Holger Szeglat

Arkanium

Hat sie nicht schon jeder gesunde, lebenshungrige Mensch verspürt, die unbeschreibliche Furcht vor dem Tod?
Was geschieht, sobald der gestorbene Leib die Seele aushaucht?
Mal abgesehen von komplizierten, angsteinflößenden chemischen Prozessen, die im Inneren eines jeden Menschen stattfinden und letztendlich Leichenstarre und beginnende Zersetzung auslösen, hoffe ich auf Abläufe die den menschlichen Sinnen weitgehend verborgen bleiben.

Wahrscheinlich gehöre ich nicht zu den einzigen Menschen dieser Erde, die sich in besinnlichen Stunden mehr als einmal die Frage nach dem „Warum“, nach dem Sinn des Seins gestellt haben.
Warum existieren wir, wenn doch alles nur ein unendlicher Zufall der Evolution mit gleichem, unbefriedigendem Ausgang, nämlich dem Fall des Vorhangs, dem Gang über dem Jordan, kurz dem Tod, sein sollte?

Hat sich die Natur auf unsere Kosten einen Scherz erlaubt?

Das wird wohl keiner erfahren!

Keiner?

Zeit meines Lebens hatte ich zu meiner Großmutter, die ich im Übrigen liebevoll Omi Julia oder einfach nur Lia nannte, ein nicht nur großmütterliches, sondern ein großartiges mütterliches Verhältnis. Sie war d i e Frau meines Lebens. Sie wusste um meine irdischen Sorgen und war immer in der Lage und das Zeit ihres Lebens, mir meine Ängste zu nehmen.
Sie war da wenn ich sie brauchte und sie hielt schützend ihre Hand über mich, wenn ich mich ängstigte.
Mein Vertrauen in sie war grenzenlos.

Als ich zwölf Jahre alt war, berichtete sie mir von einem Geheimnis, welches sie von ihrem Vater anvertraut bekam.
Sie deutete es aber nur an und war der Meinung, dass ich noch zu jung sei, den ganzen Umfang dieses Geheimnisses zu begreifen.
Trotz ständigen Bitten und Bettelns blieb Omi Lia standhaft.
„Es ist noch zu früh dafür.“, versuchte sie mich zu beruhigen.
„Du wirst es noch schnell genug erfahren. Und wenn Du es dann endlich weißt, dann ist es so unglaublich, dass Du für Dich eine Entscheidung treffen musst.“
Ich war unbeschreiblich neugierig, ohne zu verstehen, was sie andeutete.
Egal was es war. Ich wollte es unbedingt wissen.

„Och man. Sag es mir doch, bitte!“

„Nein, später mal.“

„Jetzt“

„Ich sagte doch nein.“

„Ich erzähle es ganz bestimmt niemanden weiter.“

„Wenn die Zeit gekommen ist, sollst Du es sogar weiter erzählen.“

„Wirklich?“

„Ja, natürlich sollst Du das.“

„Dann kannst Du das Geheimnis auch jetzt erzählen.“

„Nein, später mal.“

Und da schloss sich der Kreis. Ich wusste ganz genau, dass ein weiteres „Löchern“ zu dem gleichen Ergebnis geführt hätte.
Der Sturheit meine Omi Lia konnte ich nichts entgegensetzten. Vielleicht konnte sie ein gespielter Wutausbruch noch umstimmen?

Also stampfte ich mit beiden Beinen auf den Boden und drohte ihr sämtliche kindlichen Repressalien an, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen.

Sie lachte nur und meinte:

„Nein, später mal. Aber so viel sei gesagt. Es ist nicht nur ein einfaches Geheimnis, es ist etwas einmaliges. Daher nenne ich es Arkanum.“

Da riss mein Geduldsfaden und ich kickte als Ausdruck meines Grolls einen imaginären Gegenstand mit dem Fuß durch die Fensterscheibe des Wohnzimmers.
Aufgrund des fehlenden Widerstands entpuppten sich alle wirkenden physikalischen Kräfte als Bumerang und ich purzelte rücklings in einen Zeitungsständer.
Da lag ich nun. Mit dem Po zwischen zwei Eisenstäben eingezwängt und leicht poliertem Steiß ruderte ich mit beiden Armen, um wieder aufzustehen. Fehlanzeige.

