Patrick Schön

Dämmerung im Haus auf dem Hügel

 

Troy Hanks grüßte die Kassierin nicht als er reinkam und er brauchte nicht lange, bis er sich entschieden hatte. Er wusste wohl schon von Anfang an, was er wollte.

Es war ein kleiner Laden am Rande des Dorfs. Die Anwohner waren fast alle Farmer, mit Ausnahme des Tischlers und der Stadtverwaltung, die allerdings selten etwas wirklich wichtiges zu tun hatte. Einige andere Bürger versuchten sich in ähnlichen Berufen, doch im Grunde versorgte sich das Dorf durch die eigenen Farmer selbst. Es war eben ein kleines Dorf, indem jeder jeden kannte.

Die große Depression, welche 1929 begonnen hatte traf auch die einfach gestrickten Farmer und Armut brach über viele hinein.

Cassie Jones führte den Laden seit einigen Jahren. Sie war inzwischen fünfzig Jahre alt, versuchte jedoch vielen Leuten weißzumachen, sie sei erst vierzig.

Sie gehörte zu den Frauen, die gerne und lange Gespräche führten, weshalb ein Einkauf in ihrem Laden meistens eine kleine Ewigkeit dauerte. Die meisten waren darüber jedoch erfreut, denn Mrs Jones war die einzige Person des Dorfs, die stets gute Laune hatte und sich diese von nichts zerstören lassen wollte, dabei hätte sie auch Grund zum jammern gehabt.

Die Anrede »Mrs« Jones verwendeten die Bürger wirklich aus Respekt und Rücksicht, denn sie war eine alte Jungfer, die nie verheiratet gewesen war, obwohl sie bei Gott alles versucht hatte, sich einen Mann zu angeln.

Sie lebte allein in einem Schuppen hinter dem Laden und hatte diesen übernommen, als ihr geliebter Vater an einem Herzanfall gestorben war. Ihre Mutter war schon mit achtundzwanzig an einer seltenen Krankheit gestorben.

Das Dorf hatte keine eigene Metzgerei, weshalb Cassie den Farmen anbot, Fleisch und andere Produkte in ihrem Laden zu verkaufen, ohne etwas von dem Gewinn zu behalten.

Diese Großzügigkeit sorgte dafür, dass sie sehr beliebt war.

Man dürfte schon fast sagen, dass Cassies Laden das wichtigste Gebäude im Dorf war und er hätte sicher als Zentrum gegolten, wenn er nicht am Rande gestanden hätte.

Troy Hanks kaufte acht Patronen. Er hatte nicht viel Geld bei sich und kratzte das ganze mit Mühen zusammen. Cassie wusste, was er vorhatte. »Gehen Sie wieder jagen, Mr Hanks?«

Er gab keine Antwort und schien in Gedanken zu hängen. »Lloyd ging vor kurzem auch im Wald jagen, damit sie etwas zu essen hatten. Wer hätte gedacht, dass diese Wirtschaftskrise auch uns einholt.« Cassie versuchte ironisch zu klingen, doch sie war der Meinung, dass ihr dies nicht gelungen war. Troy Hanks gab keine Antwort und verließ den Laden mit einem dürftigen »Danke« auf den Lippen.

Als er ging trat Lloyd Vallon in den Laden ein. »Wenn man vom Teufel spricht!«, entglitt es ihr freundlich.

Lloyd hatte ein kleines Grinsen im Gesischt und er stellte einen Korb auf die Theke.

»Die haben sie heute morgen gelegt«, sagte er fröhlich, »es sind elf Eier.«

Cassie blickte in den Korb und betrachtete die elf Eier. »Sie sehen gut aus. Was macht der Rest?«

»Ich glaube, jetzt wird’s langsam wieder besser, obwohl der Winter bald vor der Tür steht.«

»Wie geht’s den Kindern?«

»Sie haben alle Hunger, doch sie halten es aus.«

»Wie geht’s Hannah?«

»Sie klagt nicht, aber das tut sie ja nie.«

Die Tatsache, dass es allen Farmen schlecht ging war im ganzen Dorf bekannt und selbst der, dem es noch verhältensmäßig recht gut ging, nagte am Tischtuch. Außerdem halfen sich die Farmer gegenseitig.

