Jürgen Berndt-Lüders

TESS POLY IM EINSATZ (6) Berechnung nach Bedürftigkeit

Bei Tess klingelt das Handy. Melodie: OH DU SCHÖNER WESTERWALD. Tess klickt sich rein und meldet sich. „ Tess Poly am Apparat. Bitte melden.“

 

„Tag Frau Poly. Streber hier. Ich gehe gerade ihre Protokolle von gestern durch. Sagen sie mal, warum berechnen sie für eine Parkzeitüberschreitung von drei Minuten fünfhundert Euro Verwarnungsgeld?“

 

„Ich habe nach dem neuen Urteil des BGH gerechnet, Herr Chef Streber.“

 

„Wie das denn? Da ging es doch gar nicht um Verwarnungsgelder.“

 

„Das nicht, aber wenn sie sich mal erinnern wollen: sie wissen doch, weshalb damals die Punkte in Flensburg eingeführt wurden, oder?“

 

„Klar weiß ich das. Ich habe ihnen doch selber die Info über die Historie geschickt.“

 

Tess liest vor. VON DER ENTHAUPTUNG BIS ZUR ERHÖHTEN PARKGEBÜHR.

 

„Genau das, Frau Poly, und da steht auf Seite 128, dass die Punkte in Flensburg eingeführt wurden, damit reiche Leute nicht einfach Übertretungen begehen, weil sie genügend Geld haben und die Strafen aus der Portokasse zahlen.“

 

„Sie sagen es selber. Und weil der Verkehrsteilnehmer genügend Geld zu haben schien...“

 

„...Frau Poly, das ist nicht die Wahrheit. Sie haben sich über seine Kaltschnäuzigkeit geärgert und wollten ihm einen Denkzettel verpassen.“

 

Tess überlegt und fühlt sich ertappt. „Kann schon sein, Herr Chef Streber, aber woher wissen sie das?“

 

„Er hat mich angerufen.“

 

Tess will wieder mal vom Thema ablenken. „A propos anrufen. Uffz Wackernagel hat mich angerufen. Er wollte am Samstag kommen. Aber da kann ich nicht.“

 

„Samstag haben sie doch frei, Frau Poly. Da könnte er doch kommen.“

 

„Ja, da könnte er kommen, aber ich nicht. Da bin ich unpässlich. Ich will schließlich auch mal wieder kommen.“

 

Streber stutzt, überlegt kurz und lacht. „Frau Poly, sie denken nur noch an das Eine. Sie sollen aber in diesem Falle an das andere denken, nämlich daran, dass sie niemals einen Verkehrsteilnehmer anders behandeln sollten als alle anderen. Wenn er sie beleidigt, zeigen sie ihn an, aber...“

 

„...er war einfach unverschämt. Kommt da zu seinem Oldtimer, den ich aufschreiben will, einem restaurierten Manta, präsentiert mir seine stylischen Klamotten...“

 

„...ist der nun in ihrem Sinne oder in meinem gekommen?“

 

Tess überlegt. „In ihrem natürlich. Meinen sie, die Männer kommen bei mir, wenn ich ihnen ein Verwarnungsgeld verpassen will?“

 

„Jedenfalls war er plötzlich an seinem Manta, dem sie gerade ein Knöllchen verpassen wollten.“

 

„Richtig. Ich hatte den Fünf-Euro-Bon heraus gefischt und wollte ihn gerade unter den Scheibenwischer klemmen, als er kam, äh, erschien.“

 

„Der Verkehrsteilnehmer sagte mir, er habe sich auf das BGH-Urteil bezogen und ihnen gesagt, dass fünf Euro sein Budget überschreiten. Und er bat sie, das Verwarnungsgeld individuell zu berechnen.“

 

„Ja, er meinte, er sei so arm und hätte kein eigenes Einkommen. Das zeige sich doch auch an seinem alten Auto und an den Klamotten aus den Achtzigern. Er bot mir zwei Euro an.“

 

„Zwei Euro? Dafür haben wir doch gar kein Formular.“

 

„Richtig, aber er tat mir so leid. Und gerührt hat er mich auch irgendwie in seiner Bedürftigkeit. Ich wollte mich solidarisch zeigen, weil ich doch auch bedürftig bin...“

 

„...und weil er keine Rechnung brauchte, wollten sie die zwei Euro in die eigene Tasche stecken, stimmts?“

 

„Nein, Herr Chef Streber, ich wollte die in den Parkscheinautomaten stecken, denn er wollte noch nicht wegfahren. Er hatte noch einen Termin mit seinem Banker.“

 

„Edel gedacht. Und warum haben sie das dann nicht gemacht?“

 

„Weil er nur einen fünfhundert-Euro-Schein hatte und ich nicht wechseln konnte.“

 

Streber lacht. „Das ist allerdings merkwürdig. Und dann haben sie den Schein einfach eingesteckt, haben zwei Nullen hinter die fünf gemalt und sind weg?“

 

„Allerdings war ich weg. Geistig weggetreten war ich. Mein Handy klingelte nämlich, und auf meinem Display sah ich, dass Uffz Wackernagel dran war.“

„Das ist allerdings ein Grund. Aber dann hätten sie doch sagen können, dass sie zurück rufen.“

 

„Hätte ich, aber der Mantafahrer schrie mich an, und ich sagte, ‚sie können mich ’.“

 

„Ach so, na dann ist alles klar. Er konnte sie und sie haben die fünfhundert Piepen als Bezahlung genommen.“

 

Tess stottert verlegen. „Nein, der konnte mich mal. Der kann mich doch nicht, nur mal ich ihn mal kann. Ich bin zwar für den Verkehr da, aber Verkehr ist nicht gleich Verkehr. Und außerdem hätte ich die 500 Euro eingesteckt, wenn er mich hätte können.“

 

Streber nickt. „Das ist logisch, denn dann hätten sie sich ja das Geld verdient.“

 

„Herr Chef Streber, wir müssen aufhören. Uffz Wackernagel ruft an. Alles Roger. Over and out.“

 

Streber lächelt verträumt. „Das junge Glück. Wie schön, vielleicht wird sie nun endlich wieder normal.“

 

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