Statt mich aus dieser misslichen Lage zu befreien, lachte Omi Lia lauthals über das Bild, das ich abgab.
Von da an beschloss ich, das blöde Geheimnis gar nicht mehr wissen zu wollen, wenn es denn überhaupt existierte.

Ungefähr zehn Jahre später, Omi Lia hatte mittlerweile das biblische Alter von 88 Jahren erreicht, machte ich eine komische Entdeckung.
Lia war allein in ihrem Schlafzimmer und sprach mit sich selbst. Es war nicht das typische Selbstgespräch, sondern ein Dialog mit einer nicht sichtbaren Person. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich und ich hielt es für nicht ausgeschlossen, das Lia fantasierte.
Schließlich war sie schon sehr alt und zudem schon seit mehreren Wochen bettlägerig.
Arthrose und Rheuma hatten ihrem Körper kräftig zugesetzt, so dass ihr jeder Schritt sehr, sehr schwer fiel. Aber ihr Geist war hellwach. Je mehr ich darüber nachdachte, desto merkwürdiger kam mir die Sache vor.

„Mein Junge“, sagte sie, als ich zu ihr trat. „Du bist in einem Alter, in dem Du nicht über den Tod nachdenkst. Er scheint so weit weg zu sein, doch er ist allgegenwärtig. Mich hat er fast erreicht und ich freue mich auf ihn, denn jedes Ende ist ein neuer Anfang.“

Ich drückte ganz fest ihre Hand und mich beschlich eine innere, nicht zu beschreibende Schwermütigkeit.

„Lia“, antwortete ich „Dir geht es zwar nicht besonders gut, aber das heißt doch nicht, dass es mit Dir zu Ende geht. Bald bist Du wieder auf den Beinen. Du wirst schon seh´n.“

„Es geht auch nicht mit mir zu Ende“, sprach sie.

„Siehste, das hört sich doch schon viel besser an.“

Dr. Siebert, der Hausarzt meiner Großmutter, kam an diesem Abend zur Hausvisite.

„Wie geht es ihnen denn heute?, fragte er und begann die Doktorutensilien aus seinem schwarzen Koffer zu packen.
„Schlechten Leuten geht es doch immer gut, Herr Doktor“, erwiderte sie.
Er hörte sie ab und klopfte mit dem Mittelfinger seiner rechten Hand auf verschiedene Stellen des Rückens.

„Hmm, das gefällt mir gar nicht“, sagte er in einem ernsten Ton, als er den Blutdruck maß.
Er wandte sich zu meinem Vater und gab zu bedenken, dass Lia´s Zustand nicht sehr befriedigend sei.

„Sie hat eine beginnende Lungenentzündung. Bei alten Menschen kann das oft sehr kritisch sein. Deshalb schlage ich vor, dass sich ihre Frau Mutter für ein paar Tage in ein Krankenhaus begibt. Dort wird sie ärztlich beobachtet und man hat dort mehr Möglichkeiten, wenn etwas sein sollte. Sie verstehen mich?!“

„Aber natürlich verstehe ich sie, Herr Dr. Siebert.“

Noch am gleichen Abend wurde Lia ins Elisabeth Hospital gebracht. Nach einer kurzen Begrüßung durch die diensthabende Behandlungscrew hielt es der Oberarzt für besser, wenn wir nun Lia alleine lassen würden, damit sie ein wenig zur Ruhe kommen könnte.
Der Tag sei aufregend genug gewesen. Man könnte Omi Lia am nächsten Tag besuchen kommen.

Das taten wir dann auch.

