Alfred Hermanni

Der Hund und das Licht über den Bergen

 

Der Hund und das Licht über den Bergen

von Alfred Hermanni und Peter Jaskewitz

(Alle Rechte vorbehalten)                                                                       29.03.2010

Liebe Leser, diese Geschichte ist die Fortsetzung meiner Story: Bekifft in Deutschland- Freddy war hier

 

Eine Woche war es nun her, seit ich aus der Haft entlassen worden bin. Ich befand mich auf dem Weg in den Süden, um in der Urwald-Insel des Nationalparks Bayrischer Wald, des nahezu schönsten deutschen Grüns, die letzten drei Jahre meines Lebens vergessen zu machen. Niemand wusste von meinem Reiseziel, nicht mal meine lieben, treuen Eltern, die von meiner vorzeitigen Haftentlassung nichts wussten. Und das war auch gut so. Ich war nicht in der Stimmung zu reden und Fragen zu beantworten.

Gestern noch habe ich in aller Stille das Grab meines jüngeren Bruders Freddy besucht, der in Folge der schweren Misshandlungen durch das Wachpersonals eines Polizeigewahrsams verstorben war.

Wir wurden damals, Ende der 80ger Jahre, zusammen verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis gebracht. Dort wurde ich Ohrenzeuge der brutalen Übergriffe des Aufsichtspersonals. Als zudem auch ich noch von ihnen verprügelt werden sollte, wehrte ich mich. Sie wussten nicht, dass ich Kampfsportler war und durchliefen auf diese Weise einen wichtigen, schmerzhaften Lernprozess, bei dem ich der Lehrer war. Fünf von ihnen verletzte ich zum Teil schwer, aber der Anblick meines blutüberströmten kleinen Bruders hatte in mir Aggressionen geweckt, von deren Existenz ich bis dahin selbst nichts ahnte. Die Burschen machten aber eine wichtige Erfahrung: wie es sich anfühlt, von einem Gummiknüppel massiert zu werden bzw. von der eigenen Medizin zu kosten. Doch auch das ist jetzt Geschichte.

Vorläufig brauchte ich auch keinen Job. Ich hatte noch reichlich Geld gebunkert, das ich vor der Haft mit diversen krummen Geschäften verdient hatte.

Ja, ich war einmal ein schwerer Junge und ganz bestimmt kein harmloses Weichei.
 

Aber im Knast bin ich doch ins Grübeln gekommen.
Prägende, negative Beispiele gab es genug. Es war eine harte Zeit: Betrüger, Schläger, Mörder, Vergewaltiger oder Kinderschänder waren meine mehr oder weniger sympathischen Nachbarn bzw. Zellengenossen. Und viele von ihnen wurden plötzlich heilig. Aber nur solange sie im Knast saßen. Oder redeten ganz geschmeidig sich selbst bzw. den Sozialarbeitern ein, endlich was gelernt zu haben und spielten zur Not spielten sie auch tränenreich den reuigen Sünder, der nun ein neues Leben beginnen wollte. Meist war dieses Verhalten jedoch nur der sog. günstigen Zukunftsprognose oder einer bevorstehenden Begutachtung geschuldet, um Vollzugslockerungen zu ergattern: schauspielerisch eine unglaublich reife Leistung, mit der die tatsächliche Gefährlichkeit verborgen wurde. Wenn nötig wurde gar ein Anti-Gewalt-Training absolviert. Im Ergebnis lief es bei solchen Typen meist auf eine zeitweilige Anpassung hinaus, selten nur, dass ich von einer erfolgreichen Rehabilitation gehört hätte.
Hinzu kam die knastinterne Subkultur mit ihren ungeschriebenen Gesetzen und die subtile Hierarchie unter den Knackis, deren Struktur dem Aufsichtspersonal letztlich doch verborgen blieb. Fast alles war möglich: Vergünstigungen, unerlaubter Handybesitz, Drogenhandel. Sexuelle Übergriffe waren an der Tagesordnung. Mir selbst blieben sie erspart, weil sich mein Stunt herumgesprochen hat, den ich beim Kampf in der Untersuchungshaft abgeliefert habe. Sowohl das Wachpersonal wie auch die harten Jungs wagten sich nicht an mich heran, nachdem ich mir dank meiner Kampfsporterfahrung auch im Regelvollzug konsequent Respekt verschafft hatte. Und so lief ich quasi außerhalb der knastinternen Hierarchie nebenher und hatte meine Ruhe.
Das große Ziel aller aber war es, mit einer Halb- oder Zweidrittelstrafe davonzukommen bzw. einer Sicherungsverwahrung zu entgehen.
Viele meiner Zellengenossen, die nach dem Knastaufenthalt nur Pläne für weitere totsichere Coups mitnahmen, wurden wieder erwischt oder scheiterten und mussten wiederum absitzen - so eine Art Drehtüreffekt für Knackis, für Unverbesserliche.
Eine solche Karriere schwebte mir nun gar nicht vor. So wollte ich auf keinen Fall enden. Wenn, dann wollte ich Deutschland von außen und nicht von innen im Knast kennenlernen, wollte reisen und, und, und …

 

In mir reifte der feste Entschluss, ernsthaft ein neues Leben zu beginnen. Noch war ich jung genug: Keine Deals mehr, keine Treffen in dunklen Ecken oder üblen Spelunken. Keine Angst vor einer schweren Polizei-Hand, die sich irgendwann auf deine Schulter legt, keine Angst vor den Worten: „Sie sind verhaftet!“ All das sollte von nun an hinter mir liegen. Ich musste mich öffnen für die andere Welt außerhalb meiner angestammten Subkultur im kriminellen Milieu, wenn ich einer emotionalen Verwahrlosung entgehen wollte. Das habe ich erkannt und muss eingestehen, dass diese Knasterkenntnis somit etwas Gutes bewirkt hat.

Deshalb hatte ich mir vorgenommen, zunächst einige Tage im Bayrischen Wald zu verbringen, zu wandern, die Natur zu genießen und mich neu zu orientieren. Sozusagen ein wenig Selbstfindung zu betreiben und in mich zu gehen. Ich war auf der Suche nach Inspiration… - wollte mich neu erfinden, innere Blockaden beseitigen und mein Leben neu sortieren. Und wo ging so etwas am besten? Ganz klar: an einem Ort, mit dem man schöne Erinnerungen verbindet.
 

Es war nicht mehr weit bis zur Autobahn-Ausfahrt, von der es dann auf die waldreichen Landstraßen ging. Noch dreißig bis vierzig Kilometer waren es bis zum Ziel, einem kleinen Dorf kurz vor der tschechischen Grenze. Ich freute mich schon auf diese letzten Kilometer. Eine kurvenreiche Strecke in einer idyllischen Kulisse erwartete mich. Genau richtig für mich und meine Kawasaki…

 

 

 

Nur noch ein paar Kurven, und ich hatte es geschafft. Die letzten Kilometer auf der sich durch eine herrliche Waldlandschaft mäandrierenden Straße ließen in mir das Gefühl der grenzenlosen Freiheit aus längst vergangenen Zeiten neu aufleben. Damals gehörte ich einer Rockerbande im Ruhrgebiet an, und Niemandem war es möglich, uns diese ureigene Art der Freiheitsliebe zu nehmen. Aber auch das ist jetzt Geschichte.

