Stefan Schöner

Die Röhre

Ich liege auf einer Pritsche und warte darauf, in die lange, enge Röhre eines Tomografen gefahren zu werden.

Eigentlich war ich heute Nachmittag wegen Rückenschmerzen nur bei meinem Orthopäden, aber der wiegte nach Schilderung meiner Beschwerden sorgenvoll den Kopf und entschied, dass das Problem näher abgeklärt werden müsse.
Mittels einer sogenannten Magnetresonanztomografie, abgekürzt MRT.
Er hat mir einen Sofort-Termin in der Radiologie-Abteilung des benachbarten Krankenhauses besorgt, und dort hat man mir ohne viel Federlesens mein gesamtes Metall abgenommen, mir eine Kanüle in eine Vene gelegt und mich auf die erwähnte Pritsche verfrachtet. Eine Radiologie-Assistentin legt mir einen Notschalter auf den Bauch und setzt mir noch einen Gehörschutz auf, mit der Bemerkung, dass die Maschine recht laut werden könne, und schon setzt sich die Prit-sche in Bewegung und fährt mich in die Röhre.
„Es dauert ungefähr fünfundzwanzig Minuten!“, ruft sie mir noch nach. „Bitte versuchen Sie, sich möglichst wenig zu bewegen!“
Ha, ha, wie witzig.
Zum einen ist mir wie jedem Hobby-Fotografen klar, dass man kein gutes Bild bekommt, wenn sich das Motiv bewegt, darauf hätte man mich wirklich nicht extra hinweisen müssen.
Zum anderen sind die Platzverhältnisse in der Röhre des Tomografen nun wirklich nicht so bemessen, dass sie zu viel Bewegung animieren würden. Im Gegenteil, es ist sogar verdammt eng und verdammt unbequem. Meine Arme sind zu meinen Seiten zwischen der Röhrenwand und meinem Körper eingeklemmt, und die Decke der Röhre befindet sich fünfzehn oder zwanzig Zentimeter über meiner Nasenspitze.
Genau betrachtet hat man genauso viel Platz wie in einem Sarg.
Ich kann die Leute gut verstehen, die in einem solchen Gerät Platzangst bekommen.

Die Maschine erwacht zum Leben und beginnt unter lautem Dröhnen und Rattern, meinen Körper schichtweise zu durchleuchten. Ich schließe die Augen und warte geduldig auf das Ende der Prozedur.
Plötzlich beginnt meine Nase zu jucken.
Aber wie.
Als ob Ameisen darauf herumkrabbeln.
Mist.
Ausgerechnet jetzt.
Ich bewege vorsichtig meine Finger, um zu testen, ob ich meine Nase erreichen kann, aber das klappt nicht: Zu eng. Ich müsste mich halb umdrehen, und dann wäre das Ergebnis der Untersuchung nicht mehr verwertbar.

Ich beschließe, meine juckende Nase zu ignorieren und mich stattdessen auf einen Körperteil zu konzentrieren, der nicht juckt.
Mein linkes Knie zum Beispiel.
Das juckt nie.
Bis jetzt.
Jetzt, wo ich es nicht erreichen kann, beginnen ganze Armeen von Ameisen, auf meinem linken Knie herumzukrabbeln, Ameisen, die offenbar von meiner Nase zum Knie abkommandiert wurden. Ich kratze mit den Fingern der linken Hand die Stelle, die ich ohne weitere Bewegung erreichen kann, aber das ist natürlich die einzige Stelle, die nicht juckt.
Verflucht, so halte ich die halbe Stunde nie durch.
Ich versuche, abzuschätzen, wie lange es noch dauern wird und schiele in Richtung Röhrenausgang, in der Hoffnung, so etwas wie eine Uhr zu sehen. Ich sehe aber nur meine Füße. Was soll´s; eine Uhr würde hier, in Nachbarschaft eines solch starken Magnetfeldes, vermutlich sowieso nicht funktionieren.

