Christiane Mielck-Retzdorff

An einem Abend im November

 

 

 

 

 Es war einer der Novembertage, der nie aus der Dämmerung erwachte und der sich nun in die jahreszeitenlose Nacht gerettet hatte. Tom betrat, trotz der kurzen Strecke von seiner Wohnung vom Dauerregen feucht, die kleine Kneipe und ging zielsicher nach links in die hintere Ecke am Fenster, wo sein Stammplatz bei den gelegentlichen Besuchen war. Von dort konnte er ungestört das Geschehen am Tresen, den anderen Tischen und auf der Straße beobachten. Seinen Mantel warf er unordentlich über den einen Stuhl und bestellte sich ein Glas Rotwein.

 

Die Kneipe war nur schummerig beleuchtet. Die einzigen anderen Gäste waren zwei Männer, die sich am Tresen beim Bier leise unterhielten. Sie konnten noch nicht lange dort sein, denn die Kneipe öffnete erst um 18 Uhr. Tom war zuversichtlich, dass sich mit fortschreitendem Alkoholkonsum der Tonfall der Männer verstärken würde, so dass er die Teile ihres Lebens erahnen konnte, die die beiden in diese Kneipe getrieben hatten.

 

Draußen hüpften Regentropfen auf dem Asphalt, und in der so durchbrochenen, nassen Fläche spiegelten sich bizarre Formen. Vereinzelt huschten Menschen, vergraben in ihre Mäntel, vorüber wie Verbrecher auf der Flucht. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite türmten sich beleuchtete Wohnungsfenster über den geschlossenen Geschäften.

 

Hinter diesen Scheiben vibrierte verborgenes Leben. Gerade durch die luftigen Vorhänge, die zugezogen waren, um unerwünschte Beobachter auszusperren, zeugten Schatten von der Anwesenheit etwas Menschlichem, von Bewegung und Geheimnissen. Bei den, oft Pflanzen verzierten, unbehangenen Fenstern schien den Bewohnern ihre Öffentlichkeit bewußt zu sein. Sie benahmen sich, als erwarteten sie Publikum.

 

Die Tür ging auf und eine Frau, deren Mantel leidlich durchfeuchtet war, betrat die Kneipe und schritt zielsicher nach rechts in die hintere Ecke am Fenster, wo ihr Stammplatz bei den gelegentlichen Besuchen war. Von dort konnte sie ungestört das Geschehen am Tresen, den anderen Tischen und auf der Straße beobachten. Ihren Mantel legte sie ordentlich über den einen Stuhl und bestellte sich ein Glas Weißwein. Dann zündete sie sich eine Zigarette an.

 

Margot registrierte kurz die drei anderen Gäste und befand, dass diese sich wenig für ihre Bedürfnisse eigneten. Jedoch konnte man nicht wissen, ob die beiden Männer am Tresen mit zunehmendem Alkoholkonsum nicht doch ihr Interesse wecken würden. Neugierig sah sie zu den Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite, hinter denen gerade jegliche Aktivität verschwunden war. Auch die Straße war vollkommen unbelebt.

 

Sie nahm einen großen Schluck Wein und einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und schaute direkt geradeaus auf Tom, der sich ebenfalls eine Zigarette anzündete. Margot befand ihn als wenig attraktiv. Ein großer, korpulenter Typ, mit rundem Gesicht und schüttrem Haar, der offensichtlich seiner Einsamkeit entfliehen wollte.

 

Tom hatte die Frau schon beim Hineingehen taxiert. Sie war groß, hager und strahlte mit ihren straff zurückgenommen, hochgesteckten, aschblonden Haaren die Strenge einer Gouvernante aus. Offensichtlich ein unbefriedigtes Weib, dass seine Einsamkeit nicht ertragen konnte. Eigentlich ein gutes Opfer, aber sie eignete sich wohl besser als Täterin.

 

Ein eng unter einem Schirm verschlungenes Pärchen ging kichernd am Fenster der Kneipe vorbei und lenkte die Aufmerksamkeit der beiden auf sich. Und, wie zur Befriedigung der Schaulust der auf sie gerichteten Augenpaare, küßten sie sich sehr lange und intensiv.

 

Wieso kam Tom gerade in diesem Moment Marlene in den Sinn. Hatten sie sich auch jemals so geküßt? Er konnte sich nicht erinnern, doch kuschelte in seinem Inneren eine Ahnung. Zuletzt hatte Marlene ihn nur noch unattraktiv und langweilig gefunden. Ein unehrgeiziger Bibliothekar im öffentlichen Dienst konnte unmöglich ihre Zukunft sein. So hatte sie ihn verlassen in einem getunten Flitzer, gefahren von einem muskulösen Kfz-Mechaniker. Ob der nun ihre Zukunft geworden war, wußte Tom genauso wenig, wie Marlene wußte, dass er kein Bibliothekar mehr war.

