Christiane Mielck-Retzdorff

Augen wie Bernstein

 

 

Wie jeden Sonnabend hatte Elfriede nach dem Einkaufen noch das Sonderangebot der Cafeteria des Supermarktes wahrgenommen und sich ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee gegönnt. Es hatte angefangen zu regnen und sie stellte ihre Einkaufstasche auf dem nassen Gehweg ab, um aus ihrer großen Manteltasche einen Miniregenschirm herauszukramen. Als Elfriede das komplizierte, instabile Gerät endlich entfaltet und aufgespannt hatte, fiel ihr Blick auf einen Hund, einen Schäferhund, der mit einer Leine an einem Laternenmast angebunden da saß. Er trug ein Schild aus Pappe um den Hals, dessen Tintenschrift schon langsam im Regen zerrann. Dort stand: Ich heiße Hasso.

 

Das Tier sah Elfriede mit traurigen, dem Schicksal ergebenen Augen an und ließ die Ohren hängen, von denen schon das Wasser tropfte. Elfriede schaute sich fragend um, doch die Passanten, die die Szene wahrnahmen, wendeten sich schnell ab und hasteten eilig davon. Selbst etwas unschlüssig nahm sie ihre Einkaufstasche und ging zu dem Hund hin, der nun zwar aufstand, aber nicht mit dem Schwanz wedelte.

 

Elfriede hatte keine Erfahrung mit Hunden, aber auch keine Furcht vor ihnen. Irgendjemand musste der armen Kreatur doch helfen. Also beschloss sie, den Hund loszubinden und ihn auf die nahe Polizeiwache zu bringen. Dort würde man sich seiner annehmen und ihm im Tierheim ein neues Zuhause geben.

 

Gehorsam folgte Hasso, und Elfriede erkannte, dass auch bei ihm das Leben schon seine Spuren hinterlassen hatte. Das Laufen machte ihm Probleme, und die Schnauze zierten etliche graue Haare. Elfriede mußte schmunzeln bei dem Gedanken, welch ein trostloses Paar die alte, zarte, gebrechliche Frau und der humpelnde Hund abgaben.

 

Aus der Polizeiwache kamen ihnen zwei muskelbepackte, junge Männer entgegen, die lauthals über die Obrigkeit pöbelten und dabei ihre Wut noch nährten. Elfriede wurde es sehr unbehaglich wie sich die beiden ihnen Schritt um Schritt näherten. Es war zu spät, um über die befahrene Straße auszuweichen.

 

Plötzlich schrak Elfriede fürchterlich zusammen. Neben ihr ertönte ein dunkles, bedrohliches Knurren. Auch die beiden jungen Männer erstarrten vor Schreck, schwiegen und blickten eingeschüchtert auf Hasso, der unter seinen hochgezogenen Lefzen stattliche Reißzähne zeigte. Seinen Körper hatte er angriffslustig gestrafft und seine Augen fixierten seine Gegenüber.  Diese sahen zuerst sich und dann den Verkehr an, um durch eine Lücke zwischen den Autos auf der andere Straßenseite das Weite zu suchen.

 

Elfriede nahm Haltung an und schaute mit einem verschwörerischen Blick auf ihren Begleiter, der nun nichts mehr von einem gefährlichen Wachhund an sich hatte. Beide drehten sie um und gingen zusammen zurück zu dem Supermarkt.

 

Der alten Frau war nie bewusst gewesen wie teuer Hundefutter ist. Obwohl sie ihr Leben lang hart gearbeitet hatte, bis ihr kaputter Rücken dies nicht mehr duldete, blieb ihr doch nur eine kleine Rente. Zum Glück hatte sie noch etwas Geld für das Wochenende übrig behalten, und so kehrte sie mit einem Beutel Trockenfutter dorthin zurück, wo Hasso brav neben ihrem Einkaufskorb wartete. Der Regen hatte aufgehört.

 

Die wenigen Stufen zum Hochparterre fielen dem Hund schwer. In der Wohnung breitete Elfriede eine Decke vor der Heizung für Hasso aus, auf der er sich sogleich niederlegte. Nachdem sie ihre Einkäufe verstaut und für Hasso Futter und Wasser bereitgestellt hatte, ließ sich Elfriede auf ihrem Sofa nieder, und die beiden neuen Hausgenossen betrachteten sich. Hasso hatte wunderschöne bernsteinfarbene Augen, über denen sich zwar ein dunkler Schleier des Kummer ausgebreitet hatte, jedoch erkannte Elfriede in noch ein zartes Funkeln von Kraft und ehrlicher Treue darin.