Mein Rücken, der der Auslöser für die ganze Misere ist, meldet sich nachdrücklich. Er hat ja vorher schon wehgetan, und er mag es gar nicht, reglos in einer Tomografenröhre zu liegen. Er schreit nach Bewegung, und eigentlich begrüße ich den Schmerz sogar, denn er lenkt mich vom Juckreiz der anderen Körperteile ab.
Oh, oh – das hätte ich nicht denken dürfen.
Das ist ganz klar das Signal für die Ameisen, zu meinem Rücken zu marschieren.
Natürlich nicht, ohne Garnisonen auf meiner Nase und meinem Knie zurückzulassen. Dass ich auf dem Rücken liege und es physikalisch unmöglich ist, dass sie sich dort aufhalten, das juckt sie offenbar nicht im Geringsten.

Ich versuche mich abzulenken, indem ich an etwas ganz anderes denke, an etwas Schönes.
Unsere letzte Kreuzfahrt zum Beispiel.
Ja, das ist gut.
Ich lasse die beiden Wochen vor meinem geistigen Auge Revue passieren.
Die Einschiffung.
Die Begrüßung, mit dem Gläschen Champagner.
Die Rettungsübung.
An die kann ich mich noch gut erinnern, weil sie so lange dauerte und ich zum Schluss doch recht dringend zur Toilette musste…
Oh, Dreck, verfluchter.
Ich schlage die Augen auf, sehe die weiße Rundung der Röhrenwand über mir. Meine Nase, mein Knie und mein Rücken jucken wie verrückt, und jetzt habe ich auch noch einen gewaltigen Druck auf der Blase.
Was wohl mit dem Tomografen passiert, wenn ich in ihn hineinpinkle?
Ich verwerfe den Gedanken, schließlich wollen mein Orthopäde und ich ja ein Ergebnis haben.
Mir wird klar, dass ich ganz einfach leiden muss, das ist mein Schicksal.
Es gibt keinen Ausweg, keine Linderung, keine Ablenkung.
Schade, dass Dante im vierzehnten Jahrhundert noch keinen Kernspintomografen kannte – die Kreise der Hölle wären sicherlich um einen erweitert worden.
Für welche Sünden Dante den Tomografen wohl vorgesehen hätte?
Schwer einzuschätzen…

Die Maschine dröhnt, dröhnt, dröhnt, die Ameisen marschieren, marschieren, marschieren.
Meine Blase droht zu platzen, mein Rücken schmerzt und zu allem Überfluss kündigt mein rechtes Bein einen Wadenkrampf an.
Ich bin mir jetzt sicher, dass ich sterben muss, „… konnte nur noch tot aus der Röhre geborgen werden …“ wird über mich in der Zeitung zu lesen sein. Ein weiteres Opfer der tückischen, zeitgenössischen Medizintechnik.
Aber halt – Moment mal.
Man hat mir doch einen Schalter in die Hand gedrückt, als man mich in dieses Folterinstrument schob, oder?
Für den Notfall.
Und wenn meine Situation kein Notfall ist, was dann?
Wo ist dieser verflixte Schalter?
Ich schiele nach unten: Er liegt zwischen meinen Knien.
Wie zum Teufel konnte er soweit nach unten rutschen?
Ach so – sein Kabel hat sich in den kleinen Schlauch der Kanüle verheddert. Spielt aber keine Rolle mehr, er ist dort ohnehin unerreichbar.
Ich bin verloren.
Endgültig.
Ich schließe die Augen.

Plötzlich geschieht ein Wunder.
Ich kann es nicht anders bezeichnen.
Ein echtes Wunder.
Das Dröhnen der Maschine verstummt, meine Pritsche setzt sich mit mir in Bewegung, ich fahre aus der Röhre heraus und blicke in das Gesicht der Radiologie-Assistentin.
„So, fertig!“, sagt sie, nimmt mir den Gehörschutz ab und beginnt, den Notschalter und den Schlauch der Infusion zu entwirren. „Gab´s irgendwelche Probleme?“
„Probleme?“ frage ich lässig. Der Juckreiz ist wie weggeblasen, der Drang, die Toilette aufsuchen zu müssen, ebenfalls, von einem Krampf keine Spur mehr. „Nein, natürlich nicht. Was für Probleme?“

ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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