Eileen schaute auf die große Uhr, die über ihr hing. Der kleine Zeiger
zeigte auf vier, der große auf neun. Sie hatte in der letzten dreiviertel
Stunde unzählige Male draufgeschaut, die Zeit schien sich wie Kaugummi
zuziehen. Ihr kleiner Bruder kam immer zu spät, aber nun wartete sie schon
viel zu lange an diesem eisig kalten Tag in der trostlosen Bahnhofshalle.
Ihre Geduld war am Ende und in ihren Gedanken legte sie sich schon zurecht,
was sie ihm alles an den Kopf werfen würde. Sie ärgerte sich über sich
selbst, hatte sie doch gar nicht fahren wollen, zu schlecht war ihre
Beziehung geworden, seit sie ihm eine große Summe Geld geliehen hatte. Im
letzten Jahr hatten sie sich deswegen nur einmal gesehen, hatte er ihr das
Geld doch gleich zurück zahlen wollen, nun wartete sie schon zwei Jahre
darauf. Das Treffen dieses Wochenende sollte die Ausnahme sein und jetzt
bereute sie es. Die große Uhr hatte jetzt fünf mal geschlagen und ihr
Entschluss stand fest, sie würde den nächsten Zug zurück nehmen, dann würde
sie es noch rechtzeitig schaffen, um mit ihren Freunden ins Kino zu gehen.
Sie nahm ihr Tasche und ging in Richtung Gleise, da wo sie eine Stunde zuvor
hergekommen war. Der Zug stand laut rasselnd auf dem Gleis und ihr kam es so
vor, als hätte er nur auf sie gewartet, den kaum war sie eingestiegen,
setzte er sich auch schon in Bewegung. Sie suchte sich einen Platz am
Fenster und wählte Eriks Nummer. Schon wieder diese blöde Mailbox, dachte
sie. Sie hinterließ eine knappe Nachricht, in der sie ihm mitteilte, dass
sie wieder nach Hause gefahren sei und bedankte sich für ihre eingefrorenen
Hände. Die Rückfahrt ging schneller, denn die Wut in ihrem Bauch, lenkte sie
etwas ab. Als sie eineinhalb Stunden später ihre Wohnungstür aufschloss,
blinkte ihr schon das rote Licht ihres Anrufbeantworters in der Dunkelheit
entgegen. Erik, dachte sie, zu feige sie auf dem Handy anzurufen, er hätte
doch wissen müssen, dass sie noch nicht zu Hause sein konnte. Sie warf ihr
Tasche aufs Sofa, drückte auf Wiedergabe und gin!
g ins Ba
d. Doch es war nicht Eriks Stimme, die aus dem Anrufbeantworter ertönte,
sondern die ihrer Mutter. Sie bad um einen schnellen Rückruf. Genervt ging
sie zurück in den Flur, wo das Telefon stand und wählte die Nummer ihrer
Mutter. Als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, fühlte sie, dass etwas nicht
in Ordnung war. Die Stimme klang weinerlich und belegt. Ihre Mutter weinte
oft, wegen vielen Sachen, vor allem wegen Eileens Vater, aber das klang
immer anders.
„Er hatte einen Unfall!“ sagte ihre Mutter kaum hörbar. „Wer?“ erwiderte
Eileen. „Dein Bruder, er hatte einen Autounfall....!“ Dann erstickte ihre
Stimme und man konnte nur noch ein lautes Wimmern vernehmen. Eileen wurde
schlecht, alles drehte sich, sie ließ den Hörer fallen und verlor den Boden
unter ihren Füßen. Alles fühlte sich taub an und das Herz in ihrer Brust
raste so schnell, dass es zu zerspringen drohte.
Zwei Stunden später fand sie sich im Krankenhaus wieder, ohne zu wissen, wie
sie dahin gekommen war. Sie hatten ihr mitgeteilt, dass er gegen vier Uhr
die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte, als er viel zu schnell auf
der glatten Fahrbahn gefahren sei. Sein Todeskampf hatte nur 1 Stunde
gedauert, um fünf Uhr hatte sein Herz aufgehört zu schlagen und die Ärzte
ihre Wiederbelebungsmaßnahmen aufgegeben. Nun saß sie mit dem Umschlag, der
im Auto gefunden worden war und ihren Namen trug auf einem Stuhl im
Wartezimmer. Sie starrte unentwegt ihren Namen an und konnte die Buchstaben
doch nicht wirklich entziffern. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sie
den Umschlag. Sie zog eine Karte heraus, auf der in Großbuchstaben „Danke“
stand. Beim öffnen vielen ein paar Hunderter raus, aber Eileen schenkte dem
keine Beachtung. Sie atmete tief durch und begann zu lesen: „ Danke
Schwesterherz, hier das Geld, was du mir geliehen hast. Du warst die
einzige, die immer an mich geglaubt hat und ich hoffe ich kann dir auch zur
Seite stehen, wenn du meine Hilfe brauchst! Ich werde immer für dich da
sein! Ich hab dich lieb!“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.02.2010.
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von Sabine Diebenbusch
"Ausgeträumt." - Tagebucheinträge von 1978 bis 2002. Das sind Gedichte vom Chaos der Gefühle, von Wünschen, die nicht wahr werden, und von der Einsicht, dass es besser ist, unsanft aufzuwachen, als immer nur zu träumen...
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