Vor mir lag die letzte Kehre vor dem Dorf. Ich schaltete einen Gang herunter, legte mich in die Kurve und gab am Scheitelpunkt noch einmal ordentlich Gummi und fuhr schwungvoll aus ihr heraus, drehte den Gashahn auf und  - sah plötzlich einen Hund, mitten auf der Fahrbahn.

Bremsen, Bremse lösen, und mit einem eleganten Manöver zog ich das Motorrad an dem Tier vorbei, bremste hart mit der Vorderbremse, noch härter mit der Hinterradbremse und brachte mein Bike entgegen der Fahrtrichtung zum Stehen.

Der Hund wandte seinen Kopf zu mir, trabte langsam zum Straßenrand und blieb stehen. Er stand mit dem Rücken zu mir, seinen Blick nach hinten gerichtet, schaute er mich an und bewegte sich nicht.

Es war ein großer, schwarzer, kräftig wirkender Hund. Schwierig zu sagen welcher Rasse er angehörte, wahrscheinlich ein Bastard. Aber wie er so dastand, erinnerte er mich doch sehr stark an das Bild eines Wolfes von Alfred W. Kowalski: Darauf ist ein einsamer Wolf zu sehen, der seinen Blick nach hinten richtet, und in einer wenig Trost spendenden Winterlandschaft den Betrachter in eine Stimmung versetzt, die nur verstehen kann, wer den Wolf kennt, wer wie ein Wolf denkt, wer selbst ein Wolf ist. Für mich ist es eines der schönsten Bilder dieses Malers.

Der Hund stand noch immer am Straßenrand und blickte zu mir. Ich nahm meinen Helm ab und schnalzte mit der Zunge, ließ einen kurzen Pfiff ertönen, aber das Tier regte sich nicht und schien mich gleichgültig anzusehen.

Ich rief ihm ruhig, freundlich und nicht zu laut ein: „Hallo, wer bist du denn?“ herüber, aber unbeeindruckt trottete der Hund davon, verschwand im Unterholz und ließ sich nicht mehr blicken.

Ich wendete mein Motorrad und fuhr langsam den letzten Kilometer zur Pension. Zwar lag meine Ankunft außerhalb der Feriensaison, aber genauso wollte ich es haben, nur nicht zu viele Menschen um mich herum …

 

 

Der Empfang durch die Wirtin war mehr als herzlich. Kindheitserinnerungen kamen in mir hoch. Damals noch mit meinen Eltern, an die ich gerade jetzt sehr intensiv und mit Wehmut zurück dachte, aber auch als Jugendliche, waren mein jüngerer Bruder und ich oft hier gewesen. Wir hatten stets eine schöne Zeit im Wald oder unten im Dorf bei den Mädchen verbracht.
Die Wirtin, mittlerweile selbst schon im Pensionsalter, freute sich fast ein Bein aus als sie mich erkannte.

„Da ist er ja, der Didi, komm her mein Kleiner, lass dich umarmen, Dieter!“, rief sie in der typischen Mundart dieser wunderschönen Landschaft und drückte mich herzlich an ihren üppigen Busen.

„Wie lange warst du schon nicht mehr hier? Geht es dir gut? Wie geht es Freddy?“
Die Erwähnung seines Namens ließ einen Anflug von Trauer in meinem Gesicht erscheinen, der Tante Wilma, wie wir unsere Pensionswirtin schon als Kinder immer nannten, nicht verborgen blieb.
„Was ist mit ihm?“, wollte sie sofort wissen.

„Ich erzähle es dir später, lass uns erst einmal hereingehen“, versuchte ich mich um eine Antwort herumzudrücken.

„Doch hoffentlich nichts Schlimmes?“, ließ sie nicht locker. Ich schluckte einen dicken Kloß hinunter und musste ein paar Tränen zurückhalten, als wir in die gute Stube gingen, in der ich Tante Wilma dann alles erzählte ...

Später am Abend saßen wir noch bei einem Glas Wein zusammen, schauten ins Kaminfeuer, als Tante Wilma aufseufzte und mich mit ihrem mütterlichen Blick ansah.

„Das also hast du aus dir gemacht. Aus einem stets fröhlichen Jungen wurde ein nörgeliger Eigenbrötler. Und dann bist du auch noch ein schwerer Junge geworden, erst ein Rocker, dann ein Ganove und zum Schluss ein Knacki. Und Freddy hatte dich zum Vorbild. Kein Wunder, dass es so enden musste“, fasste sie kurz und treffend zusammen. Der Vorwurf war unüberhörbar, und er traf mich tief ins Mark. Ducken war jedoch zwecklos, denn sie hatte nun mal recht. Was ist nur aus meiner einst positiven Sicht der Dinge geworden? dachte ich. Wo blieb mein Humor? Ja, es stimmt, momentan bin ich eher introvertiert, verschlossen  - und nörgelig wie Wilma schon sagte.

„Ich wollt´, ich könnte es ändern. Glaub es mir. Aber ich habe mit diesem Kapitel abgeschlossen und werde ein anderes Leben beginnen. Hier bei dir beginnen meine ersten Schritte. Deswegen bin ich hier“, entgegnete ich matt. Ein wenig fad klang meine Antwort schon, aber es war mir dennoch sehr ernst damit, weil ich unbedingt meinen inneren Frieden, meine Mitte finden wollte.
Schon immer hatte ich mich für meinen kleinen Bruder verantwortlich gefühlt, und ja, ich hätte ihn schon lange vorher von diesem Weg abbringen müssen, statt mein Negativ-Beispiel vor mir her zu tragen. Darin lag mein Versagen, meine große Mitschuld.

„Es ist nie zu spät, den rechten Weg zu finden. Du hast recht“, stellte Tante Wilma abschließend fest und lächelte mich versöhnlich an. Auf ihre Weise erlöste sie mich zeitweilig von meinen Selbstvorwürfen.

„Es lässt sich nicht mehr ändern. Was geschehen ist, das ist geschehen! So traurig Freddys Schicksal auch ist“, sagte sie fest.

Noch eine Weile sprachen wir über die Vergangenheit, auch darüber, dass sie Leo, ihren Mann, vor drei Jahren verloren hat. Sie hatte es danach nicht leicht. Aber mit der ihr eigenen Zuversicht machte sie weiter und betrieb die Pension erfolgreich als One-Woman-Show weiter. Der Wein legte sich nach und nach bleischwer auf meinen Geist und meine Glieder. Ich wurde müde und ließ den Abend ausklingen. Mit schweren Schritten schlurfte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer, legte mich hin und war augenblicklich eingeschlafen.

 

 

Am Morgen nach dem Frühstück ging ich hinaus zu meinem Motorrad und checkte es durch. Wie erwartet, gab es nichts zu beanstanden, alles war im grünen Bereich, selbst der Ölverbrauch war relativ gering, trotz der langen Strecke und hohen Geschwindigkeit, mit der ich die Maschine über die Autobahn getrieben hatte. So manch´ Autofahrer wird entweder den Angstschweiß auf der Stirn gehabt oder mir sehnsüchtig hinterher geblickt haben. Mit Tante Wilmas Hochdruckreiniger wusch ich meine Kawasaki GPZ 900 R und stellte sie nach dem Trocknen und Polieren in die Garage zurück.
Gerade wollte ich wieder ins Haus zurück, als ich mich, einem unbestimmbaren Gefühl nachgebend, umdrehte und ihn wieder sah: den Hund. Er trabte auf der anderen Straßenseite vorbei, würdigte mich jedoch keines Blickes und verschwand hinter der nächsten Hausecke.
„Ich hab gerade einen großen, schwarzen Hund gegenüber gesehen. Kennst du ihn?“, fragte ich zu Tante Wilma gewandt.

