Christiane Mielck-Retzdorff

Der geheime Gang

 

 

Dunkel und bedrohlich erhob sich das alte Gemäuer auf einem Felsen über dem kleinen Fischerdorf und Jule konnte sich genau erinnern, wie sich aufgrund dieses Anblicks bei ihrem ersten Besuch ein Kloß in ihrem Hals gebildet hatte. Sie hatte mit den Tränen gerungen, während ihre Mutter Worte der Begeisterung hervorsprudelte und ihr Vater mit dem Auto wacker den serpentinenförmigen Schotterweg erklomm.

 

Jules Eltern waren durch und durch Akademiker, Theoretiker des Lebens, ausgestattet mit Mengen an Wissen, Verständnis und Toleranz, aber ohne eine Ahnung davon, was die Vorstellungen und Wünsche eines Teenagers anging. Doch gleichzeitig waren beide so voller Liebe, Güte und Großzügigkeit, dass Jule sich außer Stande sah, ihren idealistischen Ideen zu widersprechen.

 

An diesem fernen Ort in Schottland sollte die Familie nun Ruhe und Besinnung finden, ungetrübt von den Ablenkungen des modernen Lebens wie Fernsehen, Computer und Telefon, dafür aber ausgestattet mit Werken der Weltliteratur, Ferngläsern und Wanderschuhen.

 

Das Gebäude war in früheren Zeiten die Wehrburg der Fischer gewesen, von wo aus sie sich und ihr Habe gegen Eindringlinge verteidigen konnten. Später war es verfallen, bis ein exzentrischer, britischer Lord es als Liebesnest entdeckte und es mit Strom,  Küche und Sanitäranlagen ausstattete. Nun wurde es nur noch gelegentlich an Touristen vermietet.

 

Trat man durch die massive Eichentür, versöhnte eine geschmackvolle, antike Einrichtung mit dem kargen äußeren Bild. Luxuriöse Tapeten, schwere Samtvorhänge, mit Jagdszenen bestickte Kissen und weiche Sessel und Sofas erzeugten eine hochherrschaftliche, aber auch gemütliche Atmosphäre. Dazu kamen großzügige Betten mit Baldachinen und kuschelige Sitzecken, die zum Lesen einluden. Sogar ein Flügel prunkte in der Mitte des Wohnzimmers, auf dem Jules Mutter abends die Stille mit lieblichen, klassischen Melodien zerstreute.

 

Jules Mißstimmung blieb damals nicht unbemerkt und so versuchten ihre Eltern sie für diesen Ort einzunehmen, in dem sie ihr das Turmzimmer als persönlichen Raum anboten. Von dort hatte man eine ungestörte Aussicht auf die Nordsee, die am Horizont dümpelnden Fischerboote und den weiten Himmel.

 

Während Jule dieses Zimmer bezog, dachte sie voller Neid ein ihre Schulkameradinnen, die die Sommerferien am Strand im Süden verbrachten oder wenigstens in der Nähe einer Stadt mit ihren Vergnügungen. Bei ihrem ersten Besuch in Schottland war Jule gerade 15 Jahre alt und hatte, entgegen der Ambitionen ihrer Eltern, durchaus Interesse an den oberflächlichen Beschäftigungen, denen Teenager üblicherweise nachgingen.

 

Und je mehr sie darüber nachgedacht hatte, desto wütender war Jule damals geworden. Sie wollte auch in der Sonne liegen, im Bikini zum ersten Mal die Reize ihrer erwachenden Fraulichkeit ausprobieren, Eis essen und rumalbern. Statt dessen starrte das steinerne Mauerwerk ihres Zimmers sie an, als wolle es sie in einer längst vergangenen Zeit gefangen nehmen.

 

In ihrer brennenden Unzufriedenheit begann sie mit den Fäusten gegen die Steine zu hämmern. Doch plötzlich gaben diese nach, ein Tor öffnete sich und gab einen dunklen Gang frei. Von jugendlicher Neugierde getrieben, schritt Jule hinein in die Finsternis und schon schloß sich die Mauer lautlos wieder. Es umgab sie nur noch Schwärze. Die unwirkliche Situation drang nur langsam in Jules Bewußtsein, doch dann bemächtigte sich Verzweiflung ihrer. Gefangen an einem Ort, zu dem weder Licht noch Geräusche drangen hinter Mauern, die dick genug waren, Kanonen abzuwehren. Niemand wußte, wo sie war.

 

Jule drehte sich zurück, dorthin wo sie den Eingang vermutete, und  schlug wild gegen die Wand. Nichts rührte sich. Schließlich versuchte sie, so wie es ihre Eltern sie gelehrt hatten, ihre Ruhe zurückzugewinnen und ihren Verstand zu gebrauchen. Auf welche Art hatte sie in dem Zimmer gegen die Steine geschlagen? Jule versuchte sich zu erinnern. Zu Beginn hatte sie beide Fäuste genommen und gleichzeitig zweimal gegen die Wand prallen lassen. Doch das führte zu keinem Erfolg. Sie hatte noch weiter gemacht, zweimal mit der rechten und einmal mit der linken Faust. Sie versuchte diese Kombination erst allein und dann in Verbindung mit der ersten. Dabei durfte sie nicht hektisch werden. Es kostete Jule beinahe übermenschliche Anstrengung, ihre Bewegungen zu kontrollieren und sich nicht der aufkeimenden Panik zu ergeben. Dann, so leise und überraschend wie beim ersten Mal, glitten die Steine beiseite und gaben den Blick auf das von der Abendsonne durchflutete Turmzimmer und auf das Meer frei.