Lloyd nahm diese Kriese besonders stark mit. Seine drei Söhne und die zwei Töchter mussten auf der Farm helfen, wo es nur ging, damit es einigermaßen rundlief.

Einige seiner Plantagen (die früher mal recht groß gewesen waren) gaben nur Missernten wieder und viel Vieh von ihm war krank geworden und gestorben, teilweise weil er kein Geld mehr für Futter hatte.

Vielen seiner Nachbarn ging es genauso und als nichts mehr gelaufen war, hatte sich Lloyd mit seinem letzten Geld einige Patronen gekauft und hatte im Wald ein Reh erlegt.

Wie ein zehnjähriger Junge war er mit dem toten Tier nach Hause geeilt und es stolz präsentiert.

Der Wald war groß und dicht bewachsen. Viele Anwohner nannten ihn den schönsten Ort des Dorfs, womit sie auch recht hatten. Es gab viel Leben dort, doch in der Regel ging keiner der Bürger auf die Jagd. Sie hielten es schon fast für ein Sakrileg, welches sich gegen die Schönheit und den Stolz des Dorfs richtete, aber als die Geschichte von Lloyd Vallon und dem Reh bekannt wurde, konnten alle Anwohner sein Handeln verstehen und nachvollziehen, auch wenn es ihm bis dahin noch keiner nachgemacht hatte.

Cassie schenkte Lloyd ein Lächeln, da sich dieser ungeheuer über diese elf Eier freute und sie freute sich mit ihm, da ihr fiel an den Bürgern lag. Die ganze Bürgerschaft wirkte für Cassie wie eine große Familie und wenn einer Glück hatte, betraf dies bis zu einem gewissen Punkt alle.

»Was sagt Hannah dazu?«, fragte sie ihn und Lloyd grinste, als er an seine Frau dachte.

»Sie sagte, dass sie sich rießig erschreckt habe, als sie mich so laut rufen hat hören. Du hättest sehen müssen, wie sie gestrahlt hat. Sie hofft wohl, dass es jetzt besser wird.«

»Das hoffen doch alle.«, gab Cassie nachdenklich von sich, woraufhin Lloyd nickte.

»Das hoffen alle, hoffentlich kommt es auch so.«

Sie blickten danach beide in Gedanken vertieft aus dem Schaufenster auf die Straße.

In der Ferne sah man Troy Hanks, der die Straße zu seinem kleinen Farmerhaus hochging.

»Weißt du, was mit Troy los ist?«, fragte Cassie, als sie bemerkte, dass Lloyd ihn auch gesehen hatte.

»Was soll den mit ihm sein?«

»Er hat sich heute so komisch verhalten. Hat kaum ein Wort gesagt. Hat es ihn auch so schlimm erwischt?«

»Da weiß ich nichts konkretes. Nur was man mir erzählt hat.«

»Und Lloyd? Was hat man dir erzählt?«

Er seufzte laut und lehnte sich mit seinem rechten Arm auf die Theke. »Boots sagte mir, dass er vor zwei Tagen bei ihm war und seine sechs Kinder einfach nur in den Ecken gesessen haben und nichts gesagt haben. Boots meint, sie haben so elend ausgesehen, dass es ihm einen Schauer über den Rücken lief. So ähnlich war es auch mit Troys Frau. Julie hat sich laut Boots Mühe gegeben ein wenig fröhlih zu wirken, doch er sah ihr deutlich an, wie schlecht es ihr ging. Es ging ihnen allen schlecht. Oh, Gott, Troys Kinder waren so hungrig, dass sie sogar vergessen haben wie man lacht, spricht oder weint. Ja, selbst weinen konnten sie nicht mehr.«

»Arme Kinder.«, entglitt es Cassie.

