Simone Alby

Auf gute Nachbarschaft

Während ich die Stufen des Treppenhauses hinunter ging, warf ich einen Blick auf die Uhr. Voller Euphorie hatte ich die Wohnung verlassen, ohne darüber nachzudenken, ob der Zeitpunkt für einen solchen Besuch überhaupt angebracht war. Es war mittlerweile nach 15:00 Uhr, und eigentlich sollte sich somit niemand gestört fühlen. Zumal der Vermieter mehrmals bestätigt hatte, dass weitgehend nur junge Fraktionen das Mietshaus bewohnen.

Nachdem meine direkten Nachbarn nicht zu Hause waren, wollte ich es mit denjenigen unter mir versuchen. Ich atmete noch einmal tief durch bevor ich klingelte, und versuchte mich dann auf die Geräusche hinter der Tür zu konzentrieren. Deutlich konnte ich hören, dass sich etwas tat. Ein wenig nervös trat ich von einem Bein auf das andere. Es war meine erste eigene Wohnung, und ich hatte noch nie in diesem Sinne mit neuen Nachbarn kommuniziert.

Als die Tür geöffnet wurde, ratterte ich schnell die Zeilen hinunter, die ich mir vorher zurecht gelegt hatte. Nicht dass ich mich verhaspelte, oder sie vor lauter Eifer noch vergessen würde.

"Guten Tag, ich bin Ihre neue Nachbarin, und wollte mich kurz vorstellen."

"Vivien?"

Verdutzt hielt ich inne.

"Ja, äh, woher wissen Sie das?"

Kaum hatte sich mein Blick vollends auf die Person vor mir gerichtet, verstand ich. Mein Herz begann zu rasen. Eine Hand gegen den Türpfosten gelehnt stand er dort. Nahezu fünf Jahre mussten es inzwischen sein, die wir uns nicht gesehen hatten.

"Hey!" Meine Stimme zitterte, allein schon bei diesem einen Wort.

"Komm doch erst mal rein." Einladend hielt er mir nun die Tür auf, und ich war dankbar dafür, denn mehr bekam ich nicht heraus.

Im Wohnzimmer deutete er mir an Platz zu nehmen.

"Ich mach uns mal schnell was zu trinken, ja?"

Anscheinend war er genauso überfordert mit der gegenwärtigen Situation wie ich. Mechanisch nickte ich, und sah ihm nach, wie er in der Küche verschwand. Als die dortigen Geräusche zu mir herüber drangen taute ich langsam wieder aus meiner Starre auf.

Neugierig sah ich mich um. Der Raum war groß und hell. Genau so, wie ich ihn aus meiner Wohnung kannte. Bloß dass es bei mir noch nicht annähernd so wohnlich war. Ein Umzug dauerte eben seine Zeit. Hier war alles so fremd, und doch so vertraut. Ich erkannte, dass sich nichts an seinem Sinn für schöne Dinge geändert hatte. Der Teppich, sowie die Vorhänge strahlten Wärme aus, und die Wohnung war allgemein geschmackvoll eingerichtet. Unweigerlich fühlte man sich wohl und begann sich zu entspannen.

Während ich den Blick ungeniert schweifen ließ, fiel mir ein wohlbekanntes Bild auf der Kommode neben dem Fenster auf. Mein Magen machte einen Hüpfer, und ich folgte dem Drang es aus der Nähe anzuschauen. Leise erhob ich mich und durchquerte das Zimmer. Wir beide waren auf dem Bild zu sehen. Es war per Selbstauslöser entstanden - an einem herrlichen Tag im Urlaub am Strand. Unsere Gesichter spiegelten vollkommene Zufriedenheit wider.

Ich erinnerte mich noch genau an diese Zeit. Dort waren wir mehr als nur glücklich gewesen - frei und losgelöst. Nichts und niemand hatte unser Glück stören können. Und vor allem sie schien dort unerreichbar fern. Sie, die uns das Leben buchstäblich zur Hölle gemacht hatte. Bis heute verstehe ich nicht, wie jemand so dermaßen krankhaft eifersüchtig sein kann. Aber daran wollte ich jetzt nicht meine Gedanken verschwenden. Allein die Tatsache, dass unser Foto hier gut sichtbar auf der Kommode stand, hatte doch zu bedeuten, dass... Weiter vermochte ich nicht zu denken.

