Michael Pernek

Der frühe Mensch

Für Ramona und Gabi, die mir halfen diese Geschichte zu realisieren!



Michael Pernek’s

Der frühe Mensch


John ist einer unter vielen, ein Mann der in der groben Masse nicht auffällt. Jeden Tag betritt er die Firma, seine Arbeitsstätte, mit einem Lächeln und einem freundlichen Gruß auf den Lippen. Er ist als höflicher und gewissenhafter Kollege bekannt und geschätzt. Man weiß, dieser Mann könne nicht einmal einer Fliege etwas zu leide tun. In gewohnt aufrechter Haltung, in einem leicht glänzenden, sorgsam gebügelten Anzug und einer fantasielosen Krawatte, betritt er täglich, gut gelaunt, seinen Wirkungsbereich, als lebendes Denkmal des modernen Menschen. Doch John ist nicht immer so wie er sich hier präsentiert. Ein langwieriger und mühsamer Prozess ist nötig um ihn zu dem zu machen. Lassen sie uns eine Stunde zurückgehen um Johns dunkle Seite zu betrachten und die Metamorphose die er jeden Morgen durchläuft.

Johns Tag begann mit einem laut kreischenden Piepsen, das sich ständig wiederholte und in den Tiefen seiner Seele Mordgelüste weckte. Durch jahrelanges Training war John in der Lage, das Geläute des Weckers zu überhören, sehr zur Freude der Opfer, welchen sein morgendlicher Amoklauf das leben hätte kosten können!

Seine Frau reagierte jedoch auf den Weckruf und wendete sich schlaftrunken zu ihrem Mann. Dabei hob sie den Arm routiniert nach oben und schmetterte das schlaffe Glied präzise auf Johns Hinterkopf. Dies war das Zeichen für John dem Wecker den Garauszumachen. Mit geballter Faust versuchte er nun den Chronometer in eine breiige Masse zu verwandeln. Leider fehlte es dem armen John zu so früher Stunde noch an der nötigen Genauigkeit und er schlug sich eine Nagelfeile ein, die hier überhaupt nichts verloren hatte. Dieser leidvolle Schmerz versetzte John in eine Halbwachphase. Sie erlaubte ihm bereits kompliziertere Bewegungsprozesse, wie zum Beispiel das drücken des OFF- Schalters seines Weckers. Leider funktionierte Johns Feinmotorik noch nicht richtig, was das Zeitmessgerät mit einem Scheppern und einem gequältem letzten Pieps zur Kenntnis nahm.

Johns Kopf erhob sich nun langsam aus dem weichen Polster und der Rest seines Körpers folgte diesem Beispiel wiederstrebend. Verkrustete Augenlieder öffneten sich mühselig und rot unterlaufene Augen blickten hasserfüllt einem neuen, produktiven Tag entgegen. Würde man John in diesem Moment ein „Guten Morgen“ an dem Kopf werfen, wäre die Antwort mit Sicherheit doppelläufig.

Nun zeigte sich ein wahrlich beeindruckendes Schauspiel. John versuchte, möglichst leise und vorsichtig, über seine Frau hinweg, aus dem Bett zu steigen. Beeindruckend war hierbei wie er es schaffte - völlig unabsichtlich - nicht nur das Knie, sondern auch beide Ellenbogen in empfindliche Regionen der weiblichen Anatomie zu stoßen. John erntete dafür einen verächtlichen, abgrundtief verabscheuenden Blick von seitens seiner Frau und musste zur Strafe mit ansehen, wie sie sich schnaufend wieder zurück ins weiche, warme und verlockend gemütliche Bett kuschelte.

Leise knurrend, also am absoluten Maximum seiner verbalen Fähigkeiten zu dieser Stunde, schlurfte John ins Badezimmer. Die Knie leicht gebeugt, den Rücken gekrümmt und die Hände schlaff herunterhängend, erreichte er schließlich die Duschkabine.

Der nun folgende Schrei des Entsetzens galt dem eiskalten Wasser das John aus dem Duschkopf entgegenströmte. Panisch riss er nun an dem Heißwasserhahn.

Der darauffolgende Schrei, schmerzverzerrter Natur, erklang, weil nun das heiße Wasser die Oberhand gewonnen hatte. Drei Minuten später hatte sich die Temperatur eingependelt und das Gewinsel aus dem Bad verstummte.

Nach dem Duschen begab sich John in die Küche, wo er sich nun mit Hightechgeräten konfrontiert sah, die seinem geistigen Horizont, in diesem frühen Stadium des Erwachens, weit überstieg. Ein kleiner Kampf mit der Kaffeemaschine und ein ausgewachsener Krieg mit dem Toaster ergaben eine undefinierbare, braune Flüssigkeit und zwei Stück Briketts, bei dem einem das Wasser im Munde daran erinnerte dass man auf das Zähneputzen vergessen hatte und dafür ruhig auf ein Frühstück verzichten konnte.

John war nun soweit munter, dass er einem Blick auf die Uhr für erstrebenswert befand. Nach diesem ersten scheuen Blick geriet der Gute in Panik, da er nur mehr wenige Minuten Zeit hatte, um die Wohnung in Richtung Arbeit zu verlassen. Wie von wilden Hunden gehetzt, sprang John in seine Hosen und nahm das allmorgendliche Duell mit seinem Hemd und dessen Knöpfe auf. Noch schnell die Krawatte gebunden und sich beinahe erwürgt und die Socken nicht vergessen! Einige Spritzer Deo und ein wiederholter Blick auf die Uhr. Erneutes Aufkommen von Panik und Entsetzen. Die lustige Suche nach der Brieftasche und den Schlüsseln begann. Wieder ein Blick auf die Uhr werfen um den Kreislauf in Schwung zu bringen und die Chancen auf einen Schlaganfall zu erhöhen. Beim Laufen kurz über die Katze gestolpert und laut fluchend, rasch in die Schuhe gehüpft und aus dem Haus gestürmt dahinterkommen das man das Handy vergessen hatte. Ja, das machte John erst so richtig munter.

Johns Arbeitszeiten begannen früh und so ist der einzige Mensch, bis auf den Fahrer, dem John in der Straßenbahn begegnete, ein junger Mann, der von einem nächtlichen Gelage nun endlich die heimatlichen Gefilde ansteuerte. Der späte Heimkehrende hatte, zu Johns Freude, seine letzte Mahlzeit künstlerisch und für alle gut sichtbar auf den Sitz neben sich verteilt. Ein kleinwenig Magensäure an Johns Schuh erinnerte ihn daran, das solche Einblicke, auf leeren Magen, sehr reizvolle Reaktionen im eigenen Gedärm verursachten. Vor dem Geruch verdauter Malzeiten flüchtend, setzte sich John in den vorderen Waggon und schmökerte ein wenig in den bereitliegenden Zeitungen, deren Seiten sich mit einer klebrig, schmierigen Beharrlichkeit vor dem Umblättern wehrten. In der U- Bahn gingen die Dinge nun schon geordnete Wege und John erreichte pünktlich sein Ziel. Schnell noch ein belegtes Brot vom Bäcker geholt und rein in die Firma, wo er mit seinem gewohnten Lächeln und mit freundlichen Begrüßungen die Arbeitswelt in Erstaunen versetzte.

Vielleicht sehen sie John jetzt mit anderen Augen. Sein sie nett zu ihm, den er hat, wenn sie ihn treffen, schon genug durchgemacht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.09.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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