 

Margot fragte sich, ob diese Kußszene nun romantisch war oder nur provozierend. Nach ihren Vorstellungen war der Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit eher unangemessen. Natürlich waren sie denkbar unter einem großen Baum bei einem Picknick oder verstohlen hinter einer Scheune, aber nur als Zeichen eines unvermittelten, übermächtigen Gefühls und nicht als Schaunummer. In Margots Gedanken holte die Frau plötzlich ein Messer unter dem Mantel hervor und rammte es dem Mann beim Küssen direkt ins Herz. Margot erschrak über sich selber. Kein Wunder, dass sie in so einer Krise steckte.

 

Ein Knall zerriss die Stille, und das Pärchen zuckte auseinander. Gefesselt starrten die beiden Zuschauer hinaus in der Erwartung, dass ein Schuss die innige Szene und gleichzeitig das Leben eines der Beteiligten beendet hatte. Doch das muntere, schallende Lachen des Paares erklärte das Geräusch bald mit dem Herunterfallen einer Rotweinflasche, die zwischen den beiden verborgen, ihren Halt verloren hatte. In tiefem Rot ergoß sich der Inhalt auf dem Bürgersteig und fand seinen Weg vom Regen getrieben in den Rindstein. Schnell fegten die beiden die Scherben mit den Füßen beiseite und eilten davon.

 

Margot wußte nicht, ob sie enttäuscht oder glücklich sein sollte, über den unspektakulären Ausgang der Situation. Ein Mord direkt vor ihren Augen hätte vielleicht die Ketten gelöst, von denen sie sich umschlungen fühlte. Statt dessen hatte es ein Happyend gegeben, und das junge Pärchen würde wohl auch ohne den Rotwein einen vergnüglichen Abend erleben.

 

Tom dagegen spürte eine stille Freude in sich. Kein vorwurfsvolles Wort über die zerbrochene Flasche hatte die Harmonie der beiden getrübt. Wie froh waren sie davon geeilt in eine Liebesnacht ihres jungen Lebens. Das Zerstörerische hatte ihnen nichts anhaben können.

 

Wie auf ein unsichtbares Zeichen bestellten Margot und Tom ein zweites Glas Wein. Dieser Zufall entlockte beiden ein Lächeln und einen Augenblick des gegenseitigen Betrachtens. Margot befand für sich, dass Toms Augen etwas Vertrauenerweckendes bargen und seine tiefe Stimme beinahe erotisch genannt werden konnte. Tom stellte fest, dass mit dem Lächeln die Strenge von dieser Frau gewichen war und das verlegende Zurückstreichen einer, aus der Ordnung ausgebrochenen, Haarsträhne ihr etwas rührend Mädchenhaftes gab.

 

Beide sahen wieder aus dem Fenster zu den Fenstern, die nun mit Leben erfüllt waren. Allerdings schlugen ihre Gedanken wilde Kapriolen. In Tom wuchs die Idee, dass hinter einem der Vorhänge eine große unerfüllte Liebe geschlummerte, die vielleicht Erfüllung finden konnte, wenn man den Rivalen einfach sterben ließ, während in Margots Visionen ein Meuchelmörder ein Blutbad während eines Liebesaktes anrichtete.

 

Die beiden Männer vom Tresen verließen die Kneipe. Als sie sich vor der Tür verabschiedeten, fuhr mit hoher Geschwindigkeit ein Kleinlaster dicht an ihnen vorbei und schleuderte einen Schwall aus Rotwein und Wasser gegen die Männer und die Fenster der Kneipe. Margot schrie erschrocken auf und reflexartig eilte Tom ihr zur Hilfe. Draußen hallte das Gepöbel der verschmutzten Männer von den Wänden wider.

 

„Ich bin in Ordnung“, beschwichtigte Margot Tom, der jetzt an ihrem Tisch stand. So wand er sich ab, um in seine Ecke zurückzukehren. Da ertönte im Befehlston die Stimme des Wirts:

„Das kann doch wohl jetzt nicht wahr sein! Ihr seid beide hier auf der Suche nach etwas, was ihr verloren habt. Vielleicht versucht ihr es mal miteinander wiederzufinden. Ihr seid doch beide klasse Typen und habt Erfahrung.“

Margot und Tom sahen sich verwirrt und unsicher an.

„Da sind sie nun, die berühmte Schöpferin rührseliger Liebesromane und der Meister perfider Mördergeschichten mit ihren Schreibblockaden. Wie wäre es denn mal mit gegenseitiger Inspiration?!“

 

Das wurde die Geburtsstunde eines Liebesthrillers.

 

 

  

 

     

 

 

    

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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