Gare du Nord, Paris, irgendwann gegen Ostern, 1999. Der typische Bahnhofslärm, hallende Schritte, das Echo der Ansagestimme unter dem hohen Glasdach der gigantischen Bahnhofshalle. Ich stehe mit meinem mindestens 50 Kilo schwerem Koffer auf einem der Bahnsteige und warte auf die Ankunft des Raketenzuges Thalys, der mich für ein paar Tage nach Deutschland bringen soll. Ich bin noch ganz benommen von meinem Spaziergang durch Paris. Wie so oft, das Einsteigen in die métro am Gare Montparnasse, dann eine Irrfahrt irgendwohin, an eine unbekannte Station, wo ich aussteige und einfach losmarschiere. Eine Odyssee durch Paris, ohne Anfang, ohne Ziel, ein simples Wahrnehmen der Pariser Atmosphäre. Der Ausflug führte mich dann(wie immer) abschließend auf das Dach der Galerien Lafayette, von wo aus sich ein herrlicher Blick über Paris bietet, Paris dem Betrachter zu Füßen, wie die Ornamente eines Orientteppiches. Ich stehe auf dem Bahnsteig, noch völlig verzückt, träumerisch. Doch dann...
"Maaanfreeed! Maaaaanfreeeed!!!" Eine schrille, hysterische Frauenstimme. Ich spüre, wie meine Gestalt ein wenig zusammensackt, wie, um mich unbewußt ein klein wenig unsichtbarer zu machen. Landsleute.
"Maaanfreeed!" Jetzt kommt die Frau, zu der die schrille Stimme gehört, in Sicht, eine etwas beleibte, ältere Person mit teigiger Haut und Korkenzieherlöckchen.
"Maman, c'est quoi, Manf...?" Ein kleines Kind neben mir zupft am Rock seiner Mutter und blickt diese fragend an, die Mutter zuckt verwirrt mit den Schultern. "Je ne sais pas."
"Manfred", erkläre ich lächelnd, "c'est lui", und deute auf den Berg von einem Menschen, der gerade den Bahnsteig heruntergeschnauft kommt. Das Kind sieht zunächst bewundernd auf mich, erstaunlich, wie jemand ein so schwieriges und unbekanntes Wort wie "Manfred" aussprechen kann(zumindest habe ich mich in dem kurzen Satz durch meinen Akzent nicht verraten, manchmal denken Leute eben doch, daß ich eine Französin wäre), dann richtet es seinen Blick auf meinen Landsmann. Eine massige Person, kurzatmig, ein rotes Gesicht mit Tränensäcken. Ein kugelrunder Bauch unter der feinen Geschäftskleidung.
"Kreisch hier nicht so rum, Helga!" motzt er die Frau(wohl seine Frau) an, dann stellt er sich neben sie und holt eine Bildzeitung aus seiner mitgebrachten Tasche. "Mein Gott", murrt er ziemlich laut, "war das schwer, in diesem Scheiß- Bahnhof eine vernünftige deutsche Zeitung zu finden." Zum Lesen derselben kommt Maaaanfreeed allerdings nicht mehr, denn der Thalys rollt gerade ein.
Ich verliere das Paar für einen Moment aus den Augen, denn mein höllisch schwerer Koffer nimmt meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Unter angestrengtem Schieben und Zerren schaffe ich es, ihn vor die Einstiegstür meines Wagons zu befördern, dann ist Schluß. Ratlos blicke ich auf die Stufen, ich kann den Koffer nicht hochheben.
"Lassense mich mal ran!" Mit einem schnellen Griff packt Maaaanfreeed meinen Koffer und hebt ihn ins Abteil. Er und seine Frau sitzen also im selben Wagon wie ich. Ich bin so perplex, daß ich nur ein leises "Merci Monsieur" stammele. Ohne weiter auf mich zu achten dreht sich der Mann zu seiner Frau um und bemerkt, wieder äußerst lautstark: "Die blöde Französin da hat wohl Steine in ihren Koffer gepackt!"
"Pssst Manfred", murmelt Helga mit einem Seitenblick auf mich, "vielleicht versteht die dich."
"Ach was, verstehen. Die Franzosen sind ein dummes Volk! Baguettefresser!"
Er watschelt den Gang hinunter und pflanzt sich auf seinen Platz. Mit Schrecken stelle ich fest, daß sich mein Platz dem Paar gegenüber befindet. Vorsichtig setze ich mich. Neben mir sitzt eine junge Frau, die im "Nouvel Observateur" liest und kurz ihre Zeitung sinken läßt, um mir freundlich zuzunicken. Maaanfred mustert uns beide verdrießlich, verliert dann aber das Interesse und schickt seine Frau ins Bordrestaurant, um Bier zu holen. Ein wenig belustigt denke ich, daß an diesem Tag wohl alle Klischees bezüglich der Deutschen vor meinen Augen heruntergespult werden.
Der Thalys fährt an, zunächst eine langsame, holprige Fahrt aus Paris heraus, dann Beschleunigung. Ich hole meinen Rousseau(Pflichtlektüre der Französischklasse) heraus und versuche gerade, mich zu vertiefen, als Helga, Manfreds Frau, mit dem Bier zurückkommt. Ein Heinecken.
"Pfui! Nicht mal richtiges Bier haben die Scheiß- Franzosen!" Maaaanfreeeeds Stimme klingt so laut, daß seine Frau errötet.
"Nicht so laut, Schatz."
"Ach was", knurrt er. Er reißt ihr den kleinen Plastikbecher aus der Hand, den sie ihm hinhält und gießt sich das Bier ein. "Naja, besser als nichts."