»Julie ging es genauso und auch Troy war nicht sonderlich bei Kräften. Boots sagte mir, er habe gesehen, dass er nicht einmal einen einfachen Heuballen richtig heben konnte, so wenig Kraft hat der arme Kerl.«

Die Tür ging auf und Betsy Winfried trat mit ihrer neunjährigen Tochter ein. »Guten Morgen.«, grüßte sie und ging zur Theke.

»Hast du etwas Tinte für mich?«, fragte Betsy freundlich, »ich würde gerne meinen Eltern schreiben. Vielleicht könnten sie uns etwas aushelfen. Mit Geld und so.«

Betsy Winfried hielt es für unnötig zu erwähnen, dass auch sie von der Krise betroffen war. Sie nahm an, dass war jeder.

»Ja«, antwortete ihr Cassie, »aber nicht viel. Soll es ein langer Brief werden?«

»Wie viel hast du denn?«

Cassie zeigte ihr ein kleines Fässlein Tinte, welches nur noch zur Hälfe voll war.

»Ich denke, das reicht mir.«

Betsy musterte Lloyd aufmerksam und erblickte erst danach die elf Eier im Korb auf der Theke.

»Lloyd«, fuhr sie entzückt auf, »haben die deine Hühner gelegt?«

»Ich kann das guten Gewissens bestätigen. Du hättest sehen müssen, wie sich Hannah gefreut hat.«

Anschließend zahlte Betsy den kleinen Betrag, welchen Cassie von ihr für die Tinte verlangte.

»Worüber habt ihr denn gesprochen?«

»Über Troy Hanks.«, gab Cassie von sich.

»Der arme Troy«, sprach Betsy und wischte dabei ihrer Tochter mit dem Taschentuch den Mund ab, »ich habe vorhin mit Vince über ihn geredet.«

Die Neugier war geweckt und unverzüglich wollten Lloyd und Cassie wissen, was dieser zu sagen gehabt hatte.

»Vince sagte mir«, begann Betsy, »dass Troys Schweine an irgendeiner Scheuche gestorben sind.«

»Wie viele?«, drängte Lloyd, woraufhin sie mit den Achseln zuckte.

»Weiß nicht, ich denke alle.«

»Alle?«

»Ja, alle. Seine Hühner legen auch keine Eier mehr.«

»Der arme Troy«, sprach Cassie von sich, »hoffentlich sind seine Kühe noch wohlauf.«

»Tot oder trocken«, erwiderte Lloyd, »Boots sagte mir, dass die Kühe keine Milch mehr geben und einige sind auch gestorben.«

»Vielleicht war es die selbe Scheuche, die die Schweine dahingerafft hat.«, bemerkte Betsy, ehe alle in ein kurzes Schweigen verfielen.

Sie starrten alle aus dem Fenster auf das Anwesen von Troy Hanks, welches sich entwürdigt auf dem Hügel den anderen Anwohnern zeigte.

Betsys Tochter quengelte. »Wann gehen wir wieder nach Hause?«

»Gleich, Liebste. Mama will sich nur noch kurz unterhalten, einverstanden?«

»Ja, okay.«

Lloyd hustete auf. »Dann würd' ich sagen, dass es keinen schlimmer getroffen hat als Troy. Ich meine, der Mann hat ja förmlich gar nichts mehr, außer eine Frau und sechs Kinder, die er nicht ernähren kann.«

»Kann man ihm nicht irgendwie helfen?«, fragte Betsy, doch Lloyd reagierte anders, als sie erwartet hatte. »Wie denn? Wir haben doch selbst alle kaum etwas. Glaub mir, Betsy, ich würde gerne jedem helfen, dem es noch schlechter geht als mir, doch Fakt ist, dass jeder gerade noch so viel hat, um seine eigene Familie vor dem Hungertod zu bewahren.«

»Heißt das, dass Troy Hanks und seine Familie jetzt sterben werden?«, sagte Cassie, doch Lloyd wollte seine Aussage sofort korrigieren.