„Carlos? Aber ja, der gehört zu dem Haus an der Straßenecke. Eine jüngere Frau, zugereist, lebt dort allein. Sie hat mehrere Hunde. Carlos wurde vor einiger Zeit angekettet auf einem einsamen Hof gefunden, dessen Besitzer verstorben war. Der hatte ihn gar nicht gut behandelt und wohl auch geschlagen. Erbärmlich sah das Tier aus, und es lässt bis heute niemanden an sich heran. Marion, so heißt die junge Frau, hat ihn aufgenommen, aber mehr als das Futter will der Hund von ihr nicht. Und so lässt sie ihn in Ruhe.“

„Ich hätte ihn gestern beinahe überfahren“, teilte ich Wilma mit.

„Ja, er läuft hier frei umher, hat aber bisher noch niemandem etwas getan“, antwortete sie.

„Es ist ein sehr großes Tier, es hat irgendetwas wölfisches an sich“, befand ich.

„Der Nachbar des verstorbenen Besitzers sagte, es wäre ein Wolfshund“, entgegnete Wilma.
„Ein Wolfshund? Hier, in Deutschland?“, fragte ich.

„Warum nicht. Von der tschechischen Seite, aus dem Böhmerwald, kommen sie. Es hat in den letzten Jahren einige Wolfsichtungen gegeben. Sogar ein Braunbär soll gesehen worden sein.“

„Was ist das für eine Frau, die mit den Hunden?“, wollte ich wissen.

„Sehr viel weiß ich nicht über sie, auch sie lässt keinen an sich heran. Ähnlich wie Carlos, der Hund.“ Tante Wilma schien einen Moment zu überlegen, bevor sie weitersprach.
„Sie ist Witwe, ihr Mann war wohl drogensüchtig und ist daran gestorben. Sie lebt von der Stütze und fährt manchmal herunter nach Deggendorf, um dort ein wenig zu arbeiten. Ich glaub´, sie lebt jetzt seit knapp einem Jahr hier. Vorher wohnte sie in München.“
„Hat sie Kinder?“, hakte ich nach.

„Ich hab bisher noch keine bei ihr gesehen“, war die Antwort.

„Ich will morgen früh zu einer Wandertour aufbrechen, könntest du mir bitte ein Proviantpaket zurechtmachen und für morgen früh auf den Tisch stellen? Ich werde zeitig aufstehen“, wechselte ich das Thema.

„Natürlich, Dieter. Kein Problem, ich werd dir was Leckeres einpacken. Was hast du denn heute noch vor?“

„Eigentlich gar nichts. Ich tu´ mir die Ruhe an, vielleicht gehe ich ein wenig ums Dorf spazieren und schau nach alten Bekannten.“
„Mach das“, bestätigte mich Wilma.

                                                                                                                                                                                            

 

Wie stets wurde ich früh wach und betrieb meine Körperpflege ebenso langsam wie mit Genuss. Nach dem Duschen schritt es zu einer ausgiebigen Rasur, der die Zahnpflege folgte. Dann folgte ausgiebiges, gemütliches Frühstück. Zum Ende trank ich noch einen großen Pott Kaffee. Mir war klar, dass ich lang vermisste Bedürfnisse ausglich  - alles Dinge, die mir im Knast gefehlt haben. Während ich gedankenverloren und versonnen an meinem Kaffee nippte, sah ich Carlos durch das offene Fenster. Er lief langsam an Wilmas Haus vorbei. Es war ein sehr schönes, großes Tier. Seine langen Beine und der spitz zulaufende Kopf ließen ihn tatsächlich wie einen Wolf aussehen.

Als ob er meinen Blick gespürt hätte, blieb er stehen und schaute mich durch das offenstehende Fenster an. Behutsam näherte ich mich dem Fenster, der Hund fixierte mich weiter, und als ich meinen Kopf ein wenig aus dem Fenster reckte und leise mit der Zunge schnalzte, fing Carlos an zu knurren, richtete seine Nackenhaare auf und duckte sich.

Langsam, ihn im Blick, bewegte ich mich rückwärts, nahm ein Stück Fleischwurst vom Tisch und warf es ihm vorsichtig zu. Er behielt seine drohende Haltung bei und witterte. Langsam und geduckt bewegte er sich auf das Stück Wurst zu und beschnüffelte es misstrauisch, bevor er es blitzschnell packte und verschlang.

Ich lockte ihn mit einem weiteren Stück Wurst in meine Richtung und sprach leise und beruhigend auf ihn ein. Immer noch geduckt kam er langsam näher, ließ die Lockwurst aber nicht aus den Augen. Ich sprach weiter leise zu ihm und warf ihm das letzte Stück in den halb geöffneten Rachen, in dem es auch sofort verschwand.

Er blickte mich an, und ich konnte zum ersten Mal in seine Augen sehen. Hellbraun waren sie. Gelbe Einsprenkelungen in der Iris ließen ihn noch mehr wie das Raubtier aus Grimms Märchen erscheinen. Ich spürte die düsteren Anteile seines Wesens, gleichwohl lag in seinen Augen so etwas wie eine tiefe Sehnsucht.

Ich streckte meinen Kopf wieder langsam aus dem Fenster, doch der Hund wich zurück, so als wenn er sich bereits viel zu weit vorgewagt hätte, drehte sich schnell herum und lief fort.

 

 

Zwei Stunden dauerte mein Spaziergang zum Dorf und in die nähere Umgebung. Mein Walkman bot mir nach der phantastischen Musik von Pink Floyd die virtuosen Soli von Mark Knopflers schluchzender Gitarre dar, die er einfach genial und einfühlsam in die Kompositionen der Dire Straits einbettete. Und so konnte ich mich gut entspannen.
Dabei kam ich zufällig am Haus der jungen Frau mit den Hunden vorbei. Aus dem Garten hinter dem Haus erklang plötzlich das Gebell mehrerer Hunde. Ein ganzes Rudel kam um die Hausecke gerannt und veranstaltete am Zaun eine lautstarke Choreografie aus Bellen, Springen, Jaulen und drohendem Knurren.

Es waren allesamt Mischlinge von groß bis klein, und jeder von ihnen glaubte, dass nur sein persönlicher Einsatz mich von ihrem ureigenen Revier abhielt.

Doch dann tauchte der große, schwarze Carlos kurz auf, blickte gleichmütig um die Hausecke und verschwand wieder im Garten. Wie einem unhörbaren Befehl folgend, ließen mich die anderen Hunde genauso plötzlich von mir ab und verschwanden hinterm Haus.

Von der jungen Frau war aber nichts zu sehen und zu hören. Wahrscheinlich war sie im Dorf, um Geld hinzuzuverdienen.

Auch ich wandte mich ab, um meines Weges zu gehen. Einem unbestimmten Gefühl folgend, drehte ich mich um und sah gerade noch, wie Carlos seinen Kopf zurückzog, er guckte irgendwie so, als sei er ertappt worden und müsste sich für etwas schämen. Diesmal ging ich aber weiter und blieb nicht stehen. Man hat ja schließlich auch seinen Stolz. Außerdem verspürte ich Hunger und wollte an Tante Wilmas Mittagstisch.

