Daniela Nitz

5. Wie Olivers Herz zerbrach

Nicht zum ersten Mal hatte Oliver erleben müssen, was es heißt, wenn das Herz zerbricht, doch dieses Mal war es anders und Oliver hatte keine Ahnung, wie er das Verdauen sollte. Es fühlte sich so leer an, Hass brodelte gleichzeitig auf und heißte Tränen liefen ihm übers Gesicht. >Was für ein Verrat! <, dachte er bei sich. Er erinnerte sich an die Zeit, als er vor über einem Jahr einem Chor beitrat. Voller Enthusiasmus ging er zu jeder Probe und gab sein Bestes. Alles schien wunderbar. Natürlich gab es das auch, dass man zu der einen oder anderen Probe nicht hinkommen konnte, einfach weil etwas Unvorhergesehenes dazwischen kam. Aber auch Aus- und neue Eintritte von Mitgliedern machten das Arbeiten schwierig, ja manchmal sogar unmöglich. Oliver hatte den weitesten Weg von allen Chormitgliedern und erntete dafür Bewunderung, denn er brauchte in die Stadt schon etwas über eine Stunde und es war nicht leicht, bei Wind und Wetter vorwärts zu kommen.

Doch dann fing es an zu bröckeln, als das nächste Programm bevorstand. Bis die ganzen Texte und erste Leseproben stattfanden, verging zu viel Zeit und einige Mitglieder hatten in der Schule mehr Stoff auferlegt bekommen und wussten nicht so richtig, ob sie das Pensum mit Schule und Musik schaffen würden. Anfangs lief alles ja noch wie am Schnürchen, ausgenommen die üblichen Reibereien wegen unentschuldigtes Fehlen, Ausfälle der Proben wegen Krankheit; all das störte Oliver noch nicht, denn schließlich konnte es ihm selbst passieren.

Er kam von der Chorprobe nach Hause, als seine Mutter ihn fragte: „Und wie war die Probe? Geht es dem Chorleiter schon wieder besser?“ „Ja, er hatte zwar immer noch etwas Husten, aber es ging und die Probe lief heute wieder sehr viel besser als beim letzten Mal.“, antwortete er. „Das freut mich sehr, dass es dir also trotz allem weiter Spaß macht. Oliver hör mal, ich wollte gern mit dir über etwas reden. Ich habe darüber bereits mit deinem Vater gesprochen und ihm gefällt meine Idee.“ Oliver sah seine Mutter interessiert an und mampfte weiter an seinem Sandwich. Als er nach dem Aufkauen dennoch nichts sagte, fing sie weiter zu erzählen an. „Wie du weißt, werden die Preise für Lebensmittel und Strom immer teurer und auch die Abzahlrate für unser Haus ist gestiegen. Ich dachte mir also, dass ich mir eine Arbeit suche und deinen Vater finanziell unterstütze. Was hältst du davon?“ Oliver überlegte kurz, dann antwortete er: „Ich finde es toll und solange dir die Arbeit Spaß macht.“ Sie lächelte bei dieser Antwort, wurde im nächsten Moment aber etwas nachdenklich. „Es wäre schön, wenn du uns im Haushalt und allen anfallenden Sachen noch mehr zur Hand gehen könntest, bis es finanziell besser läuft. Und denke nicht, wir würden dich einschränken wollen, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist. Dein Vater und ich sind sehr stolz auf dich, das du mithilfst, dass vergesse bitte nie.“ Oliver nickte und umarmte seine Mutter.

Monate waren seitdem vergangen und Oliver kam durch die Arbeit seiner Eltern nur selten dazu, zu den Proben zu fliegen, doch all sein Bemühen und Erklären stieß bei der Gruppe auf Unverständnis, ja sogar Gleichgültigkeit. Sie wollten einfach nicht verstehen, jammerten sogar rum, dass sie so wenig Zeit haben und Oliver hatte sich nicht ein einziges Mal darüber beklagt, dass er nun eingeschränkter proben musste und dabei hatte er viel mehr zu tun, als die „Jammerlappen“, wie er sie mittlerweile bezeichnete.

Als er eines Tages wieder zur Probe flog, traf er auf ein neues Gesicht, doch niemand scherte sich darum, den Jungen Oliver vorzustellen. Er erfuhr nur nebenbei wer der Junge war und dass dieser seinen Part übte. Zu allem Übel kam noch dazu, dass der Chorleiter zu Oliver sagte: „ Tut mir leid, dir das sagen zu müssen Oliver, aber die Gruppe hat bedenken, dass du deinen Part bis zur Premiere in einem Monat nicht schaffst und deswegen wird Willi zur Premiere einspringen. Das hat nichts mit deinen Fähigkeiten zu tun, es ist einfach die Problematik deiner Lage. Kannst du das akzeptieren und annehmen?“ Innerlich wollte er schreien und sagen >Nein kann ich nicht. <, stattdessen sagte er mit verkrampften Lächeln: „Wenn es so beschlossen wurde, dann ist es eben so.“ Ohne sich verteidigen zu können, musste er diese zwei Schläge einstecken und zusehen, wie jemand anderes seinen Part übernahm, der erst seit kurzem Mitglied war. Kann es mehr Ungerechtigkeit geben, als in diesem Augenblick? Zählte sein Engagement bei den vielen anderen Proben überhaupt nicht, oder das er manches Mal sogar umsonst nach Käfercity geflogen kam, weil wieder mal jemand fehlte mit dem er Zusammen hätte proben müssen? Doch in den Gesichtern der Anderen konnte er erkennen, egal was er auch vorgebracht hätte, es war schon beschlossene Sache.

Mit schwachem Lächeln nahm Oliver seine Tasche und machte sich auf zum Gehen, als sein Leiter ihm noch etwas hinterher sagte. Aber er hörte garnicht mehr wirklich zu, den unbändige Wut schäumte in ihm hoch, gleich der Temperatur eines heißen Lavastroms und das komischste war, dass er noch nicht mal auf seine Eltern sauer war, denn diese konnten schließlich nichts dafür. Existenz geht vor allem, aber es war einfach die Tatsache, dass er überrollt wurde, ohne die Chance auf Verteidigung bekommen zu haben und hinunterschlucken musste.

Eine Woche vor der Premiere, kam das Fass zum Überlaufen. Oliver wurde aus der Produktion gekantet, weil die Gruppe nicht bereit war, extra mit ihm noch zu proben, um es noch zu schaffen. Dabei hätte er es mit Sicherheit geschafft, denn Oliver probte seine Texte jeden Tag, ob zu Hause oder in den Schulpausen. Manches Mal hatten seine Freunde Sailor und Rico ihm zugehört und unterstützt.

„Das ist unfair. Niemand scheint begreifen zu wollen, dass meine Eltern diesen Schritt gehen mussten, sonst würden wir nämlich untergehen und sogar unser Haus verlieren. Und ich war viele Male bei den Proben dabei gewesen und konnte nicht vernünftig proben und hierherzufliegen und diesem Willi dabei zuzusehen, wie er probt und ich nur dumm rumsitze, kann ich mir bei der begrenzten Zeit nicht erlauben und will ich auch nicht. Aber das scheint hier niemanden zu interessieren und selbst jetzt haben die Anderen noch nicht mal den Mut gehabt es mir ins Gesicht zu sagen, was sie stört, stattdessen schicken sie dich als Leiter wieder mal vor.“, brauste Oliver diesmal richtig auf. „So versteh doch Oliver, Willi brauchte natürlich seine Zeit für die Proben und…“, begann Herr Kramer, der Chorleiter, doch Oliver wollte von alldem nichts hören. Ihm hörte ja schließlich auch keiner zu. Er verfluchte sie alle aus tiefstem Herzen, niemand würde ihn verstehen, was ihm in diesem Augenblick angetan wurde und wie sie ihn heute scheinheilig begrüßt hatten, als wäre nichts. Das Gespräch endete und Oliver verabschiedete sich.

Er ging, als er zu Hause ankam, sofort auf sein Zimmer. Was sollte er tun? Noch immer flossen die Tränen über sein Gesicht, doch er hatte schon in weiser Voraussicht vor einem Monat nach einer anderen Möglichkeit gesucht und gefunden und gedachte nun, seinen Plan nach diesem Fiasko, in die Tat umzusetzen. Er legte sich ins Bett und schlief tränenüberströmt ein, doch in seinem Herzen glomm ein kleiner Hoffnungsschimmer, auf dass, was nun vor ihm lag.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.03.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Epilepsie – was ist das eigentlich? Gute Frage... denn wie ich immer wieder mit Entsetzen feststellen musste, wussten selbst ein Großteil der von mir und anderen Betroffenen konsultierten Neurologen keine vernünftige Antwort darauf, geschweige denn Allgemeinmediziner jedweder Art und erst recht nicht Otto – Normalverbraucher. Völlig außer Frage steht, dass Epilepsien oft mit geistigen Behinderungen einhergehen, was aber nicht heißt, dass das eine mit dem anderen gleichzusetzen ist. Dieses Buch soll deshalb auch nicht als medizinisches Handbuch dienen, sondern lediglich als ein Beweismittel, dass es auch anders geht, wenn man nur will oder allenfalls eine Art Gebrauchsanleitung für den Umgang mit solchen und ähnlichen Problemen. Es sind, wenn man so will, Geschichten aus dem wahren Leben, die ich hier beschreibe und Konfliktsituationen, für deren Bewältigung sich mal eine mehr, mal eine weniger elegante Lösung findet.

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