Stephan Lill

Planet Cinea

 

"Unseren Wissenschaftlern ist es gelungen, einen weiteren Planeten einzubeziehen in unser Kino-Programm."

"Was ist das für ein Planet? Hoffentlich nicht wieder solche Langweiler."

"Ich habe die ersten Zusammenschnitte gesehen des Filmmaterials.
Es scheint, wir sind auf eine Goldgrube gestoßen.
Die Bewohner verfügen über genügend Intelligenz, um uns für Jahrtausende ein gutes Schauspiel bieten zu können.
Sie selber nennen ihren Planeten Erde."

Chadowa schwebte unruhig vor der Kinoleinwand.

"Unser Überleben hängt davon ab, dass wir uns nicht langweilen.
Wir können ewig leben - nichts bringt uns um. Wir haben die Krankheiten besiegt, die uns besiegen wollten.
Nur einen Todfeind haben wir: die Langeweile. Wir, auf dem Planeten Cinea, dürfen uns von dieser einen Schwäche nicht besiegen lassen.
Bis jetzt können wir die steigende Anzahl von Todesfällen geheim halten. Doch die Langeweile ist die stärkste Seuche.
Stärker als alle körperlichen Seuchen. Sie greift unsere Psyche an, nistet sich dort ein und breitet sich rasend schnell aus.
Sie lähmt die Psyche. Doch unsere Psyche ist es, die uns leben lässt - die unserem Körper gebietet und ihn am Leben erhält.
Wir brauchen das Schauspiel. Die Abwechslung, das Neue.
Begrüßen wir den Planeten Erde als neuen Sender für spannende, amüsante, vielleicht sogar lehrreiche Unterhaltung.
Das Schauspiel geht weiter."

Meskani schwebte aus seinem Kinosessel.

"Ich bin dankbar dafür. Gute Unterhaltung ist unsere Medizin. Aber wird die Erde uns retten?
Wir sind Süchtige, die eine immer stärkere, größere Dosis brauchen.
Und das wirklich Neue und Spektakuläre ist rar. Besonders für uns, die wir viel gesehen haben.
Wann werden wir alles gesehen haben? Das Geld, was wir ausgeben, um neue Planeten ausfindig zu machen,
sollten wir lieber verwenden um herauszufinden, was mit uns nicht stimmt. Wieso können wir die Langeweile nicht ertragen?"

Zorgaran schwebte unruhig über den Kinosesseln.

"Könnten wir nicht mit der Vorführung beginnen? Mir ist langweilig."

Einige Cineaner klickten zustimmend. Chadowa blickte zum Filmvorführer.

"Sicherlich. Doch was ihr nun zu sehen bekommt, ist Rohmaterial. Noch nicht sortiert."

"Ich liebe das Natürliche. Für meinen Geschmack mischen sich die Regisseure zu viel ein.
Ihre Sichtweise, ihre Interpretation - das stülpen sie dem Filmmaterial auf. Deren Ansichten kenne ich.
Die langweilen mich. Die Regisseure sollen sich raushalten!"

"Wir haben die Übertragungsqualität verbessert. Sämtliche Erdbewohner sind kontaktiert.
Wir können uns die Erde ansehen aus den Augen von jedem beliebigen Erdbewohner."

Die Cineaner klickten Beifall.

"Meskani, du sagtest, dass du unseren Weg als Sackgasse empfindest.
Ja, unser Weg wird enden, wenn wir den letzten Planeten erreicht haben, auf dem es unterhaltsame Bewohner gibt.
Wir sind abhängig von diesen kurzlebigen Wesen. In ihnen steckt das Gegengift zu der todbringenden Langeweile: sie sind kurzweilig.
Wir zehren von ihrem Enthusiasmus, ihrer kindlichen Freude am Neuen. Die Zeit zerstört ihnen nicht ihre Illusion.
Wir langlebigen Wesen sind der Langeweile schutzlos ausgeliefert - uns schützt keine Illusion."

Zorgaran schwebte in die Höhe.

"Schaltet diesen Film ein! Ich langweile mich zu Tode. Ich war seit drei Tagen nicht im Kino.
Ich wollte loskommen davon - nicht mehr abhängig sein von neuen Bildern, dem Unerwarteten, auf eine Überraschung lauernd.
Von diesen Impulsen zehrt und lebt mein Gehirn, sehnt sich danach. Es ist am Verhungern."

Zorgaran sackte zu Boden. Meskani beugte sich über Zorgaran.

"Zorgaran ist tot. - Das Leben ist ein großes Kino. Doch ist es groß genug für uns?
Wenn wir das Universum verzweifelt durchwühlen nach brauchbarer Unterhaltung und auf keinem Planeten mehr fündig werden -
wenn wir dass Universum leergesogen haben, dann wird uns der Durst nach dem belebenden Neuen umbringen."

"Ach Meskani, sei nicht so pessimistisch. Freue dich auf die Erdbewohner und ihr lustiges Leben. Ich habe die Vorschau gesehen.
Die Erdbewohner sind voller Unternehmungsgeist; Abenteuerlust steckt denen im Wesen, sie drängen vorwärts in die Welt hinaus und haben Mut.
Wenn einer von uns das Verbrechen begehen sollte, sie zu desillusionieren, dann tötet er damit wahrscheinlich uns alle.
Denn eine Alternative zu den Erdbewohnern haben wir momentan nicht. Von deren Unterhaltungswert hängt es ab, ob wir überleben.
Hoffen wir, dass sie so amüsant bleiben, so beglückend hoffnungsfreudig. Es steht in den Sternen, wann wir wieder einen geeigneten Planeten finden."

Zwei Cineaner schwebten mit Zorgaran hinaus.

"Wir fliehen vor unserem Gegner, der Langeweile. Statt dass wir unseren Gegner erforschen, seine Schwächen ausspähen, fliehen wir in die Kinosäle.
Wo steckt der Stachel der Langeweile? Ich will ihn herausreißen."

"Du wirst enden wie Zorgaran. Die Langeweile ist ein zu mächtiger Gegner. Denn ihre Verbündete ist die Zeit."

"Ich werde die Zeit vertreiben."

"Früher hatten wir Auswahl an Zeitvertreib. Die Langeweile hat uns fast alles genommen."

Der Filmvorführer fragte von oben:

"Meinst du, Gott hat auch ein Problem mit der Langeweile? Er ist ewig; noch ewiger als wir. Meinst du, ihn hat die Langeweile inzwischen getötet?"

Chadowa schwebte zu dem Filmvorführer.

"Gott ist wie du - Gott ist der Filmvorführer. Sein Trick ist: er zeigt grundsätzlich nur die Kinofilme, die ihn interessieren."



ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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