 

 

Früh am nächsten Morgen, verließ ich bei Sonnenaufgang mein Bett. Ich brühte mir einen frischen Kaffee auf, goss ihn mit ein wenig Zucker in die Thermoskanne und füllte auch eine Feldflasche mit Mineralwasser auf. Tante Wilma hatte mir ein großes Lunchpaket zusammen mit einem Orangensaft auf den Frühstückstisch gestellt. Ich brauchte es nur noch in meinen Rucksack zu packen und konnte losgehen. Leise schloss ich die Tür hinter mir und begann mit meiner ersten Wanderung.

Noch war es recht düster, aber es war schön, mit den ersten Sonnenstrahlen im Rücken den grünen Hügeln entgegenzugehen und mit dem Gezwitscher der Vögel den Tag zu begrüßen. Heute wollte ich noch nicht ganz so weit ausholen und mich ein wenig fit machen für die nächste größere Wandertour.

Mein Weg führte am Wald entlang und verlor sich in den aufsteigenden Nebeln des frühen Morgens. Ich folgte einem schmalen Pfad, dessen Verlauf sich vermutlich im Laufe der Jahrzehnte herausgebildet hat. Von früher wusste ich, dass es nach ungefähr drei Stunden einen Abzweig gab, der wieder ins Dorf zurückführte.
Ein leises Rascheln hinter mir erregte meine Aufmerksamkeit. Ich drehte mich um, aber da war nichts zu sehen. Augenblicke später zeigte sich jedoch die Kontur eines großen Wolfshundes: Carlos. In sicherem Abstand blickte er zu mir herüber. Ich rief ihm einen beruhigenden, freundschaftlichen Gruß zu. Er stellte seinem Kopf schief, so als wenn mir zuhöre und ließ seine Zunge heraushängen. Ich glaubte so etwas wie Schwanzwedeln wahrgenommen zu haben. Dann aber drehte er sich wieder abrupt um und verschwand schnell im Unterholz. „So, so…“, sprach ich mehr zu mir selbst und musste lächeln. Ist das etwa der Beginn einer wundervollen Freundschaft?
Der Abzweig zum Dorf war bald erreicht. Ich kehrte danach zu Tante Wilma zurück. Carlos habe ich aber nicht mehr gesehen. Ich freute mich auf das Mittagessen.  Es sollte Sauerbraten geben, mein Lieblingsgericht. Tante Wilma hatte es trotz meiner langen Abwesenheit nicht vergessen.
Für heute hatte ich auch genug. Ich spürte die morgendliche Wanderung ordentlich in den Waden. Ja, der Knast hat seine Spuren in der Konstitution hinterlassen, dachte ich. Am nächsten Tag, wollte ich meine Wandertour erweitern, um mich nach und nach in Form zubringen.

 

 

Der nächste Tag begann ein wenig wolkenverhangen. Auch diesmal verließ ich die Pension in aller Frühe, wohl ausgerüstet mit Wilmas Lunchpaket. Ich nahm einen Weg in südlicher Richtung. Stetig steiler werdend führte mich der Weg den Berg hinauf und wand sich nach einer Kurve in ein dichtes Waldgebiet hinein. Und wieder war es ein leises Rascheln und eine schwarze Nasenspitze, die mir die Anwesenheit eines mittlerweile nicht unbekannten Begleiters anzeigte. Carlos gab sich noch immer scheu und fremdelte, obwohl ich mich bemühte, ihm meine Sympathie durch freundliche Worte zu signalisieren. Wieder verschwand er danach im Dickicht. Aber nicht so schnell wie gestern. Es schien mir, als wenn er zugehört hätte, denn der Schwanz wedelte ein wenig länger.
Es kündigte sich Regen an. Ich roch es, und so beschloss ich, noch schnell eine Brotzeit einzulegen.
Schließlich setzte ich mich auf einen gefällten dicken Baumstamm und erfreute mich am Duft des schönen Lunchpakets von Tante Wilma. Ich begann es auszupacken.

Irgendein Gefühl ließ mich umdrehen, und dann sah ich ihn wieder - den Hund. Er stand einfach nur da und schnüffelte in meine Richtung. Gute zwanzig Schritte lagen zwischen ihm und mir. Ich brach ein Stück von meinem Wurstbrot ab und warf es ihm zu. Er fraß es. Noch ein Stück ließ ich zu ihm fliegen.

„Damit du auch was zum Frühstück hast“, sprach ich leise zu ihm und sah, wie er seine Ohren spitzte: „Du möchtest also noch ein Stück?“, flüsterte ich und ließ meinen Worten sogleich Taten folgen. Ich brach ein weiteres Stück ab. Er legte seinen Kopf schief und schaute mich auffordernd an. Ich warf ihm das Stück Wurstbrot zu, und diesmal fing er es in der Luft und schlang es hinunter. Er kam näher. Auch das nächste Stück schnappte er wieder in der Luft. Jetzt wedelte er ausgiebig mit seinem Schwanz, kam mit tiefliegendem Kopf  - einer Demutsgeste gleich -  sehr nahe an mich heran und beschnupperte mich ausgiebig. „Es stimmt also“, sagte ich leise und freundlich  in seine Richtung, „Liebe geht durch den Magen, oder?“

Ich wollte noch näher an ihn heran. Doch dann machte ich einen Fehler und stand zu schnell auf. Im Nu drehte er sich um und war im Wald verschwunden. „Na gut“, murmelte ich, „vielleicht sehen wir uns ja bald wieder.“

Ich setzte mein Frühstück fort und sah zu, dass ich mich auf den Rückweg begab, denn es hatte angefangen, zu regnen. Doch die Regentropfen konnten meine Stimmung nicht trüben. Zulange hatte ich das ausgeglichene regenfreie Knastklima über mich ergehen lassen müssen, so dass ich die Tropfen auf meiner Haut regelrecht genoss. Der etwa vierstündige Rückweg fiel mir diesmal leichter, auch wenn es manchmal bergauf ging. Meine Kondition schien sich gebessert zu haben. Es hatte aufgehört zu regnen, so dass meine Kleidung trocknen konnte. Und belohnt wurde ich mit dem Anblick eines wunderschönen Regenbogens, als die Nachmittagsonne die Wolken durchbrach. Ich verharrte respektvoll und blieb stehen, überließ mich meinem Staunen über dieses herrliche Schauspiel der Natur, so als hätte ich so etwas zum ersten Mal gesehen. Nach einer Viertelstunde verblassten seine Farben, bis er sich nach und nach verflüchtigte.
Spät in den Nachmittagsstunden kehrte ich heim und war zufrieden, aber doch ein wenig müde. Der Hund ließ sich trotz der heutigen gemeinsamen Brotzeit nicht mehr blicken.

 

 

Schon sehr früh am nächsten Morgen wollte ich mich auf den Weg zum Gipfel des nahen Berges machen. Nach der Morgentoilette und einem ausgiebigen Frühstück begann ich meine Wanderung. Dankbar registrierte ich Tante Wilmas Einfühlungsvermögen, die mich besser als jeder studierte Seelenklempner verstand und unterstützte. Sie ließ mich weitgehend in Ruhe und schenkte mir durch ihr Lächeln all das, was ich jetzt brauchte. Hier zeigte sich: Die einen müssen es studieren, andere konnten es!
In guter Stimmung schritt ich aus. Diese war Voraussetzung dafür, diese Tageswanderung zu bewältigen. Zunehmend wurde es heller und heller.

