Lolita ist der bekannteste Roman von Vladimir Nabokov, erschienen 1955.
Der
Roman, der zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts gehört, war lange
Zeit wegen seines Themas umstritten: Der pädophile Ich-Erzähler Humbert
Humbert zwingt seine zu Beginn der Erzählung zwölfjährige Stieftochter
Dolores („Lolita“) zu einer zweijährigen Odyssee durch die USA. Von ihm
als „Vater und Tochter“ ausgegeben, leben sie in einer – zunehmend
gewaltsamen – sexuellen Beziehung, aus der Dolores schließlich flieht.
Der
Roman beginnt mit einem Vorwort des fiktionalen Herausgebers John Ray
Jr., der mitteilt, der folgende Text sei von einem Gefängnisinsassen
verfasst worden, der sich selbst im Text mit dem Decknamen „Humbert
Humbert“ bezeichne und am 16. November 1952, kurz vor Beginn seines
Prozesses, an den Folgen einer Koronarthrombose gestorben sei.
Humbert
Humbert wurde 1910 in Paris geboren, ist Literaturwissenschaftler und
lebt seit einiger Zeit in den USA. Das prägende Erlebnis seiner Jugend
war seine mit vierzehn Jahren erlebte erste Liebe zu dem Mädchen
Annabel Leigh (eine Anspielung auf Poes Gedicht Annabel Lee), das kurz
darauf an Typhus starb. Dieses Erlebnis hat Humbert nie vergessen. Seit
dieser Zeit fühlt er sich, auch als älterer Mann, ausschließlich zu
Kindfrauen hingezogen, in denen er seine Annabel wiederzusehen glaubt.
Zwar
war Humbert in Europa verheiratet, aber die Ehe scheiterte bald. Um
eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln, beschließt er 1940, in die USA
zu ziehen. Dort arbeitete er erst als Werbetexter, dann als Dozent für
französische Literatur in New York. Schließlich geht er nach einem
psychischen Zusammenbruch aus New York weg in die Kleinstadt Ramsdale
in New England.
Er bezieht dort ein möbliertes Zimmer im Haus der
Witwe Charlotte Haze, deren Lebenserwartung aufgrund einer
Nierenschädigung nur noch wenige Jahre betragen sollte. Obwohl ihn
Charlotte anfänglich abstößt, bewegt ihn der Anblick ihrer
zwölfjährigen Tochter Dolores, von ihm kurz Lo oder Lolita genannt,
dazu, das Zimmer zu nehmen. Von Charlotte unter Druck gesetzt, heiratet
Humbert die Mutter, um weiter mit der Tochter unter einem Dach leben zu
können. Kurz nach der Hochzeit findet Charlotte Humberts Tagebuch, in
dem er ausführlich seine Verachtung für Charlotte und sein Verlangen
nach Dolores beschrieben hat. Halb wahnsinnig rennt sie aus dem Haus,
wird von einem Auto überfahren und ist sofort tot.
Humbert holt
Dolores aus ihrem Ferienlager ab – ohne ihr zunächst vom Unfalltod
ihrer Mutter zu erzählen. Gemeinsam fahren die beiden als Vater und
Tochter mit Charlottes Auto der fiktiven Marke Melmoth der Wanderer
quer durch die USA, von Motel zu Motel, bis sie sich zeitweilig in der
Universitätsstadt Beardsley niederlassen. Schon in der ersten
gemeinsamen Nacht im Motel "Die verzauberten Jäger" beginnt eine
erotische und sexuelle Beziehung, die sich mehr und mehr entzaubert.
Für Humbert werden die sexuellen Übungen mit Dolores schließlich
entgeltpflichtig, und er verwandelt sich in vielen Auseinandersetzungen
ihr gegenüber zunächst in einen autoritären Vater und dann in einen
Freier, Spion und Dieb. Die Erfüllung seiner erotischen Träume führt
Lolita in ein komfortables Gefängnis, ihn allmählich in den Wahnsinn
der Eifersucht.