 

Die größte Umstellung für Elfriede waren die regelmäßigen Spaziergänge, die nun nötig wurden. Doch dabei entdeckte sie Straßenzüge mit gepflegten Vorgärten, in denen die Vögel munter zwitscherten, und einen kleinen Park, wo die Düfte und Geräusche des nahen Frühlings frohe Erinnerungen an ihre Jugend weckten. Auch in Hasso schien die Freude am Leben langsam zurückzukehren. Er bewegte sich müheloser und die Bernsteinfarbe seiner Augen erhielt einen sonnigen Glanz. Als er zum erste Mal mit dem Schwanz wedelte, fächerte er einen Windhauch des Glücks in Elfriedes Seele, der sanfte Tränen ihre faltigen Wangen hinunterrinnen ließ.

 

Im Park lernte Elfriede viele andere Hundebesitzer kennen, denn Hasso war in seinem Wesen sehr freundlich. Im Sommer wurden sie in gepflegte Gärten mit blühenden Stauden eingeladen, wo die Hunde im Schatten der Büsche ein Nickerchen hielten, während es sich die Besitzer bei einem kleinen Imbiss gut gehen ließen. Es waren sorglose Stunden, in denen Vergangenheit und Zukunft der Zutritt verwehrt war und der Augenblick die Unendlichkeit berührte.

 

An den Abenden saßen sie in vertrauter Gemütlichkeit vor dem Fernseher, der Hund immer zu Elfriedes Füßen. Sie teilten die Mahlzeiten, und Elfriede erzählte Hasso von ihrem Leben. Wenn sie dabei traurig wurde, mahnte sein Bellen sie zur Rückkehr in eine Gegenwart voller gegenseitiger Zuneigung. Bei nächtlichen Spaziergängen schritt Elfriede ohne Furcht durch die Dunkelheit und erfreute sich an dem blinkenden Sternenhimmel, dem Mond, wie er sich zwischen die Hausdächer schmiegte und den verhallenden Geräuschen der einschlafenden Stadt.

 

Doch mit Beginn der kalten Jahreszeit zeigten Hassos müde Knochen wieder, dass sein Lebensweg langsam zu Ende ging. Elfriede musste ihm immer häufiger die die Stufen hinauf helfen, was sie große Anstrengung kostete. Feuchte Flecken auf dem Teppich waren Zeugen der schwindenden Kraft des alten Hundes. Sein schlechtes Gewissen darüber betrübte Elfriede mehr als das Malheur. Nun legte sie sich oft zu ihm auf die Decke, streichelte und liebkoste ihn. Sie wollte Hasso nicht halten, aber er sollte in dem Bewusstsein gehen, dass sie ihn sehr liebt hatte.

 

Als Elfriede Hasso eines Morgens wie schlafend auf seiner Decke fand, war sie dankbar, dass er sich nicht hatte quälen müssen. Und große Dankbarkeit empfand sie auch dafür, dass er seine letzte Ruhe in dem Garten einer Bekannten unter einem Haselnussstrauch finden durfte.

 

Elfriede erfüllte tiefe Trauer, aber sie kam ebenso zu der Erkenntnis, dass auch für sie die Zeit gekommen war, Abschied zu nehmen und sich auf den letzten Gang vorzubereiten. So entschied sie sich, in ein Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt umzusiedeln, was bei ihrem hohen Alter auf großes Verständnis stieß.

 

Sie bezog ein karges Zimmer mit ihren wenigen Habseligkeiten und erwartete kaum noch etwas von ihrem weiteren Leben. Zusammengesunken saß Elfriede in ihrem alten Sessel, als die Tür aufging und ein großer, stattlicher Pfleger eintrat.

„Ich werde mich ab heute im Sie kümmern“, verkündete er strahlend. Alles an ihm ließ diese Worte wahrhaftig und überzeugend klingen. Elfriede war es, als würde ein Sonnenstrahl den Raum durchfluten. Und Elfriede lächelte, denn der junge Mann hatte ein vertrautes Leuchten in seinen bernsteinfarbenen Augen.    

 

 

 

 

 

  

 

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