 „Das wird ein schöner Tag“, dachte ich.

Dachte ich … - und ahnte nicht im Geringsten, welch´ Überraschungen meiner harrten.

Ahnungslos genoss ich meine Reise und überließ mich wieder meinen Gedanken. Ein anderer Teil meiner Persönlichkeit registrierte das Rauschen des Waldes und des Bachlaufs, der sich träge ins Tal herunter wand. Die Geräusche des Kleingetiers und das Zwitschern der vielen verschiedenen Vögel bildeten einen klangvollen Background und weckten die Musik in mir. Spontan fiel mir ein Song aus den siebziger Jahren ein. Ich dachte an Cat Stevens´ “Morning has broken“. Nie und nimmer hätte ich geglaubt, zu solchen romantischen Gedanken fähig zu sein, ausgerechnet ich, der ich so etwas früher allenfalls als einen krankhaften Zustand naturbesessener Spinner oder Müsli-Esser abgetan hätte.

Wie ich es mir schon vorher ausgerechnet hatte, erreichte ich den Aussichtspunkt auf dem Berg, als die Sonne die letzten aufsteigenden Nebel verdampfte und mir einen atemberaubenden Ausblick auf das Grün der Täler und Anhöhen bot. Majestätisch stieg der rote Glutball und Spender allen Lebens innerhalb zweier bewaldeter Berggipfeln in der Ferne empor. Irgendwo aus Richtung Polen hob er sich herauf und tauchte die Umgebung in ein sanftes rotes Licht. Seine milden Strahlen wärmten mein Gesicht. Das war doch mal ein Morgen, ganz und gar nicht so, wie er sich im Knast anfühlte…
Dieses Licht über den Bergen und die grenzenlose Freiheit der mich umgebenden  Natur, diese universelle Ahnung von göttlichem Schaffen rings um mich herum, hinterließ den Anklang einer nie erlebten Demut und von Frieden in mir, so das mir fast die Tränen kamen: als hätte ich so etwas noch nie erlebt, noch nie einen Wald, noch keinen Hügel oder die Sonne gesehen ... Und allmählich machte sich eine große Zufriedenheit und Erleichterung in mir breit. Ich erkannte, dass meine Pseudo-Probleme eigentlich nichtig und klein waren  - gemessen an dieser Demonstration unseres Himmelsterns. Es war wohl meine ganz persönliche Katharsis, die mich umfing und mir danach eine nahezu unerschöpfliche Energie einhauchte…


Die Sitzgelegenheit lud zur Brotzeit ein. Und gab es dazu eine schönere Stelle als diesen Platz hoch über den Tälern? Mit Genuss verzehrte ich die Brote, die mir Tante Wilma zubereitet hat. Einige Male sah ich mich in der stillen Hoffnung um, meine Mahlzeit mit Carlos teilen zu können. Aber der ließ sich nicht blicken. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass sich zwischen uns eine Verbindung, ein Band gebildet hat. Jedenfalls mochte ich ihn und hoffte, dass das auch der Hund so sah …

Nachdem ich meinen restlichen Proviant im Rucksack verstaut hatte, machte ich mich wieder auf die Reise, über den alten Rundweg. Der fast vergessene Pfad führte ins Tal hinab, wo ein weiterer schwerer, steiler Aufstieg auf mich wartete, um wieder zu Tante Wilma zu kommen. Nahezu eine gute Stunde benötigte ich, um den Kamm zu erreichen. Auch hier genoss ich eine wahrhaft prächtige Aussicht, legte eine kurze Rast ein und folgte dem ausgetretenen Fußweg auf dem Kamm entlang, bis ich das Ende erreichte und wieder hinab ins Tal sehen konnte.

Ich hörte ein leises Plätschern, nicht weit von mir entfernt. Langsam schlenderte ich in diese Richtung und entdeckte eine Quelle, aus der es leise sprudelte. Hier also ist die Mutter des Bachlaufs, dachte ich. Ich nahm einen kräftigen Schluck Wasser und füllte meine Thermoskanne auf. Dann gönnte ich mir eine kleine Pause, setzte mich für eine kurze Weile auf einen Findling neben die Quelle und beobachtete versonnen, wie das Wasser den Berg hinab floss.

 

 

Plötzlich vernahm ich Geräusche, leise Stimmen. Irgendwo, unterhalb von mir, befanden sich andere Menschen. Meine Neugier war geweckt. Ich ging leise den Berg hinab, um festzustellen, wer sich außer mir in dieser Einsamkeit tummelte. Immer deutlicher vernahm ich deren Stimmen, bis ich bemerkte, dass es kein Deutsch war, mit dem sie sich verständigten. Es hörte sich nach einer osteuropäischen Sprache an.
Ich wollte nicht indiskret sein und näherte mich einer Felskante. Vorsichtig blickte ich nach unten. Plötzlich wurden die Stimmen lauter und hektischer.
Und dann sah ich sie. Eine Gruppe von etwa zehn Personen, Männer und einige gut aussehende Frauen, durchquerte die kleine Schlucht und redete wild durcheinander.

Unvermittelt blieb der vorderste, ein kräftig aussehender Mann stehen und brüllte irgendetwas, während er sich umdrehte. Einige aus der Gruppe zuckten zusammen und duckten sich ängstlich. Eine schwarze Lockenmähne und ein Vollbart umflossen das Gesicht des schreienden Cholerikers. Er erinnerte mich sofort an Cat Stevens, nur das dieser wesentlich zierlicher war. Ich musste innerlich grinsen, hatte ich doch vor einigen Stunden über die Musik eben dieses jungenhaften Sängers in romantischer Stimmung nachgedacht.
Die anderen Gruppenmitglieder verstummten, einige wichen sogar zurück. Nur eine junge Frau hob trotzig ihren Kopf und schüttelte ihn verneinend. Sie sagte etwas in Richtung des Schreihalses, was ich natürlich nicht verstand. Ihre ganze Körpersprache deutete aber auf Protest hin.

Der Typ ging zornig auf sie zu, hob den Arm, und schlug ihr heftig ins Gesicht. Sofort ging sie zu Boden, kam mit Mühe auf ihre Knie und hielt sich die deutlich gerötete Wange, auf der sich bereits eine Schwellung in der Nähe des Auges abzeichnete. Sie begann hemmungslos zu weinen.

Ein junger Bursche, vielleicht ihr Bruder oder Freund, achtzehn bis neunzehn Jahre jung, beugte sich zu ihr herunter, sah ihre Verletzung, blickte auf und stürmte plötzlich auf den Schläger zu. Er rammte ihm seinen Kopf in den Bauch, und beide stürzten nieder. Aber der Junge hatte keine Chance. Die Lockenmähne wälzte sich auf ihn und verpasste ihm mehrere kräftige Fausthiebe und anschließend einen Kinnhaken.

Der Bursche war sofort bewusstlos. Und dann geschah das Unfassbare. Der Schläger griff in seine Jacke und zog eine Pistole hervor. In aller Ruhe steckte er seine Hand in die Außentasche seiner Jacke, und ein Schalldämpfer kam zum Vorschein. Den schraubte er seelenruhig auf den Lauf seiner Pistole. Dann sagte er etwas zu der jungen Frau, blickte sie an und schoss dem jungen Burschen kaltblütig in den Kopf, um den sich eine Blutlache bildete. Eine völlig unerklärliche Handlung.