Auf ihrer zweiten Odyssee durch die USA werden
Humbert und Dolores von einem Schatten verfolgt. Wie sich später zeigt,
handelt es sich um Clare Quilty, einen erfolgreichen Autor populärer
Theaterstücke – u. a. "Die gejagten Zauberer" – der in zahlreichen
Verkleidungen immer wieder auftritt. Schließlich verlässt Dolores
Humbert und brennt mit Quilty durch. Humbert beginnt eine jahrelange
Suche nach Dolores und nach dem ihm noch unbekannten Entführer.
Gegen
Ende des Romans trifft Humbert die inzwischen fast achtzehnjährige
Dolores wieder. Sie ist schwanger und lebt mit ihrem Mann Dick Schiller
in einer heruntergekommenen Arbeitersiedlung. Mit Humbert hat sie
Kontakt aufgenommen, da sie dringend Geld benötigt. Humbert zahlt ihr
die Erlöse aus dem Verkauf des Hazeschen Hauses aus, verlangt aber
dafür die Herausgabe der Identität ihres damaligen heimlichen Helfers.
Nachdem
Dolores ihm von Quilty erzählt hat – wie sie ihn schon früh kennen
lernte, wie er sie ständig verfolgte, wie sie schließlich, nachdem er
ihr versprochen hatte, sie beim Film unterzubringen, mit ihm
durchbrannte und er sie dann zwingen wollte, in pornografischen Filmen
mitzuspielen –, beschließt Humbert, Quilty zu töten. Er fährt zu
Quiltys Landsitz Pavor Manor und erschießt ihn.
Humbert, der
Erzähler, ein gebildeter Literaturwissenschaftler, beschreibt
einerseits als europäischer Außenseiter teils fasziniert, teils
angeekelt, detailreich die amerikanische Alltags- und Jugendkultur;
andererseits spickt er seinen Bericht mit vielschichtigen,
literarischen Anspielungen, Wortspielen und Witzen, wobei die Leser
zusätzlich dadurch aufs Glatteis geführt werden, dass sie oft nicht
wissen, ob es sich dabei um bewusste Mehrdeutigkeiten Humberts oder des
Herausgebers John Ray Jr. oder des Autors Nabokov handelt.
Zusätzlich
kompliziert wird dieses Beziehungsgeflecht dadurch, dass Bezüge nicht
nur innerhalb einer Sprache - Nabokov verfasste den Roman auf Englisch
- hergestellt werden, sondern dass aus dem Russischen, Französischen,
Deutschen und weiteren Sprachen ein dichtes, kreuz und quer verwobenes
Bedeutungsnetz gesponnen wird. In der Übersetzung geht davon
zwangsläufig einiges verloren. Beispielsweise verweist Nabokov zufolge
der Name „Humbert Humbert“ durch seinen unangenehmen doppelten Klang
auf eine unangenehme Person, ist darüber hinaus aber auch ein
Königsname, erinnert an das englische Wort „humble“ (bescheiden oder
demütig), an das spanische „hombre“ (Mann), an das französische „ombre“
(Schatten) - was durch die Dopplung noch verstärkt wird - und an ein
Kartenspiel gleichen Namens, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Den
Nachnamen, den Lolita gegen Ende des Romans hat, „Dolores Schiller“,
könnte man als eine Anspielung auf das Schillernde dieser Figur
verstehen - oder man kann es englisch-phonetisch lesen als Homophon von
englisch „Dolores' killer“ („Dolores' Mörder“), denn Dolores stirbt an
den Folgen der Geburt des Kindes, das ihr Mann Dick Schiller mit ihr
gezeugt hat.