Am nächsten Morgen bat mich mein Vater, noch ein paar Sachen für Lia zusammenzupacken, da meine Mutter mit anderen Dingen beschäftigt war und ich mich in Lias Schlafzimmer am besten auskannte.
Ich öffnete also den großen alten Eichenkleiderschrank und steckte Nachthemden, Schlüpfer, warme Socken und alles was ich für nötig hielt in die bereitstehende Tasche.
Gerade als ich vier Handtücher herausnahm, fiel eine Tarotkarte und ein handgeschriebener Brief aus einem Wäschestapel.

Ich schaute mir eine Weile die Karte an.
Dort war eine junge Person in einem weißen Gewand mit einem Stab in der rechten Hand abgebildet. Sie stand vor einer Art Altar, auf dem ein Schwert, eine Münze und ein Kelch abgelegt waren.

Der Brief war von Lia verfasst worden. In ihm standen folgende Zeilen:

Du hast die Karte des Magiers vor dir liegen. Sie zeigt mein Schicksal an. Als mein Vater auf seinem Sterbebett lag, hielt er mir einen Stapel dieser Karten vor und forderte mich auf, eine auszuwählen. Er weihte mich damals in das Arkanum so ein, wie ich Dich heute auch einführen möchte.
Aber habe Geduld. Du wirst nicht alles sofort begreifen. Aber es wird dich insgesamt glücklicher machen.
Vor dem Magier liegen Schwert, Münze und Kelch. In der Hand hält er einen Stab.
Das sind die Symbole der vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser.
Über seinem Kopf schwebt die liegende Acht. Das ist das Zeichen der Unvergänglichkeit und der ewigen Wiederkehr.
Das Göttliche drückt sich in dem Menschen aus.
Du wirst Dich sicherlich fragen, was das alles bedeutet und ich sage es dir später. Ganz bestimmt. Nur soviel. Ich wusste, ohne das ich mich mit irgendjemanden abgesprochen hatte, dass Du meine Tasche packen wirst.

Unglaublich was ich dort las. Sie wusste, dass ich ihre Tasche packte.
Ich lief zu meinem Vater und fragte ihn, welcher fauler Zauber dahinter stecken würde.
Doch zu meiner Überraschung wusste er von alle dem nichts.

Als wir Lia dann an ihrem Krankenbett besuchten, stellten wir fest, dass es eisig kalt in ihrem Zimmer war.
Lia sah schlecht aus und ich fühlte, dass sie lieber zu Hause gewesen wäre.

„Die lassen hier das Fenster den ganzen Tag auf und nennen mich ständig Oma. Ich bin doch keine Allerweltsoma“, beschwerte sich Lia.

Nicht nur ich, sondern auch der Rest unserer versammelten Familie konnte gut nachfühlen, was in ihr vorging.

Daher wartete mein Vater keinen Augenblick länger und führte ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt, um sie wieder mit nach Hause zu nehmen.

„Ihrer Mutter geht es wirklich nicht gut.“

„Das kann es auch nicht, wenn jeder sie als Oma betitelt.“

„Ich mache sie darauf aufmerksam, dass sie eine Lungenentzündung hat.“

„Und dann lassen sie das Fenster in ihrem Zimmer geöffnet, so dass es eisig kalt in dem Zimmer wird?“

Der Entschluss meines Vaters stand fest. Lia sollte zu Hause betreut werden.
Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, packten wir sie gut in wollene Decken und brachten sie zurück in unser Haus.

In den folgenden Tagen wurde alles so eingerichtet, damit es einerseits dem Zweck dienlich und andererseits, was natürlich absoluten Vorrang hatte, Lias Gesundheit förderlich war.
Wir engagierten eine Krankenschwester, die in unserer Abwesenheit nach dem Rechten schaute.
Nach cirka zwei Wochen reichte mir Lia einen Brief, den ich im Postamt, bei Frau Naumann abgeben sollte. Frau Naumann war die Tochter von Lias bester Freundin und verdiente ihr Geld hinter dem Postschalter.
Ich tat was Lia mir auftrug, auch wenn es mir im ersten Moment unsinnig vorkam.