 

Jule wußte damals nicht, was sie davon abgehalten hatte, ihren Eltern von dem Erlebnis und der geheimen Tür zu erzählen. Statt dessen erklärte sie ihre geschundenen Hände mit einem Sturz. An jenem Abend kaum wieder allein in ihrem Zimmer, war es Jule, als würde die Tür sie rufen. Sie konnte diesem Drängen nur entgehen, in dem sie beschloß, den Mechanismus am nächsten Tag noch einmal zu versuchen, aber diesmal mit Bedacht.

 

Es war Jules Gabe des logischen und vernünftigen Denkens zu verdanken, dass sie bald erkannte, wo und wie sie ihre Fäuste einsetzen mußte, um die Tür zu öffnen. Nun forderte ihr Forschungsdrang sie auf, mit einer Taschenlampe bewaffnet den Gang dahinter zu ergründen. Nach nur wenigen Schritten führten schmale, steinerne Stufen, einer Wendeltreppe gleich, nach unten. Es war ein langer, unsicherer Weg gesäumt von Felsgestein, der wieder an einer Mauer endete. Doch auch diese öffnete sich auf das gleiche Zeichen.

 

Jule war im hinteren Teil einer Höhle angekommen, die offensichtlich den Fischern als Lagerraum für Kisten, Netze und allerlei anderen Bedarf diente. Sie schlängelte sich vorsichtig hindurch, umnebelt von einem allgegenwärtigen Gestank. Plötzlich gewahrte sie eine Gestalt. Ein junger Mann saß im Halbschatten der Mittagssonne und flickte ein Fischernetz. Sein Oberkörper war nackt und die Haut, die sich über prallen Muskeln spannte, strahlte in samtenen Braun. Der Wind spielte mit einigen seiner dunklen Haarsträhnen, während die Finger seiner kräftigen, von harter Arbeit gefurchten Hände geschmeidig an dem Netz webten.

 

Nichts ließ darauf schließen, dass der Mann Jule bemerkt hatte und sie wagte nicht, sich zu rühren, weil sie befürchtete, das Bild, das ihr Herz auf unbekannte Weise zum Schwingen brachte, könnte gestört werden. Da ertönte seine Stimme und er lud sie ein sich zu setzen und einen Kaffee mit ihm zu trinken.

 

Sein Name war Malcolm und der Gang blieb Jules und sein Geheimnis. Noch in diesem ersten Jahr verbrachten sie viel Zeit miteinander. Da Malcolm nur Schottisch und wenig Englisch sprach, war eine Unterhaltung schwierig, doch ihre Verständigung bedurfte keiner Worte. Sie ahnten die Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte des anderen. Ein Blick, eine Berührung genügte, um ihre Seelen zu verbinden.

 

Malcolm behandelte Jule wie eine zarte Blume, voller Rücksicht und Bewunderung. Das junge Mädchen hingegen war oft verwirrt, ob ihrer aufkeimenden Gefühle und Begierden. Der Kuß, den Malcolm ihr im ersten Jahr zum Abschied auf die Lippen hauchte, blieb Jule so unauslöschlich im Gedächtnis, dass kein anderer Junge je eine Chance bekam, von ihr wahrgenommen zu werden.

 

Ihr Schulfreundinnen begriffen Jules prüdes Gehabe gegenüber dem anderen Geschlecht nicht, und sie wurde sogar zu ihrem Gespött. Doch etwas in Jule war gebunden. Manchmal hörte sie im Traum die Steine rufen und sie lief die winkligen Stufen hinunter, wo sich in einem Bild all ihre Sehnsucht erfüllte.

 

Im Folgejahr reiste Jule mit ihren Eltern hin und her gerissen zwischen Angst und Freude an jenen Ort in Schottland. Wie abgesprochen hatten sie und Malcolm in der ganzen Zeit nichts voneinander erfahren. Doch kaum, dass sie wieder voreinander standen, erkannten beide, dass von dem Zauber nichts verflogen war, sondern die Trennung ihre Gefühle hatte wachsen lassen.

 

Nun war der dritte Sommerurlaub angebrochen und Jule fand in ihrem Turmzimmer einen frischen Strauß aus Feldblumen. Ihre Eltern machten wie gewohnt am ersten Nachmittag einen Spaziergang. Jule eilte, beinahe stürzend, die Stufen des geheimen Gangs hinab und erreichte keuchend die alte Höhle. Diesmal war sie nicht mit Gerümpel vollgestellt, sondern geschmückt mit Netzen, Seetang und Seesternen. Und in der Mitte wartete dieser kräftige, hochgewachsene Mann, in dessen Augen der Ozean schimmerte und dessen Lächeln ein Versprechen gab. Jule warf sich in Malcolms Arme und wußte, dass in diesem Sommer das Sehnen ein Ende haben würde.       

 

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