Das Doppel- und Mehrdeutige des Romans wird zum Ende
noch dadurch gesteigert, dass Humbert in dem heimlichen Helfer Lolitas
bei ihrer Flucht einen starken Gegenspieler findet, der ihm in
literarischen Kenntnissen mindestens ebenbürtig und immer einen Schritt
voraus ist; bisweilen scheint der Retter Lolitas Humberts eigenes alter
ego zu sein. Auch die in einer traumhaften Atmosphäre ablaufende
Mordsequenz des Endes wirft die Frage auf, ob der Autor eine
imaginierte Wirklichkeit oder nur eine alptraumhafte Imagination der
Hauptfigur beschreibt, die sich von ihrer „dunklen Seite“ endlich durch
einen fiktiven Mord befreit (der Retter Lolitas ist nicht weniger
pädophil als Humbert Humbert selbst). Das Versteckspiel endet erst mit
dem letzten Punkt und lässt viele Fragen offen.
Durchzogen wird
der Roman von zahlreichen literarischen Zitaten, Halbzitaten und
Anspielungen. Die beiden wichtigsten Referenzen sind dabei eine Reihe
von Werken Edgar Allan Poes (1836 heiratete Poe seine erst 13-jährige
Cousine Virginia Clemm; auf ihren frühen Tod spielt vielleicht das
Gedicht Annabel Lee an. Verwiesen wird von Nabokov auf den Roman Die
Abenteuer des Arthur Gordon Pym, die Erzählung William Wilson und viele
andere mehr) sowie der Roman Alice im Wunderland von Lewis Carroll,
dessen Hauptfigur, ein kleines Mädchen, wie dessen Mehrdeutigkeiten,
Traumwelten und Anspielungsmuster in zahlreichen, oft wiederum
travestierten Gestalten aufscheinen.
Lolitas Entstehung
beanspruchte mehrere Jahre, beginnend mit der Emigration der Nabokovs
nach Amerika 1941. Das Romanmanuskript Lolitas hat Nabokov in einem
Anfall künstlerischen Suizids im Herbst 1948 zu verbrennen versucht.
Nabokovs Frau, Vera, entriss das Manuskript in letzter Minute den
Flammen. Das Scheitern, einen amerikanischen Verleger zu finden, führte
dazu, dass der Roman zuerst in Europa veröffentlicht wurde.
Wegen
des, besonders in den prüden 1950er Jahren, heiklen Sujets fand Nabokov
anfänglich keinen amerikanischen Verleger für seinen Roman. Die erste
Ausgabe von Lolita erschien deshalb bei dem englischsprachigen, aber in
Paris angesiedelten Verlag Olympia Press, der sich auf erotische
Literatur spezialisiert hatte. Eine sehr positive Besprechung des
Romans durch Graham Greene führte dann dazu, dass 1958 auch eine
amerikanische Ausgabe des Buchs erschien. In der Folge wurde der Roman
schnell zum Bestseller und machte Nabokov, der zuvor nur wenigen
Insidern bekannt gewesen war, zu einem berühmten Autor.
Die erste
deutsche Ausgabe des Romans erschien 1959 bei Rowohlt, übersetzt von
Helen Hessel unter Mitarbeit von Maria Carlsson, Gregor von Rezzori,
Kurt Kusenberg und Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. 1989 brachte Rowohlt
eine von Dieter E. Zimmer revidierte Fassung heraus.
Bereits in
früher von Nabokov geschriebenen Erzählungen, so beispielsweise in der
um 1939 auf Russisch geschriebenen Novelle Der Zauberer (die erst
posthum veröffentlicht wurde), ist das Thema von Lolita zu erkennen.
Der Literaturwissenschaftler Michael Maar versuchte 2004 nachzuweisen,
Nabokov sei von der Erzählung Lolita des vergessenen deutschen Autors
Heinz von Lichberg (1916 in dessen Erzählband Die verfluchte Gioconda
erschienen) angeregt worden. Lichbergs Erzählung unterscheidet sich
jedoch nicht nur strukturell und stilistisch grundlegend, sondern auch
thematisch von Nabokovs Roman. Zwar wurde wiederholt nachzuweisen
versucht, dass Nabokov, der von 1920 bis 1937 in Berlin lebte, von
deutscher Literatur viele Anregungen empfangen habe; in diesem Fall ist
dies jedoch sehr umstritten. Nabokov behauptete in späteren Jahren,
fast kein Deutsch zu können - was nachweislich etwas übertrieben war.