»Das habe ich nicht gesagt! Ich meinte lediglich, dass alle wenig zu essen haben und Troy irgendwie alleine dasteht.«

»Und was macht er jetzt?«. Mit diesen Worten hatte sich Betsy zurück gemeldet.

»Nun, er hat Patronen vorhin gekauft«, antwortete Cassie, »er wird wohl jagen gehen.«

»Komisch«, sprach Lloyd, »das ist komisch.«

»Was ist daran so 'komisch', Lloyd? Du warst es doch, der als erster zur Flinte griff und in den Wald spazierte.«, erwiderte ihm Cassie, doch Lloyd wandte sich ab und blickte auf das kleine Haus von Troy Hanks.

»Das meine ich nicht«, sagte er trocken, »Troy Hanks ist noch nie jagen gegangen und offen gesagt weiß er sicherlich gar nicht, wo sich das ganze Wild im Wald befindet. Es ist ja nicht so, dass es einem entgegen kommt, wenn man in den Wald geht. Er hätte doch sicher um Hilfe gebeten.«

»Vielleicht ist es ihm peinlich.«, vermutete Betsy.

»Was sollte ihm den peinlich sein? Wir sind doch alle am Ende.«, entgegnete Lloyd.

Erneut starrten alle auf das Haus von Troy Hanks.

»Boots sagte, seine Kinder seien so hungrig gewesen, dass sie weder lachen, noch sprechen, noch weinen konnten. Wie schlimm muss es denn ihnen ergehen, dass man dies so gut aus einem Gesicht ablesen kann?«

Lloyds Worte durchbrachen die unheimliche Stille. Keiner konnte seinen Blick von dem Haus auf dem Hügel abwenden.

»Vielleicht«, murmelte Cassie für alle hörbar, »fragt er bei Boots um Hilfe. Das wäre doch denkbar, oder nicht?«

»Boots ist heute nicht im Dorf. Er ist im Nachbarsdorf.«

Wieder durchzog die Stille den Laden. Vor dem Haus spielten die zwei Töchter von Troy.

»Sie lachen ja gar nicht«, bemerkte Betsy, »sie fangen sich nur und rennen von einander weg.«

»Sie vertreiben sich nur die Zeit.«, sagte Lloyd und in diesem Moment tauchte Troy vor dem Haus auf. Er brachte die Kinder ins Haus und schloss die Tür.

»Er will wahrscheinlich nur nicht, dass sie sich erkälten. Ich meine, kranke Kinder braucht wohl keiner in diesen Zeiten.«, meinte Cassie, wobei ihre Stimme unglaublich zitterte und nervös klang.

»Ja, das wird’s wohl sein.«, sprach Lloyd. Die Zeit verging und sie starrten zu viert aus dem Fenster auf das Haus auf dem Hügel, während sich die Dämmerung näherte.

Sie sprachen kein Wort mehr und auch hier Atmen war ungeheuer leise.

Nachdem es geschehen war verließen Betsy Winfried und ihre Tochter den Laden. Das kleine Mädchen war zu klein um verstanden zu haben, was geschehen war und die drei Erwachsenen wollten es ihr nicht erklären, da es ihr nur Angst gemacht hätte, jedesmal, wenn ihre Eltern verzweifelt waren, weil es immer schlimmer wurde.

Lloyd Vallon verließ den Laden ebenfalls kurz danach, woraufhin Cassie Jones ihr Geschäft schloss, da es langsam Zeit wurde.

Sie alle blickten immer wieder auf das Haus am Hügel und auf die Menschenmenge, die sich dort langsam versammelte, um die Tragödie zu begreifen.

 

ENDE


 

 

 

Diese Kurz-Geschichte spielt in einer bekannten Zeit. Derzeit befinden wir uns wieder in einer Wirtschaftskrise, welche die ganze Welt umfasst, doch das ganze ist nicht so schlimm wie in den 20er und 30er Jahren.

Das ist die erste Rohfassung.
Patrick Schön, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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