Drei andere Männer aus der Gruppe zogen plötzlich ebenfalls Waffen aus ihren Jacken hervor. Mir wurde klar, dass es sich um Menschenschmuggler handeln musste.
Sie richteten ihre Pistolen auf die restlichen Gruppenmitglieder. Einer von ihnen riss die junge Frau auf die Beine, während der Mörder drohend auf sie zu kam.

Er richtete die Waffe auf ihren Kopf und rief etwas Unverständliches in Richtung der anderen „Einwanderer“. Vielleicht hatten die Frauen unter ihnen erfahren, dass ihr nächster Job nicht in einem Haushalt, sondern im Bordell stattfinden sollte. Die Frau blickte angstvoll zu ihrem Peiniger hin und fügte sich wohl in ihr Schicksal. Sie folgte den anderen mit gesenktem Kopf, als sich diese in Bewegung setzten.


Ich wollte mich aber heraushalten und weg. Eine jegliche Nähe zu dieser Angelegenheit konnte einem Ex-Knacki wie mir nur schaden. Leise bewegte ich mich rückwärts vom Rand der Felskante weg, als unter mir plötzlich der Boden nachgab und mit einem Haufen Schutt als kleine Geröll-Lawine abwärts polterte. Ich drohte abzustürzen. Es gelang mir gerade noch, mich abzufangen und an einem Gebüsch festzuhalten. So konnte ich mich aufrichten. Die dabei entstandenen Geräusche blieben bei den Leuten unten nicht ungehört. Nach einem typischen „Plopp“ eines schallgedämpften Schusses flog sogleich eine Kugel haarscharf an mir vorbei und schlug dicht neben meinem Kopf in den Baumstamm einer jungen Birke ein. Einige Holzsplitter trafen mich ins Gesicht. Die nächste Kugel streifte mein Bein an der linken Wade, und der Schmerz ließ mich aufstöhnen. Die nächste Kugel traf mich am linken Oberarm, ebenfalls nur ein Streifschuss wie ich feststellte, aber höllisch schmerzhaft.

Nur weg von hier! dachte ich voller Panik und rannte los. Hinter mir hörte ich das undeutliche Gebrüll der Schleuser. Höchstwahrscheinlich werden sie mich verfolgen. Nein, nur einer wird mir folgen, die anderen werden auf die Gruppe achten, wurde mir klar. Egal, ich musste schleunigst von hier verschwinden. Die Schmerzen waren höllisch, aber eine Wahl blieb mir nicht. Ich war Zeuge eines Mordes, und mit sich reden lassen würden sie nicht, das war sicher. Die mussten mich beseitigen.

Mein Vorteil war, dass sie die Felskante so schnell nicht hinauf kommen würden. Diesen kleinen Vorsprung musste ich irgendwie ausnutzen. Ich brauchte ein Versteck, um meine Wunden zu untersuchen und möglichst schnell zu behandeln.

Ich spürte, dass mein Arm feucht wurde und Blut aus meinem Jackenärmel zu Boden tropfte. Damit hinterließ ich natürlich eine prima Spur für meinen Verfolger.

Ich zog die Jacke aus, schlang sie um meinen Bauch und verknotete die Ärmel.

Dann schaute ich mir meinen linken Arm genauer an. Sah nicht so toll aus, aber ich hatte Glück im Unglück. Der Streifschuss hat zum Glück keine Muskelmasse verletzt, sondern nur tiefere Hautschichten. Gleichwohl verlor ich sehr viel Blut.

Aus meinem Halstuch machte ich mir einen notdürftigen Verband, den ich abschließend mit einer Hand und den Zähnen verknotete. Dann hetzte ich weiter. Die Blutung war zunächst einmal abgebunden.
Nach einiger Entfernung blieb ich stehen und sah mir den Streifschuss an meinem Bein an. Durch den Riss in der Hose konnte ich die Wunde erkennen. Hier hatte ich noch mehr Glück. Die Kugel hatte mein Bein nur oberflächlich gestreift, und es war kaum Blut, sondern nur Schorf zu sehen.

Ich ging eine paar Schritt zurück, um meine Blutspur zu finden. Dort wo ich meine Wunde behandelt hatte, hörte sie auf. Soweit, so gut. Ich blickte nach vorn und sah etwa zwanzig Meter zu meiner Linken ein kleines Areal, mit Felsen übersät.

Dorthin lief ich, bog dann nach rechts ab, von Fels zu Fels springend, sah zurück und entdeckte aber keine Blutspritzer auf den Felsen.

Ich sprang nun weiter auf den Felsen und gelangte wieder zu einer Bruchkante. Eine etwa fünf Meter tiefe kleine, enge Schlucht tat sich vor mir auf. Hier ging es ohne Seil nicht weiter.

Geduckt und darauf bedacht keine Spuren zu hinterlassen, ging ich am Rande der Schlucht weiter. Doch dann verließ mich mein Glück. Wahrscheinlich infolge des Schocks durch die Einschüsse muss mein Kreislauf abgefallen sein, so dass ich stolperte und den Hang hinab in die Tiefe rutschte. Bis auf den Umstand, dass ich mir nur meine Kleidung verschmutzte, passierte mir jedoch nichts. Unten richtete ich mich auf und tastete mich nochmals ab. Ich hatte zum Glück keine weiteren Verletzungen, nur harmlose kleine Prellungen. Aber deutliche Spuren, die habe ich hinterlassen. Und wo sich mein Rucksack befand, wusste ich auch nicht mehr.

Ich hastete weiter in der Hoffnung, aus dieser Falle zu entkommen und hörte plötzlich einen triumphierenden Schrei. Man hatte mich wohl entdeckt oder zumindest eine Spur, die ich hinterlassen habe. Oder galt der Schrei gar nicht mir? Unwahrscheinlich!

Ich musste aber weiter, immer weiter. Dann sah ich das Ende der Schlucht, und ein derber Ausspruch entglitt meinem Mund. Ich befand mich in einer Sackgasse. Hier ging es nicht mehr weiter. Eine mindestens drei Meter hohe, zu beiden Seiten senkrechte Felswand bildete das Ende dieses Weges. Ich musste also umkehren. Doch als ich mich umdrehte, blickte ich direkt in die Mündung der Waffe meines Verfolgers. Er war tatsächlich allein und stand etwa drei Meter entfernt.

„Scheiße!“, presste ich mit zusammen gebissenen Zähnen hervor und hob meine Arme.

„Ja, Scheiße für dich. Dumm gelaufen“, antwortete mein Verfolger erstaunlicherweise in deutscher Sprache und kam langsam näher. Drohend richtete er seine Pistole auf meinen Kopf.
Langsam beschlich mich ein echt mieses Gefühl. Der Kerl machte bestimmt keinen Spaß und würde mich hier abknallen, dass stand fest nach dem Mord an dem jungen Burschen. Er stand noch zwei Schritte entfernt vor mir und grinste mich an, machte noch einen Schritt voran und drückte mir den Lauf seiner Pistole an die Stirn.

„Ist wirklich nicht dein Glückstag heute“, sagte er selbstsicher und grinste mich höhnisch an.

