Engelbert Blabsreiter

Traumwind

 

Es war einmal in der Mitte eines Meeres.

Das Wasser glitzerte im ersten sanften Licht des Morgens über den Wellenkämmen des Ozeans, als ein kleiner Windhauch die winzigen Tropfen der Gischt scheinbar der Schwerkraft entzog.

Wie in Zeitlupe vergrößerte sich die sichtbare Fläche der Sonne langsam über dem wässrigen Horizont und gebar mit zunehmender Wärme einen sanften Wind.

Spielerisch bewegte sich dieser über die Moleküle der Wasseroberfläche und malte zarte Formen auf das bewegte Wasser.

Schon nach wenigen Stunden fühlte sich der sanfte Wind stärker und seine Geschwindigkeit über der Wasseroberfläche nahm immer mehr zu.

So ging es mehrere Tage, aber der Wind litt langsam unter der Eintönigkeit des Meeres und der unendlich weit erscheinenden Wasseroberfläche.

Als ein Segelschiff seinen Weg kreuzte inspizierte er das Schiff voller Neugierde und freute sich über die plötzliche und mühelose Steigerung der Fahrgeschwindigkeit des Schiffes. Mit spielerischer Leichtigkeit blähte er das Segel prall auf und fuhr frech durch die Haare des Steuermannes.

Er fühlte die Freude und das Glücksgefühl des Steuermannes der mit fester Hand das große Steuerrad des Segelschiffes hielt, gespannt dem Knarren der Takelage lauschte und die Bewegungen des Segels beobachtete.

Auch die Begeisterung des Steuermannes über die kräftige Brise konnte er spüren und hörte das Lob über diesen „Traumwind“. Mehrere Stunden lang vergnügte sich Traumwind dem dieser Name gefiel mit dem Segelschiff, bis sich schließlich ihre Wege trennen mussten. 

Wieder glitt Traumwind viele Tage über die unendlichen und eintönigen Weiten des Meeres. Nur manchmal durfte er die Rückenflossen von Delfinen streicheln oder die sprühende Gischt von blasenden Walen zerstäuben.

Nach scheinbar unendlicher Zeit vermischte sich der salzige Duft des Meeres langsam mit den verlockenden Düften des Festlandes und Traumwind berührte zum ersten Mal festen Boden unter sich.

Neugierig verlangsamte er seine Bewegungen um all die Eindrücke aufsammeln zu können. Er schlängelte sich ganz langsam zwischen den Grashalmen einer Wiese hindurch um all die wundervollen Düfte und Gerüche tausender Blüten und Gräser aufnehmen zu können. Die Halme bewegten sich mit ihm und wogten mit ihm wo immer sie ihn berührten. Er vernahm den Atem von Kühen, Pferden und millionen von  Kleinlebewesen. Der Geruch feuchter Erde und der Rinde von Bäumen drang in ihn und erfüllte sein Herz mit Freude.

Tausende Vögel ließen sich von ihm tragen und verzauberten seine Sinne mit atemberaubenden Flugmanövern. Die Blätter der Bäume säuselten seinen Namen mit unzähligen Zungen bis es zu einem mächtigen Rauschen wurde.

So wurde er eins mit seiner Umwelt und genoss die Einzigartigkeit der Schöpfung.

Traumwind war von all den Eindrücken so berührt, dass er sich nur noch ganz langsam fortbewegen konnte. Er wollte nichts unberührt lassen, nichts übersehen oder vergessen.

In welche wunderbare Welt war er doch hineingeboren worden….

Ganz langsam bewegte er sich über das Festland, bis er nachts die mächtigen Hochhäuser einer Stadt aus der Ferne entdecken konnte. Tausende Lichter beleuchteten die Straßen der Stadt, die von zahllosen Fahrzeugen belebt waren. Ihre stinkenden Abgase trieben ihm die Tränen in die Augen und er fürchtete, all die wunderbaren Düfte die er die letzten Tage über dem Meer und Festland gesammelt hatte würden verloren sein, wenn das Gestank noch weiter zunehmen würde.

Nachts kroch Traumwind in die geöffneten Fenster der Häuser und las in den Träumen der Menschen die dort schliefen. Er sah schreckliche Dinge voller Angst und Sorgen in den Träumen der Menschen jeden Alters. Wie konnte das sein, in einer Welt voller wunderbarer Dinge dachte er sich?

Erschrocken zog er weiter in andere Länder und Städte, wo ihm noch mehr schreckliche Dinge begegneten. Er sah zu wie wertvolle Lebensmittel vernichtet wurden und gleichzeitig an anderen Orten jeden Tag Kinder unter schrecklichen Qualen verhungerten.

Er war dabei als friedliebenden Menschen ihr Land gestohlen wurde und der Vertreibung in ein anderes Land nichts entgegenzusetzen hatten.

Entsetzt musste er zusehen wie sich ehemalige Nachbarn gegenseitig ermordeten nur weil sie einen anderen Glauben hatten.

Er zog durch die stinkenden Ställe der Massentierhaltung in denen die Tiere auf unglaublich kleinem Raum eingepfercht wurden und ein unwürdiges Leben fristeten.

Er beobachtete wie gierige Manager das Wohl tausender Familien für ihren eigenen Profit aufs Spiel setzten und keine Rücksicht auf ihre Umwelt nahmen.

