An einem lauschigen Sommerabend sitze ich in der Abendsonne auf der kleinen
Holzbank im Garten vor meinem Häuschen. Nebenan spielen Kinder und irgendwo
in der Nachbarschaft kläfft ein Hund.
Vor mir im Gras sonnt sich zwischen den vereinzelten Gänseblümchen die alte Katze.
Vor einigen Wochen saß die grau-getigerte vor meiner Tür und hatte scheinbar
beschlossen, daß ich ihr neuer Dosenöffner sein sollte. Ich war nicht abgeneigt, und
nun lauschen wir beide dem abendlichen Krakelen der Drosseln in der Hecke.
Gemütlich zurückgelehnt ziehe ich an der Zigarette und schließe die Augen.
Ich muß wohl eingedöst sein, denn als mir eine Hand zärtlich übers Haar streicht,
spüre ich meinen Großvater neben mir sitzen. Zuerst bin ich etwas irritiert, weil er
schon vor vielen Jahren gestorben ist, lange vor meiner Einschulung.
Doch dann fängt er an zu erzählen und ich höre gebannt zu. Es ist eine Geschichte,
die er vor langer Zeit erlebt hatte und mir unbedingt mitteilen will.
Während des Krieges war er in Hamburg dem Zivilschutz zugeteilt. In einer der
schrecklichsten Bombennächte 1943, als die Alliierten mit ihren Flugzeugen Bomben-
teppiche über der Stadt abluden, und sie in Schutt und Asche legten, wurde er von
einem einstürzenden Haus verschüttet. Die halbe Nacht und einen qualvollen darauf-
folgenden Tag lag er in den Trümmern und konnte sich keinen Millimeter rühren.
Er hing fest, bekam kaum Luft und war sehr durstig. In den Straßen loderten viele
Feuer, stoben Staub- und Aschewolken in jede Ritze, als die Häuser zu Trümmern
verfielen.
Mein Großvater war sehr verzweifelt und versuchte um Hilfe zu rufen. Aber er bekam
aus seinem trockenen, verklebten Mund keinen Ton heraus. So vergingen die
Stunden, während er hilflos dalag. Erst gegen Abend, als die Stadt sich auf den
nächsten bevorstehenden Luftangriff vorbereitete, wurde er wieder hellwach.
Er spürte, wie jemand an seinen Stiefeln zerrte. Vor lauter Angst, für tot gehalten
und seiner wertvollen Stiefel beraubt zu werden, nahm er seine letzten Kräfte
zusammen und schaffte ein klägliches Winseln.
Es war ein kleines Wunder, denn er wurde gehört. Und dem vermeintlichen Dieb
gelang es in einer übermenschlichen Kraftanstrengung, meinen Großvater zwischen
Trümmern und unter Balken einer eingestürzten Hausfassade herauszuziehen.
Seinen Lebensretter hat mein Großvater nie gesehen. Als nach Tagen im Kranken-
haus der dicke Verband von seinem Kopf abgenommen wurde, wußte er, daß
erblindet war.
Hier macht er eine kurze Pause und mir entfährt ein tiefer Seufzer.
So detailliert hatte mir noch nie jemand diese Geschichte erzählt. Ich überlege,
ob er deswegen so bösartig geworden ist. Meinen Eltern, besonders meinem Vater,
hatte er das Leben zur Hölle gemacht. Er besaß Macht und spielte sie aus, er hat
diktiert und manipuliert und Angst verbreitet. Er ist ein dunkler Schatten in meiner
Kindheit. Während ich so sinniere und ganz sauer auf ihn werde, erzählt er einfach
weiter.
Als er im Krankenhaus merkte, daß er nie wieder würde sehen können, war er
verzweifelt und haderte mit seinem Schicksal. Er bekam das heulende Elend und
fühlte sich fast so schlimm, wie in den endlosen, ungewissen Stunden voller Todesangst
in den Trümmern.
