Jürgen Berndt-Lüders

Die Rosskur

 

Der Anruf kam überraschend, und in jener Minute, in der er kam, war Sophie nicht bewusst, dass er ihr ganzes Leben verändern würde.

 

Sophie warf einen kritischen Blick in ihren Kleiderschrank. Fünf Meter nichts als Kleider, Hosen, Kostüme, Mäntel, und alles fein ordentlich nach Verwendungszweck, der Mode und den Jahren sortiert, in denen sie angeschafft worden waren.

 

Ich muss solche Ordnung in meinem Leben schaffen, dachte Sophie. Ich fange an zu schwimmen, ich verliere den Überblick. Ich habe keine Disziplin mehr. Es läuft nicht so, wie es laufen könnte.

 

Mit Männern hatte Sophie kein Glück. Sie trennten sich, weil sie in Sophies Augen kein Durchhaltevermögen hatten und nicht kritikfähig waren. Mein Gott, mochten die Männer keine energischen Frauen? gab es denn keine Männer, die mit ihr mithalten konnten?

 

Als dann das Telefon klingelte und Sophie aus ihren Gedanken riss, konnte sie nicht ahnen, dass eben dieser Anruf Ordnung in ihr Leben bringen würde.

 

„Soffie“, sagte die alte, ja gebrochene Stimme am anderen Ende. Soffie sagte nur ihre Mutter. „Soffie, ich möchte dich sehen.“

 

Sophie verzog das Gesicht. „Mama, wir haben uns acht Jahre nicht mehr gesehen. Wir haben uns nichts zu sagen, wie du weißt.“

 

Mutter hatte Angst vor diesem Gespräch gehabt. Das zeigte sich anhand der Pause, die Mutter zum Überlegen brauchte.

 

„Es mag sein, dass du mir nichts sagen möchtest, aber ich muss dir etwas mitteilen.“

 

Was soll die mir schon mitteilen wollen, fragte sich Sophie. „Was ist denn“, rief sie unwirsch.

 

„Im Café an der Ecke“, schlug Mama vor. „Sagen wir in einer halben Stunde?“

*

Das Café am Markt war schwach besetzt. Ein paar ältere Damen, die ein Schwätzchen hielten, ein Mann in Sophies Alter, der stoisch aus dem Fenster sah und ein Vertreter, der seine Abrechnung zu machen schien.

 

Mutter rührte nervös in ihrer Tasse. Sophie sah auf ihr Handy, um die Uhrzeit abzulesen.

 

„Musst du jetzt unbedingt telefonieren?“, fragte Mutter bitter.

 

Sophie lächelte ihr zynisches Lächeln, das alle hassten, die sie näher kannten. Dafür, zu akzeptieren, dass man heute nicht mehr auf die Armbanduhr schaute, war es wohl zu spät für ihre Mutter.

 

„Es geht um dein Erbe“, sagte Erna, die Mutter von Sophie.

 

Ein älterer Herr betrat das Café, ging zielstrebig zu Erna hinüber und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Sophie betrachtete die Szene überrascht und war zu keiner Reaktion fähig. Mutter und ein Kuss, das waren Dinge, die in Sophies Augen nicht zueinander passten.

 

„Mein Name ist Doktor Wagner“, stellte sich der Mann vor. „Sie müssen Soffie sein. Darf ich mich setzen?“

 

Soffie sagte er also, genau wie Mutter. Wie entsetzlich.

 

Weil Sophie ihm nicht die Hand entgegen streckte, verzichtete Wagner auf eine herzlichere Begrüßung.

 

„Sind sie der Notar, der das Erbe regelt?“, fragte Sophie. „Meine Mutter sprach soeben davon.“

 

Wagner setzte sich, als Mutter auf einen freien Stuhl wies.

 

„Würde ich ihre Mutter dann küssen?“, fragte Wagner mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

 

Sophie schwieg, wie sie immer schwieg, wenn Männer Recht hatten. Wenn sie ihre Gedanken bei solchen Gelegenheiten für sich behielt, brauchte sie sich nicht zu offenbaren oder gar zu entschuldigen.

 

Mutter beugte sich vor. Sie schien gegen einen inneren Widerstand anzukämpfen „Es geht insofern um dein Erbe, dass Herr Doktor Wagner und ich heiraten werden, und ich bin  bereit, alles mit ihm zu teilen, so wie er alles mit mir teilt“, sagte sie gefasst, aber unsicher.

 

Sophie winkte ab. „Ich brauche dein Erbe nicht. Ich bin im Leben erfolgreich. Vielleicht braucht ja Herr Wagner dein Geld.“

 

Sophies Protest schien etwas zu laut ausgefallen zu sein. Die alten Damen sahen herüber und der Mann in Sophies Alter lehnte sich zurück, ohne sich jedoch umzudrehen. Wohl um besser verstehen zu können.

 

Wagner protestierte nicht. Er sah Sophie tief in die Augen. Sein Blick war durchdringend, als wolle er ihre Seele röntgen.

 

„Ich finde es merkwürdig, dass mich ihre Mutter mit dem Hinweis auf das Erbe vorstellen muss. Wo wir doch sozusagen verwandt werden, Soffi.“

 

„Sagen sie nicht Soffi“, herrschte ihn Sophie an. „Soffi sagt nur meine Mutter. Ich habe ihr zwar tausendmal erklärt, wie ich heiße, aber sie kann es sich nicht merken.“

 

Wagner fühlte sich unwohl in seiner Rolle, aber weil es ihm um die Liebe ging, setzte er alles auf eine Karte.

 

„Ich werde ihre Mutter bitten, den Kontakt zu ihnen endgültig abzubrechen. Sie tun ihr nicht gut, und ich möchte, das sie glücklich ist.“

 

Liebevoll sah er Erna an.

 

„Pah“, rief Sophie. „Meine Mutter ist meine Mutter, und sie wird mich nicht wegen eines hergelaufenen Erbschleichers fallen lassen. Gehen sie aus unserem Leben.“

 

Die Damen hatten ihren Plausch beendet und lauschten angestrengt,  und der einsame Mann, der ständig aus dem Fenster geschaut hatte, stand auf und kam herüber.

 

„Karsten“, rief Sophie. „Was machst du denn hier?“

 

„Ich habe dich wegen deiner Kälte mir gegenüber verlassen“, sagte Karsten, stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schulter. „Ich war mir nicht sicher, ob es an mir lag, dass du so wenig Gefühl zeigtest. Aber jetzt weiß ich, dass du immer so bist. Selbst deiner Mutter gegenüber.“

 

„Ich habe Karsten und meine Freundinnen gebeten, sich ein Bild zu machen“, sagte Erna. Ihre Stimme zitterte vor Anspannung. Was sie da sagte, tat ihr unendlich leid.

 

„Und ich bin nicht der Freund ihrer Mutter, der sie heiraten will. Ich bin ein Freund der Familie. Ein Freund aller Mitglieder, nur bisher nicht ihrer.  Menschen, die sie lieben, haben mich gebeten zu helfen, ehe es zu spät ist.“

 

„Zu spät?“, fragte Sophie und rechnete mit einem vorgeschobenen Grund, der dazu gedacht war, sie umzustimmen.

 

„Ich habe nur noch ein paar Wochen, Kind“, murmelte Erna, Sophies Mutter.

 

Sophie sprang auf und rannte aus dem Café. So wie sie jetzt weinte hatte sie zuletzt als Kind geweint, als sie sich in den Finger geschnitten hatte.

 

Eine Stunde später nahm sie ihr Handy, aber nicht, um die Uhrzeit festzustellen. Sie rief ihre Mutter an.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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