Bei seinem zweiten Glas kommt der Schaffner zu uns. Ich zeige ihm meine Karte, und da er sieht, daß sie von einem französischen Bahnhof stammt, quittiert er sie mit einem freundlichen "Bon voyage, Mademoiselle."
Bei Maaanfreeed muß er nicht erst auf das Ticket gucken, um seine Nationalität herauszufinden, denn die BILD leuchtet breit vor ihm auf dem Tisch. "Ihren Fahrschein bitte", sagt er höflich mit starkem belgischen Akzent.
Maaaanfreeed sieht ihn stirnrunzelnd an, Helga greift schnell in ihre Handtasche, "da, da" haspelnd, reicht sie dem Schaffner die Papiere, der dem Paar nach einem kurzen Hinblicken auch eine gute Reise wünscht und weitergeht.
"Hast du das gehört", ereifert sich Maaaanfreeed, "der Kerl kann nicht mal richtig Deutsch, wo sind wir denn hier!" Helga pflichtet ihm eiligst bei, wahrscheinlich will sie ihn nicht noch mehr aufregen. Nach ein paar hervorgestoßenen Grunzlauten, die sich verdächtig nach "so'n Scheiß" anhören, läßt der Deutsche schließlich den Kopf auf die Brust sinken und schlummert ein, vielleicht war das Bier wirklich nicht so gut.
Ich blicke aus dem Fenster und lasse meine Gedanken wandern. Rousseaus Geständnisse sind vergessen. Mir wird klar, daß ich nicht nach Deutschland zurück will, auch wenn es nur für wenige Tage ist. Systematisch formt mein Kopf keine deutschen Wörter mehr, kein Satz wird mehr auf Deutsch gedacht, Deutsch, diese unharmonische, harte, barbarische Sprache. Irgendetwas hat Frankreich in mir bewirkt, ich kann es nicht genau benennen, sind es seine Leute, seine Straßen, die weiten Felder der Beauce, das Dämmerlicht in der Kathedrale von Chartres, die verwitterten alten, im Wind schlagenden Fensterläden, die mir das Gefühl geben, zur Ruhe zu kommen? Das melancholische Grau des Winterhimmels über Paris, wo sich um die Weihnachtszeit zahlreiche Menschen vor den raffiniert geschmückten Schaufenstern des Samaritaine drängeln? Der französische Schulunterricht vielleicht? Es war das erste Mal, daß ich mich in einer Schule gefördert fühlte, gefördert durch die Tatsache, daß nur hieb- und stichfeste Argumente bei den Lehrern ankamen und nicht irgendwelches schleimiges Gefasel wie im deutschen Unterricht. Nachdenklich betrachte ich mein Spiegelbild in der Scheibe. Wenn ich ein Jahr länger bliebe, meine sprachlichen Mängel bereinigen würde, könnte ich mich zur Elite hocharbeiten. Wenn, wenn. Leider fährt der Thalys in die falsche Richtung. Mir fehlen die Mittel. Und wahrscheinlich glaube ich nicht fest genug an meine Fähigkeiten.
Ein lautes Geräusch läßt mich aus meinen Betrachtungen hochschrecken. Maaaanfreeed, dieses deutsche Schlachtroß, hat zu schnarchen begonnen. Die junge Frau neben mir kann sich ein leises Kichern nicht verkneifen, und selbst Helga, die sich für den Augenblick vor der Tyrannei ihres Mannes sicher wähnt, lächelt etwas boshaft. Maaaanfreeed bietet auch wirklich einen lustigen Anblick, der Kopf, fettig glänzend wie eine Schwarte, rollt von einer Seite auf die andere, ab und zu hebt er sich, um besagten grunzenden Schnarchlaut auszustoßen. Maaanfreeeds dicker Bauch wird von der Kante des schmalen Klapptisches inmitten unserer Sitzgruppe eingeklemmt, und ich bin mir sicher, daß Maaaanfreeed nachher einen breiten Striemen auf seiner Bauchdecke vorfinden wird.
"Nächste Haltestelle: Aachen!" schnarrt der Lautsprecher, und Maaaanfreeed fährt verstört aus dem Schlaf hoch. "Was, was?" Er reibt sich die Augen.
"Wir sind bald da, Liebling", sagt Helga diensteifrig, "soll ich dir noch ein Bier holen?"
"Hmmm? Er blickt sie aus trüben Augen an, dann kommt er langsam zu sich. "Ja, tu das."
Helga steht auf, und ihr Mann greift wieder nach der BILD. Alle paar Minuten höre ich ihn murmeln: "Loddar, du Drecksau", oder "Scheiß auf die Türken". Wenigstens bleibt das Heinecken, das seine Frau bringt, dieses Mal ohne Kommentar. Ich überlege, ob ich mich in einem schlechten Film befinde, aber im Grunde berührt mich dieses Gehabe kaum. Ich bin müde und habe nicht die beste Laune. Zu matt, um intensiv zu fühlen.
Köln. Wir fahren ein. Maaaanfreeed unterhält sich gerade lautstark mit irgendeinem Bruno am Handy. "Jaja, wir fahren gerade ein, werden schon langsamer... jaja... jaja..."
Der Bahnsteig mit meiner Familie hinter der Fensterscheibe. Meine Mutter, klein und zierlich neben meinem Vater, groß und gemütlich, mein Bruder, der ewig Rastlose und Hungrige, der gerade eine Pizza im Stehen verschlingt. Nichts hat sich verändert. Nichts. Ich fühle mich noch elender. "Vielen Dank, mein Herr", sage ich mit müder Stimme zu Maaanfreeed, der mir wieder meinen Koffer die Treppe hinunterreicht. Als ich zu meiner Familie hinübertrotte, habe ich nicht einmal Lust, mich nach seinem dämlichen Gesicht umzudrehen, das mir zweifelsohne hinterherstarrt.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.12.2002.
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