Dr. Siebert besuchte sie nun jeden Tag zwei Mal, weil ihr Verfall unaufhaltsam voranschritt.
Nach einem Besuch sagte er zu meinem Vater:

„Ich habe alles in meiner Macht stehende getan. Ihre Frau Mutter ist austherapiert.“

Kein Medikament der Welt konnten ihr mehr helfen hieß das im Klartext.

Am gleichen Abend hielt Lia meine Hand ganz fest, so dass mir etwas bange wurde und flüsterte:

„Ich habe heute auf die andere Seite geschaut. Dort stand der Heiland. Und er sagte mir, was ich dir auch gesagt habe. Fürchte Dich nicht, denn das Ende ist der Anfang. Und jeder Anfang ist der Beginn eines jeden Endes. Könnten frisch Geborene sprechen, so würden sie mich verstehen. Du bist vom Anfang bereits zu weit entfernt, als dass du Dich ans Ende erinnern könntest, um mich zu verstehen. Übrigens, das Du die Tasche packst, habe ich nur geraten, weil Du Dich bei mir so gut auskennst und Mama immer beschäftigt ist.“

Ich begriff kaum ein Wort von dem was sie sagte. Oder besser gesagt, ich wollte sie nicht verstehen. Ich wollte keinen Abschied nehmen von meiner lieben Omi Lia. Doch schienen ihre Gedanken so wirr zu sein, dass ich, selbst wenn ich es nicht wahr haben wollte, auch schon an ein baldiges Ende glaubte.

„Ich weiß schon ziemlich lange, dass ich heute von Dir Abschied nehmen muss. Aber ich weiß, wir sehen uns bald wieder“, sagte sie mit zitternder Stimme.

„Omi, das ist Unsinn. Du wirst bald wieder gesund sein“, belog ich mich selber.

„Ich werde nicht mehr gesund werden und ich will es auch gar nicht mehr. Irgendwann ist eine jede Zeit abgelaufen und ich warte auf den Tag meiner Abberufung in meines Vaters Haus. Erinnere Dich an die Tarotkarte. Sie zeigt Dir symbolisch den ewigen Kreislauf an. Nichts ist vergänglich. Manche Dinge verändern nur ihre Form.“

Mit diesen Worten verabschiedeten wir uns für die Nacht und ich ging mit schwer erfülltem Herz ins Bett.

Am nächsten Morgen kam mein Vater in mein Zimmer.

„Omi Lia ist von uns gegangen. Sie liegt so friedlich in ihrem Zimmer, als ob sie schläft.“
Indem er das sagte, konnte er seine Gefühle nicht länger verbergen. Tränen rannen über seine Wangenknochen, die er sich verschämt wegwischte.

Dann fragte er mich: „Hattest Du auch den Eindruck, als sei sie verwirrt gewesen? Ihre letzten Worte zu mir waren, Vater, du hast mich verlassen, jetzt verlasse ich dich. Auf ein baldiges Wiederseh´n.“

Merkwürdig, nicht wahr?

Ach ja, nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass ich am Tag der Geburt meines Sohnes von Frau Naumann einen leicht vergilbten Brief erhielt. Es war ein Glückwunschschreiben. Frau Naumann hatte es über drei Jahre aufbewahrt.
Seit dem habe ich keine Furcht mehr vor dem Ende, denn ich weiß jetzt ganz genau, ein jedes Ende ist ein neuer Anfang und nichts ist vergänglich.
Aber mehr verrate ich im Moment nicht –vielleicht später mal.

Hier hat sich ein Tippfehler eingeschlichen.

Es muß natürlich ARKANUM heißen - ohne i.

Trotzdem viel Spass

HSZ
Holger Szeglat, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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