Deiner auch nicht, dachte ich. Meine Reflexe reagierten nahezu automatisch, als ich mit einer schnellen Bewegung der linken Hand seine Pistole nach oben schlug und in einer fließenden Bewegung zugleich mein rechtes Knie mit voller Wucht in seine Weichteile rammte. Er schrie auf, krümmte sich vor Schmerzen und verneigte sich sozusagen vor mir. Ich wollte nicht unfreundlich sein und verneigte mich ebenfalls, jedoch in Form eines blitzschnellen heftigen Kopfstoßes, bei dem das Nasenbein meines Gegners ein hässliches, knirschendes Geräusch von sich gab. Mit verdrehten Augen ging er zu Boden und blieb liegen. Auch ich stöhnte nun vor Schmerz, weil meine eigene Aktion wieder die Wunde am linken Arm aufgerissen hat. Ich nahm meinem bewusstlosen Gegner seine Pistole aus der Hand und verpasste ihm zur Sicherheit mit dem Knauf noch einen Schlag auf seinen Schädel. Der war erst einmal außer Gefecht.

Ich wollte mich gerade aufrichten, knickte aber sofort ein, weil mir heftig in die Kniekehle getreten wurde. Dabei kam ich auf meiner Waffe zu liegen. Er war also doch nicht allein, ein Kumpan hatte sich angeschlichen und wollte das beenden, was sein Vorgänger nicht vermocht hatte.

„Nicht bewegen! Waffe weg!“, befahl er mir mit deutlichem, osteuropäischen Akzent. Ich warf die Pistole weg und hockte nun auf den Knien, mit beiden Händen am Boden. Ich hatte keine Chance. Es war der Kerl mit der Lockenmähne, der Doppelgänger von Cat Stevens, der Mörder.

Er ging einige Schritte zurück, um Abstand zu bekommen und legte auf mich an. Völlig humorlos drohte er mir: „Langsam aufstehen! Keine falsche Bewegung, die Hände hoch!“
Mir blieb keine Wahl. Ich gehorchte, stand ganz langsam auf und hielt die Hände gehoben.

„Willst du die Kugel kommen sehen, oder dich lieber umdrehen?“, fragte er dreckig grinsend, völlig siegesgewiss. Ich antwortete: „Ich will mich umdrehen, du Arschloch!“

Dass es sich um einen Choleriker handelte, wusste ich bereits und erkannte die plötzliche Wut in seinen Gesichtszügen.

„Für diesen Spruch lasse ich dich langsam sterben!“, stieß er hervor. „Dreh´ dich um, und sag´ gute Nacht, Game Over oder So long, Bursche, denn jetzt fährst du direkt zur Hölle!“, während er den Hahn spannte und auf mich zielte. Er machte allerdings den Fehler, in seinem Zorn näher an mich heranzukommen.
Das hatte ich in meiner letzten Hoffnung auch bezweckt. Körperkontakt war meine einzige Chance. Ich ließ mich fallen, drehte mich währenddessen aus seiner Schusslinie und griff nach einem faustgroßen Stein, der mir kurz vorher aufgefallen war. Mit aller Wucht warf ich ihn in seine Richtung. Davon ließ sich der Typ irritieren und duckte sich instinktiv weg, um dem Wurfgeschoss auszuweichen. Zeit genug für mich, ihn mit einem Fußfeger von den Beinen zu holen. Dabei verlor er seine Waffe und machte den Fehler nach ihr zu suchen. Sogleich griff ich an und deckte ihn mit einer Serie von Kettenfauststößen in den Unterleib ein, die ich einst beim Win-Tsun-Training eingeübt hatte. Der Kerl stöhnte auf und ging zu Boden. Allerdings vertrug er mehr als ich erwartet hatte. Es gelang ihm, sich ebenfalls wegzudrehen und auf die Beine zu kommen. Er musste über Erfahrungen im Boxsport verfügen, denn er nahm die typische Haltung ein und griff mich an. Aufgrund seiner Körpergröße verfügte er über eine recht große Reichweite und konnte einige schmerzhafte Körpertreffer bei mir landen. Ich spürte, dass ich langsam an meine Leistungsgrenze gelangte. Außerdem hatten die Kettenfauststöße die Wunde an meinem linken Arm noch weiter aufgerissen. Der Mistkerl bekam mich zu fassen, als ich kreislaufbedingt taumelte. Er packte mich am Hemd und zog mich langsam an sich heran. Dabei fluchte er ununterbrochen, sein Sabber und Mundgeruch waren unerträglich. Zeit für mich, ein wenig Kräfte zu sammeln. Ich setzte ihm scheinbar einen leichten Widerstand entgegen und ließ mich zu ihm heraufziehen, ganz nahe. Hasserfüllt blickte er mir in die Augen.
„Dachtest du tatsächlich, dass du mich austricksen kannst, du Hundesohn?“, keuchte er. Da ich ja bekanntlich höflich bin, schien es mir wieder an der Zeit, mich zu verneigen. Das tat ich auf die mir eigene Art und Weise. Ich platzierte einen heftigen Kopfstoß in das Gesicht meines Gegners. Er schrie auf vor Schmerz und ging mit blutiger Nase zu Boden. Zu meinem Pech jedoch in die Nähe seiner Waffe, die er mehr instinktiv als bewusst ergriff.

Es gelang mir nicht mehr, aus der Schusslinie zu gelangen. Ich konnte mich lediglich abwenden. Dann hörte ich auch schon den Schuss und spürte einen heftigen Aufprall der Kugel in meiner linken Schulter. Ich wurde von der Wucht um meine eigene Achse gedreht und ging in die Knie. Die Umgebung begann vor meinen Augen zu verschwimmen. Wie in Zeitlupe konnte ich sehen, wie er ein zweites Mal auf mich anlegte und den Finger krümmte. Ich ergab mich in mein Schicksal. Gleich würde ich Freddy, meinem kleinen Bruder gegenüberstehen und ihm viel zu erklären haben …

Doch bevor mein Gegner ein zweites Mal schießen konnte, ertönte unvermittelt ein tiefes bedrohliches Knurren.
Mein Gegner drehte seinen Oberkörper halb zur Seite in die Richtung des Geräusches, als auch schon mein Schutzengel in der Gestalt eines dunklen wolfsartigen Schemens auf ihn zugeflogen kam.
Es war Carlos, der Partei ergriff. Er verbiss sich mit roher Gewalt sofort in seiner Pistolenhand, was ich als hässliches Knacken von berstenden Knochen zu hören bekam. Da war er, mein großer schwarzer Hundefreund. Carlos hatte sich eingemischt und fiel nun mit wölfischer Hingabe über den Kerl her. Er riss ihm etliche Wunden in Arm und Gesicht. Das markerschütternde Geschrei des Mistkerls sowie das wütende Knurren des Hundes vermischten sich zu einer geradezu perversen Geräuschorgie von hohen und tiefen Tönen, wie ich sie noch nie gehört habe. Ich selbst, einer Ohnmacht nahe, vernahm dann nur noch einen letzten Aufschrei. Und dann war plötzlich Stille. Ich sah verschwommen, dass der Kerl sich nicht mehr rührte und wie ein letzter Schwall Blut aus seinem Hals sprudelte, der den Boden um ihn herum rot färbte. Dann sah ich nichts mehr, mir wurde endgültig schwarz vor Augen, und mir schwanden die Sinne.

