.

»Dieses Tal ist sicherlich göttlichen Ursprungs, Tom. Aber was erhoffst du dir da zu finden? Wie deffinierst du deinen Frieden?«

Savage starrte die Zellenwand an und senkte daraufhin den Kopf.

»Dort, Pater, werde ich gezähmt werden. Ich werde von diesen fürchterlichen Gedanken befreit werden und so sein wie alle anderen. Ich werde ich sein. Menschen wie ich werden dort befreit werden und in Ewigkeit werde ich meinen Seelenfrieden haben.«

Der Pater sah auf seine Uhr und nickte dem Wärter im Gang durch die Gitter zu, als dieser wortlos deutlich machte, dass er zu einem Ende kommen soll.

»Ich habe diese Geschwister nicht umgebracht, doch ich bin froh, jetzt sterben zu dürfen. Es wird endlich alles ein Ende haben. In diesem Tal werden keine Gitter meine Freiheit erdrücken und Wärter meine Würde zertreten. Das alles werde ich hinter mir haben.«

»Soll ich deiner Mutter etwas ausrichten?«, fragte er mit seiner ruhigen Art, doch Savage reagierte darauf wütend und verbittert. »Nein, Pater. Sie hat mir nicht geglaubt. Sie glaubt, ich sei ein Mörder, der seine Freunde für ein wenig Geld getötet hat. Meine Zeit hier wäre nur halb so schlimm gewesen, wenn ich meine Mutter auf meiner Seite gewusst hätte. Sie und dieser Richter. Wenn er meint ein Leben für ein Leben und Auge um Auge, Zahn um Zahn, dann soll er für immer in der Hölle schmoren.« Kritisch blickte Pater Brendan Savage an und dieser sah daraufhin verschämt nach unten. »Tut mir leid, Pater. Aber ich bin unschuldig. Ich habe nie gelogen. Nie! Außerdem gab es keinen Beweis. Die haben mich damals nur verdächtigt, weil sie nicht zugeben wollten keine Spur zu haben und jeder wollte, dass der Mörder gefasst wird. Jemand, der aus dem Knast kommt ist da der perfekte Sündenbock. Es gab keinen Beweis und gelogen habe ich auch nie.«

Pater Brendan stand auf und rückte den Stuhl wieder in die Ecke. Der Wärter rief seinen Namen und er wusste, dass es Zeit war zu gehen. »Beten Sie für mich, Pater?«

Pater Brendan nahm seine Bibel und legte den Hut auf den Stuhl. »Beten wir, mein Sohn.« Er schlug daraufhin die Seiten auf, die sich mit der Kreuzigung Jesu außernander setzte und er laß mit einer lauten aber dennoch ruhigen Stimme vor. Nach einer Weile schlug Pater Brendan das Buch wieder zu, nahm seinen Hut und machte sich zum gehen bereit. Er wollte nicht dabei sein, wenn es geschah. »Beten Sie für mich?«, fragte Savage erneut, diesmal noch sehnlicher. Die Lesung aus der Bibel hatte er nur mit halben Ohr zugehört. »Vielleicht komme ich dann doch noch ins Tal des Löwen.«

Pater Brendan drehte sich um und sah ein letztes Mal Tom Savage. »Warum zweifelst du an deinem Seelenfrieden, Tom?«

Tom Savage wurde sich, wie viele vor ihm seiner Situation bewusst und erkannte, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, sich alles einzugestehen, was er getan hatte.

Savage sah beschämt weg und sagte lediglich: »Ich habe keine Angst zu sterben. Aber ich befürchte, dass ich dem Richter und den Geschworenen damals nur Lügen erzählt habe.«

Er nahm den Teller mit dem letzten Mahl in die Hand und began zu essen.

ENDE

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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