Überall drangen nachts die Ängste und Albträume von Kindern und Erwachsenen in ihn, bis er glaubte es nicht mehr aushalten zu können.

Die wunderbaren Düfte und Eindrücke die er all die Tage vorher gesammelt hatte waren verloren und das Gestank der menschlichen Zivilisation verursachte Übelkeit in ihm.

Sein Aussehen war stark getrübt und er war voller giftiger Bestandteile die gesunde Menschen krank werden ließ.

Aus dem glücklichen Traumwind war ein unglückliches giftiges Gemisch aus chemischen Stoffen und Gasen geworden das zur Belastung der Umwelt wurde.

Tief getroffen über sein Dasein musste sich Traumwind schließlich wieder auf das Meer zurückziehen wo er all diese Eindrücke verarbeiten wollte.

Sein Gedächtnis war überfüllt mit Grausamkeit und Leid. Mit Wut und Ohnmacht, sowie auch der grenzenlosen Enttäuschung über die Menschen die gerade dabei waren einen wunderbaren Planeten zu zerstören.

So verharrte er wochenlang in der Mitte des Meeres und konnte nicht verhindern dass die Wut in ihm immer größer wurde. Die mächtige Wärmestrahlung der Sonne verlieh ihm immer mehr Kraft und Macht und seine Wut steigerte sich immer mehr.

Aus dem kleinen Säuseln, geboren in der morgendlichen Sonnenstrahlung war jetzt über Monate hinweg ein mächtiger Wirbelsturm geworden in dem sich die Macht der Schöpfung gegen die grausamen Machenschaften der Menschen wenden musste.

Der Wirbelsturm der mit dem Traumwind von damals nichts mehr gemein hatte, musste nun auf dem Höhepunkt seiner Kraft auf das Festland zurückkehren.

Er brachte seinen Freund das Meer das genauso von den Menschen geschändet worden war in aller Gewalt mit. Die Dämme und Hochwasserschutzbauten barsten unter den ungezügelten Kräften der Natur. Der Wirbelsturm zerschlug die Häuser und Bauten der Menschen die sich jetzt unter die Erde verkrochen hatten und das Meer verschlang ihre Heimat oder das was davon noch übrig war.

Der Wirbelsturm hatte kein Mitleid mit den Menschen aber er musste auch erkennen, dass die Tiere und Pflanzen unter seiner Wut litten. Als er sich gerade auf ein Kind stürzen wollte, warf sich eine Frau auf dieses Kind um es vor dem Wirbelsturm zu schützen. Es war eine Mutter die ihr Leben riskiert hatte um ihr Kind mit ihrem eigenen Körper vor Schaden zu bewahren.

Der Wirbelsturm verharrte plötzlich…berührt von dem Einsatz der Mutter für ihr Kind. Er sah, dass es noch Liebe gab unter den Menschen und das Gute immer noch Macht auf dem Planeten hatte.

Nun erst erkannte er, welchen Schaden er und sein Freund das Meer in ihrer Wut angerichtet hatten und seine Wut wich einer unendlichen Traurigkeit.

Die ersten Tränen dieser Traurigkeit flossen aus dem Wirbelsturm und langsam kam er zur Besinnung.

Aus der Vielzahl der Tränen wurden jedoch mächtige Wassermassen und diese sammelten sich schließlich in den Bächen, Flüssen und Strömen zu einem mächtigen Hochwasser. Viele Menschen ertranken in den überquellenden Flüssen und Strömen und die Schadensereignisse nahmen kein Ende.

Machtlos musste der Wirbelsturm zusehen wie seine Tränen das Leid aller Lebewesen noch mehr verstärkte, bis schließlich der Fluss der Tränen in ihm versiegte.

Er blickte auf die Erde hinab und ihm wurde bewusst, dass er nichts verbessert hatte und Gewalt keine Lösung für die Schwächen der Menschheit ist. Gewalt zerstört das Gute genauso wie das Schlechte und produziert nur Leid bei denen die sowieso schon leiden.

Die Täter so erkannte er, werden fühlen wie die Opfer wenn sie mit ihrer Macht nicht richtig umzugehen wissen und sie diese nicht zum Guten verwenden.

Mit diesem Wissen wurde aus dem Wirbelsturm wieder ein Traumwind und er zog sich wieder zwischen die Halme der Gräser und Äste der Bäume zurück um diese sanft zu wogen.

Nachts dringt er unmerklich über die geöffneten Fenster der Schlafzimmer in die Träume der Menschen ein, besänftigt die Ärgerlichen, tröstet die Traurigen und stärkt die Liebenden.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Engelbert Blabsreiter).
Der Beitrag wurde von Engelbert Blabsreiter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Engelbert Blabsreiter als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Auf den Punkt gebracht - Gedichte aus dem Leben von Cornelia Hödtke



Der vorliegende Gedichtband enthält Gedichte aus dem Leben, die von Herzen kommen und zu Herzen gehen. Sie machen Mut, regen zum Nachdenken an oder zaubern ein Schmunzeln auf Ihr Gesicht.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (5)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Engelbert Blabsreiter

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Magie der Gefühle von Engelbert Blabsreiter (Märchen)
Die fünf Hühner von Christa Astl (Märchen)
Pinselohrschwein, oder des Rätsels Lösung von Martina Wiemers (Zwischenmenschliches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen