Christiane Mielck-Retzdorff

Fluch des Gewissens

 

 

Felicitas flitzte mit ihrem kleinen Auto über die A7 Richtung Elbtunnel. Sie hatte eine Freundin in Dittmarschen besucht, die sich auf das Abenteuer eingelassen hatte, einen Bauern zu heiraten und den Hof mit zu bewirtschaften. Nun war sie auch noch schwanger und trotzdem war es so lustig gewesen, daß sich Felicitas erst nach Mitternacht auf dem Heimweg machte. Vorher hatte sie einige Kühe und Hühner namentlich kennengelernt, leckeren selbstgebackenen Kuchen und Leberwurst aus der Hausschlachtung gegessen. Nur den selbstgebrannten Schnaps mußte sie ablehnen. Beim nächsten Mal würde sie über Nacht bleiben, Tage lang vorher nichts essen und nach dem versprochenen Mahl aus hofeigenen Zutaten den Schnaps verkosten. Allerdings hatte sie darauf bestanden, daß keines der Tiere, die sie nun persönlich kannte, dafür sein Leben lassen mußte. Nun durchquerte sie berauscht von guter Landluft und ausgestattet mit frischen Eiern und einer Mettwurst den Elbtunnel begleitet von romantischer Nachtmusik aus dem Radio.

 

Kaum hatte sie die Röhre verlassen, erleuchteten die Lichter des Hafens die Peripherie, und sie sah die Köhlbrandbrücke sich in einem Schwung über den Seitenarm der Elbe erheben. Felicitas freute sich wie immer auf das Erlebnis, diese Brücke zu überqueren, sich durch die Rechtskurve zu dem höchsten Punkt hochzuarbeiten und dabei den Ausblick zu genießen. Leider versperrte der zierlichen Frau in ihrem kleinen Auto meistens die Brüstung die Sicht. Links grüßten die Lichter der Innenstadt und der Terminals in der Ferne, während rechts unter der Brücke das Wasser im Köhlbrand schwarz dahinfloß.

 

An dem höchsten Punkt angekommen, bemerkte Felicitas ein parkendes Auto und einen Mann, der an der Brüstung stand. Das war verboten. Sie hielt neben dem Mann und fragte durch das Seitenfenster, ob sie helfen könne. Der Mann reagierte nicht. Also stieg Felicitas aus.

„Hallo, hast du eine Panne? Ich habe ein Handy und könnte den Pannendienst rufen.“

Der Mann drehte sich langsam um. Im Halbdunkel schätze sie ihn auf Mitte 50.

„Das tut nicht nötig. Es ist alles in Ordnung“, antwortete er ruhig.

„Aber du weißt schon, daß man hier nicht parken darf. Du kannst froh sein, daß hier in der Nacht zu Sonntag nichts los ist, sonst wäre sicher schon die Polizei da.“

„Ich weiß.“

„Was machst du denn hier?“

„Ich genieße den Ausblick.“

„Hey, das ist ja eine grandiose Idee. Ich wollte das schon lange mal machen.“

Felicitas stellte sich neben ihn und blickte fasziniert hinunter in die dunkle Tiefe.

„Das ist wirklich toll.“

„Und nun kannst du dich wieder vom Acker machen.“

„Der Hafen schläft nie“, stellte Felicitas fest, „wie New York. Bist du zu Besuch hier?“

Felicitas betrachtete den Mann. Er war mittelgroß und kräftig.

„Spielt das eine Rolle?“

„Nein, eher nicht. Ich bin auf dem Weg nach Wilhelmsburg. Dort habe ich meine erste eigene Wohnung.“

„Dann wird es Zeit, daß du nach Hause kommst.“

„Die könnte ich mir eigentlich nicht leisten, aber es ist schon ein Vorteil, wenn man einen Vater hat, den man zwar kaum kennt, der aber sein schlechtes Gewissen mit Geld zu beruhigen versucht. Für den Hausgebrauch habe ich ja noch den anderen Vater, also bräuchte der echte gar kein schlechtes Gewissen zu haben. Doch so ist es äußerst praktisch für mich. Ich lebe von einem schlechten Gewissen. Das ist doch irgendwie schräg, oder?“

Nun sah der Mann Felicitas an.

„Du mußt das Geld ja nicht annehmen.“

„Dann wäre ich ja schuld, wenn er noch ein schlechteres Gewissen hätte. Außerdem soll man dem Schicksal nicht ins Handwerk pfuschen.“

Felicitas dachte kurz nach.

„Du willst doch nicht etwa von der Brücke springen?!“

„Warum nicht?“

„Ja, warum eigentlich nicht. Es muß ein irres Gefühl sein, so durch die Luft zu fliegen und dann mit dem Wasser vereint dem großen Meer entgegenzufließen.“

„Hast du Drogen genommen?“

„Ich wollte es mal versuchen, aber dann wurde ich doch ängstlich. Sie sollen ja das Bewußtsein erweitern und das ist für uns Künstler sehr wichtig.“

„Du bist Künstlerin?“

„Noch nicht, aber bald. Ich studiere an der Kunsthochschule. Mein Vater, also der mit dem schlechten Gewissen, denkt allerdings, ich studiere Jura. Wegen dieser Lüge habe ich nun ein schlechtes Gewissen, aber wenn ich berühmt bin und viel Geld verdiene, kann ich ihm das Geld ja zurückzahlen.“

„Es ist wirklich besser, du fährst jetzt nach Hause.“

„Damit du alleine von der Brücke springen kannst? Das erinnert mich an den Film „Titanic“. Wenn du springst, dann muß ich auch springen.“

„Bei dir ist doch ’ne Schraube locker.“

„Wieso? Ich will ja nicht springen, aber ich bin doch verpflichtet, dich zu retten .Ich bin eine sehr gute Schwimmerin, und sonst hätte ich mein Leben lang ein schlechtes Gewissen.“

„Die Wahrscheinlichkeit, daß wenn du unter angekommen, du überhaupt noch schwimmen kannst, ist gleich Null.“

„Woher willst du das denn wissen? Ich springe mit sehr viel Eleganz vom 10-Meter-Turm.“

Der Mann lachte leise.

„Bist du so naiv oder tust du nur so?“

„Wollen wir es ausprobieren? Vielleicht bin ich ja dein Schutzengel.“

„Und wenn nicht, dann müßte ich ein schlechtes Gewissen haben.“

„Wieso? Nach deiner Theorie wären wir doch beide tot. Meinst du, du würdest dann in die Hölle kommen?“

„Ich glaube nicht an so einen Scheiß.“

„Dann kannst du ja auch mit einem schlechten Gewissen sterben. Aber ich glaube daran, und deswegen muß ich auch hier bleiben.“

„Und wenn ich nun gar nicht sterben will.“

„Das glaube ich dir nicht. Du willst mich wegschicken, damit du in Ruhe springen kannst.“

„Nein, ich will hier in Ruhe die Aussicht genießen.“

Der Mann wurde zunehmend ungeduldig, beinahe nervös. Vor Jahren hatte sich seine Frau an dieser Stelle das Leben genommen. Sie war einfach gesprungen, und er wußte nicht warum. Er dachte, seine Ehe wäre glücklich gewesen, so glücklich wie eine Ehe eben sein konnte nach einer langen Zeit. Doch dann, über Nacht, war alles zerstört. Ihm war nichts als sein schlechtes Gewissen geblieben, das ihn bis in seine Träume verfolgte.

Felicitas seufzte innig.

„Ja, ich kann dich so gut verstehen.. Es ist eine wunderschöne Nacht. Selbst der Himmel ist nahezu sternenklar. Man möchte verschmelzen mit der Erde, dem Wasser, dem Universum.“

Mit einem kraftvollen Schwung erfüllte der Mann Felicitas Wunsch und bugsierte sie über das Geländer. Sie flog wenig elegant zu dem dunklen Wasser, mit dem sie sogleich verschmolz.             

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.03.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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