Unvermeidlich fuhr meine Hand nach vorn, und meine Finger berührten den Rahmen. Sie strichen über das Holz, bis ich schließlich mit meinen Fingerspitzen sanft sein Gesicht berührte. Die Kälte des Glases drang vor lauter Aufregung gar nicht erst zu mir durch, und fast schon kam es mir so vor, als ob ich seine Haut direkt spüren würde.

"Wie du siehst... ich habe dich nicht vergessen."

Seine Worte ließen mich zusammenzucken. Ich fühlte mich ertappt, und trat schnell einen Schritt zurück. Fast wäre dadurch ein Unglück geschehen, und das Tablett, welches er trug, wäre auf den Boden gefallen. Doch eine schnelle Reaktion seinerseits rettete die Situation. Ein Glück.

Und da standen wir nun - mitten in seinem Wohnzimmer. Wir schauten uns in die Augen, und alles war vergessen. Es vergingen viele Sekunden, bis ich es schließlich war, die den Bann brach. Meine Beine begannen nachzugeben, und somit setzte ich mich wieder auf die Couch.

"Im Gegenteil..."

Seine geflüsterten Worte hörte ich sehr wohl, auch wenn er es vielleicht nicht bemerkte. Somit war meine Vermutung bestätigt.

"Erzähl, was machst du so?"

Nachdem er zwei Tassen Tee eingeschenkt hatte, setzte er sich mir gegenüber in den Sessel. Die folgende Stunde brachten wir damit zu, uns gegenseitig in Kurzfassung zu erzählen, was wir die vergangenen Jahre erlebt hatten. Ich hing an seinen Lippen während er mir von seiner Familie, seiner Arbeit und seinen Urlauben erzählte. Und auch ein sehr wichtiges Detail vergaß er nicht. Sie gab es nicht mehr. Zumindest nicht in seinem Leben.

Jahrelang war sie ihm nach ihrer Trennung hinterher gerannt, und hatte es letztendlich mit ihrer aufdringlichen Art doch geschafft unsere Beziehung auseinander zu bringen. Allein zu meinem Schutz hatten sich unsere Wege trennen müssen, auch wenn ich mich strickt dagegen hatte wehren wollen. Es konnte doch nicht angehen, dass man wegen so einer Person sein Leben ändern, und vor allem so viel aufgeben musste. Aber letztendlich war es das Beste gewesen, wenn auch schmerzlich. Wahre Liebe lässt los. Wer weiß, ob es nicht sonst in einem schlimmeren Desaster geendet wäre.

Wie sich nun heraus stellte, war es auch zurecht gewesen. Ihre Machenschaften hatten nicht aufgehört; er ständig als Spielball ihrer Intrigen. Bis, ja bis sie schließlich vor drei Monaten Hals über Kopf geheiratet hatte. Nun hatte sie anscheinend endlich das erreicht, worauf sie immer schon aus war. Endlich jemanden voll und ganz besitzen. Aber so wie es jetzt war, sollte es uns nur recht sein.

Ich habe ihn und unsere gemeinsame Zeit ebenfalls die ganzen Jahre über nicht vergessen. Und nun durch das abrupte Wiedersehen kamen augenblicklich alle weg gesperrten Gefühle wieder hoch. Er ist und bleibt mein Traummann. Ganz klar! Jetzt verstand ich, warum ich all die Jahre über nicht fähig gewesen war eine neue feste Beziehung aufzubauen. Ich hing einfach zu sehr an meiner ersten großen Liebe. Und nun war sie wieder in mein Leben getreten...

"So so, also bist du es, die mir fortan auf dem Kopf rumtanzen wird!?!"

Seine Worte rissen mich aus meinen Gedanken. Unweigerlich musste ich lächeln. Ja, er war ganz der Alte. So wie ich ihn kennen und lieben gelernt hatte.

"Wenn du es so nennen willst... ja!", antwortete ich und grinste ihn schelmisch an.

Auch er grinste und seine Augen funkelten bei folgenden Worten: "Na dann: Auf gute Nachbarschaft!"


© Simone A. (11/2003)

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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