Eines nachts, als er sich ruhelos und unglücklich im Bett hin und her wälzte, kam er auf die Idee, zu beten. Doch er wußte nicht, wie er das anstellen sollte. Der liebe Gott seiner Kindheit war genauso verschüttet, wie er es gewesen war. Da ihm nichts Besseres einfiel, schickte er seine Klagen und Bitten um Erlösung einfach ins Universum, in der Hoffnung, von irgendwem erhört zu werden.
Und dann hatte er eines Nachts einen Traum, in dem ihm vor seinem inneren Auge
ein Lichtwesen erschien, das wie eine Fee aussah. Diese Fee sagte zu ihm: Ich habe
Dir das Augenlicht genommen, damit Du in Dein Herz schauen kannst. So plötzlich
wie dieses Lichtwesen erschienen war, verschwand es auch wieder.
Nun fühlte er sich noch hilfloser als zuvor, denn das, was sie gesagt hatte, wollte er
am liebsten gar nicht gehört haben. In den nächsten Tagen grübelte er darüber nach.
"In mein Herz schauen". Doch so sehr er es auch versuchte, da war nichts zu
entdecken. Mein Großvater war und blieb blind, sowohl nach außen, als auch nach
innen. Ihm blieb nur rabenschwarzes Dunkel, was ihn langsam verzweifeln liess.
Die Wochen vergingen und mein Großvater war sehr unglücklich. Also klagte er
erneut ins Universum mit der Bitte um Erlösung von seinem Albtraum. Und eines
Tages war das Lichtwesen wieder vor seinem inneren Auge und sprach:
Ich schenke Dir eine Vision vom Glück Deiner Nachkommen. Daraufhin hatte er einen
fast unglaublichen Traum, den er mir folgendermaßen erzählte:
Glocken klingelten in fröhlichen und feierlichen Tönen und ich sah mich während
der Hochzeit meiner ältesten Tochter, Deiner Mutter. Deinen Vater, meinen
Schwiegersohn, den ich bisher nur verachtet hatte, konnte ich mit ganz anderen
Augen sehen. Auf einmal gefiel er mir und ich war sehr stolz auf meine Tochter.
Sie hatte eine gute Wahl getroffen und ich war mir ganz sicher, daß sie ein
zufriedenes und erfülltes Leben miteinander haben würden. Fröhliche und glückliche
Kinder würden aus ihnen eine harmonische Familie machen. Kann es eine bessere
Zukunft geben?
Hier macht er wieder eine Pause, aber diesmal kommt der Seufzer nicht von mir.
Noch einmal spüre ich, wie mein Großvater mir zärtlich übers Haar streicht. Und
dann sagt er etwas, was mich sehr staunen läßt: Ich schenke Dir meine Vision.
Ich hoffe, daß Du damit etwas anfangen kannst und wünsche mir, daß es Dir hilft.
Du kannst etwas schaffen, wozu ich nicht in der Lage war.
Ich muß wohl einen Moment gedöst haben, denn als die Katze um meine Beine
streicht, und ich die Augen öffne, ist es schon fast dunkel. Verwundert stelle ich fest,
daß mein Großvater nicht mehr neben mir sitzt.
In Gedanken bin ich noch ganz in der Geschichte vom Traum meines Großvaters,
die er mir soeben, hier auf dieser kleinen Holzbank, vor meinem Haus, selbst erzählt
hat. Oder sollte ich das etwa nur geträumt haben?
Von einem Großvater, der für mich nie greifbar war, den ich nie gekannt und noch
weniger verstanden habe. Meine Gedanken an ihn waren verknüpft mit den
Albträumen meiner Kindheit, mit dem Traum vom erschlagenen Soldaten
im Keller meiner Großeltern, oder den Panzern am Feldrand, die ihre Kanonen auf
mich gerichtet hatten.
Und doch fühle ich mich so beschenkt.
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christine Meyer).
Der Beitrag wurde von Christine Meyer auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.02.2010.
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