Er prüfte die deutschen Übersetzungen seiner Bücher nicht selbst,
sondern überließ dies seiner Frau Vera und arbeitete sich für seine
Vorlesungen zur deutschen Literatur mühsam mit Wörterbüchern durch die
Originale, konnte sich auf deutsch aber immerhin grob verständigen und
am Diskurs über Entomologie teilnehmen. Selbst wenn man von der These
ausgeht, Nabokovs Roman sei von Lichbergs Schauergeschichte beeinflusst
worden, ist er keinesfalls als Plagiat zu bezeichnen, da es selbst bei
großzügiger Auslegung keinerlei Übereinstimmungen gibt. Hingegen
verwendete Nabokov in postmoderner Manier zahlreiche andere Quellen und
Anregungen, verwandelte diese aber stets in hochkomplexe, künstlerisch
eigenständige Werke.
Möglich ist, dass Lolita (oder Teile davon)
einen tatsächlichen Fall von Kindesmissbrauch aufgreift, die Entführung
eines zwölfjährigen Mädchens namens Florence Sally Horner durch einen
52-jährigen arbeitslosen Mechaniker, Frank La Salle. La Salle hatte
Sally beobachtet, wie sie als Mutprobe einen fünf Cent teuren
Notizblock stahl. Er gab sich als FBI-Agent aus und zwang sie so, mit
ihm zu kommen. 21 Monate lang fuhr er mit ihr kreuz und quer durch die
USA und missbrauchte sie dabei regelmäßig. Bei seiner Festnahme
schließlich behauptete La Salle, er sei Sallys Vater, wurde aber
bereits zwei Wochen später zu 35 Jahren Haft verurteilt. Sally Horner
starb zwei Jahre später bei einem Autounfall.
Der Fall weist
Parallelen zum zweiten Teil von Lolita auf. Aus Nabokovs Notizen geht
zudem hervor, dass ihm dieser Fall bekannt war. Darüber hinaus spielt
Humbert Humbert im Roman mehrmals auf diesen Fall an.
Mehrere
Klassiker der Weltliteratur die geschätzte Werke Nabokovs' waren,
Puschkins Eugen Onegin, Tolstois Anna Karenina und Flauberts Madame
Bovary zeigen gewisse Ähnlichkeiten in der Konstellation der Figuren.
120 Jahre nach Puschkins Onegin, 100 Jahre nach Flauberts Madame Bovary
und 80 nach Tolstois Anna Karenina scheitert die Liebe auch in Nabokovs
Lolita. Verführte ist in Lolita aber nicht die Protagonistin sondern
Humbert Humbert, was das Modell des klassischen Verführungsromans
umkehrt.
Emma und Anna, Lolitas berühmte Vorgängerinnen sind
Ehebrecherinnen, – Emma begeht Selbstmord nicht aus Liebeskummer,
sondern genereller Enttäuschung, - Anna zerbricht an der kurzen
Wahrheit der großen Gefühle bei Ausbruch aus der Enge des ehelichen
Hafens, im Konflikt zur dünnen Schicht gesellschaftlicher Normen.
Lolita dagegen entflieht einer stürmischen Liebesbeziehung in den Hafen
der Ehe, der flach wie das westatlantische Schelf ist, aber am Ende des
Romans legt sie dort gut an. Die Liebe stellt sich in diesen Romanen
als heimtückisch machender Wahn heraus, der bei Lolita jedoch den im
Selbstbetrug Betrogenen zum Mord treibt. Lolitas Emotionalität bleibt
bis zuletzt in ihrer Tiefe undurchsichtig. Hier zeigen sich die
stärksten Parallelen zu Puschkins Tatjana die letztlich auch der Liebe
misstraut.