 

 

 

Als ich erwachte war es dunkel. Mir war kalt. Die Schmerzen in meiner Schulter brannten höllisch vor sich hin. Übel war mir auch. Ich setze mich mühsam auf. Langsam gelang es mir, mich auf die Knie zu hocken, als ich auch schon kotzen musste. Dann riss die Wolkendecke auf, und im Mondlicht konnte ich halbwegs etwas erkennen. Der Hund war weg, der erste Verfolger auch. Nur ich und die Leiche des anderen waren noch hier. Um zurück zu gehen, fehlte mir einfach die Kraft. Ich hatte wohl sehr viel Blut verloren. Außerdem würde ich in meinem Zustand bei Dunkelheit kaum den Weg zurück finden. Und mein Rucksack war weg. Das heißt: kein Wasser, kein Proviant.  Ich musste also den Morgen abwarten.


Und so saß ich da, zwischen Wachen und Delirium. Es dauerte gefühlte hundert Stunden, bis die Morgendämmerung einsetzte und ich mich kraftlos und stolpernd auf den Rückweg begab. Ich fühlte mich jämmerlich, mir war noch immer kotzübel. Kaum hundert Meter hatte ich geschafft, als mir wieder schwindelig wurde und ich mich erst einmal auf einen Felsbrocken hinsetzten musste. Mein Kreislauf machte nicht mit, wurde mir klar.

Die Wunden schmerzten mich sehr, und ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Die wenigen Meter in die Höhe zu klettern, um die Schlucht zu verlassen, war in meiner Verfassung kaum möglich. Wie weit der Weg hinaus aus dieser Sackgasse noch war, konnte ich nicht sagen. Also weiter, immer weiter, weiter ... Wieder wurde mir schwindelig, und ich fiel in eine gnädige Ohnmacht. Als ich erwachte stand die Sonne schon recht hoch am Himmel, und ich fror auch nicht mehr so sehr. Die Wunde in der Schulter machte mir jedoch zu schaffen, mein Hemd war mittlerweile völlig blutdurchtränkt. Das Pochen in der Wunde wurde immer heftiger. Ich brauchte dringend Hilfe, erkannte ich. Doch wie weit musste ich noch gehen? Würde ich den Weg ins Dorf überhaupt finden?

Kraftlos und apathisch schleppte ich mich weiter, und dann sah ich ihn wieder. Carlos.

Er stand vor mir und winselte leise. Dann bellte er und lief ein Stück weiter, kam zurück, bellte wieder und lief wieder ein Stück voran. So, als ob ich ihm folgen sollte. Hast wohl auch die alten Lassie-Filme gesehen, dachte ich in einem Anflug morbiden Humors und stolperte ihm hinterher.

Nur mühsam konnte ich einen Schritt vor den anderen setzten. Mehrmals musste ich anhalten und durchatmen. Sehr langsam, Schritt für Schritt, ging ich weiter, bis ich das Ende der Schlucht erreicht hatte und ein Hang mit nur wenig Gefälle den Eingang zur Schlucht markierte. Mit letzter Kraft kroch ich den Hang hinauf und verlor wieder das Bewusstsein.

 

 

„Er kommt jetzt wieder zu sich“, hörte ich von weither eine mir fremde Stimme, als ich meine Augen öffnete. Ich sah in das Gesicht einer bärtigen langhaarigen Erscheinung in der Kleidung eines Krankenpflegers. Er hatte eine starke Ähnlichkeit mit: Ja wem wohl? -  Cat Stevens. Nicht schon wieder Cat Stevens, dachte ich. Aber langsam klärte sich mein Blick. Die Ähnlichkeit war doch nicht so groß, wie ich es in der ersten Schrecksekunde glaubte.

„Gott sei dank, Didi, wie geht es dir? Was ist passiert? Ich bin ja so froh, das du noch lebst“, hörte ich von der anderen Seites des Krankenbettes Tante Wilma schluchzend zugleich mehrere Fragen stellen.

„Wo bin ich?“, fragte ich noch einmal völlig desorientiert und mit kraftloser Stimme.
„Du bist im Krankenhaus. Es wird alles wieder gut“, sagte Tante Wilma.

„Wie habt ihr mich gefunden?“, fragte ich matt. Wilma erzählte mir alles.

„Wir haben dich nicht gefunden. Carlos war es, der uns zu dir führte. Er tauchte wild bellend bei uns auf. Zum Glück war Marion zuhause und hat ihn sich genau angesehen. Das ganze Blut um seine Schnauze hat uns sehr erschreckt. Wir wussten ja nicht, was passiert war. Dann lief er in Richtung Wald, kam zurück und lief wieder los. Genau wie bei Lassie oder ähnlichen Tierfilmen. Jedenfalls bekamen wir es mit der Angst zu tun, weil du ja auch noch nicht von deiner Wanderung zurück warst. Ich habe die Polizei verständigt, und dann sind wir zusammen Carlos gefolgt. Es hat lange gedauert, ehe wir dich fanden. Ohne Carlos hätten wir das nicht rechtzeitig geschafft. Der Arzt sagte, einige Stunden später, und es wäre um dich geschehen gewesen. Du wärst verblutet“, berichtete Tante Wilma.

In einem Anflug skurrilen Humors stellte ich lächelnd fest: "Noch nie habe ich ein Wurstbrot so gut investiert!“
Wilma sah mich verständnislos an, so dass ich ihr von ihren Wurstbroten berichtete, die der Hund und ich gemeinsam verzehrt haben, womit ich schließlich Carlos´ Freundschaft und Zutrauen gewonnen habe. Jetzt verstand sie und lachte ebenso herzlich.

„Und wo ist Carlos jetzt?“, fragte ich bang, weil ich eine böse Ahnung hatte.

„Natürlich bei Marion, zuhause. Sie hat ihn erst einmal gebadet, so verdreckt wie er war, und dann gab es zur Belohnung eine dicke Fleischwurst von mir. Deren guten Geschmack kannte er ja wohl, nicht Didi?“, scherzte jetzt auch Wilma.

Ich richtete mich auf und blickte um mich. Der Pfleger war mittlerweile gegangen, und ich war allein mit ihr.

„Hat man den Toten gefunden?“, fragte ich leise.
„Ja, das haben sie. Der Kerl wurde schon lange von der Polizei gesucht“, sagte Wilma.

„Wissen die, dass Carlos den Mistkerl getötet hat?“, fragte ich.

„Einer der Polizisten glaubt es zumindest. Aber erst wollen sie deine Aussage hören. Dann wird entschieden, ob Carlos eingeschläfert werden muss“, berichtete Tante Wilma.

Vehement widersprach ich: „Das darf nicht passieren. Wir müssen Carlos retten! Würdest du bitte Marion fragen, ob sie ihn zu einer bestimmten Adresse bringen kann? Ihr Schaden soll es nicht sein. Ich möchte ihr den Hund gern abkaufen, und am Geld soll es nicht scheitern. Ich werde großzügig sein. Aber sie soll sich beeilen, bevor Carlos etwas geschieht. Und sobald ich hier heraus bin, kümmere ich mich um alles Weitere. Vielleicht wäre es auch ganz gut, wenn sie bis zu meiner Entlassung bei Carlos bliebe. Ich komme für alle Kosten auf und werde noch etwas drauflegen. Tante Wilma, könntest du dich bitte während der Zeit, die sie von Zuhause fort ist, um ihre restlichen Hunde kümmern?“, ereiferte ich mich.

„Natürlich, Dieter, das werde ich machen. Wenn Marion es nicht kann, werde ich das übernehmen, ist doch klar. Aber du wirst mir erst einmal gesund, sonst rühre ich keinen Finger.“

Gute alte Tante Wilma, dachte ich erleichtert und lächelte. Dann sank ich zufrieden in meine Kissen zurück.

 

 

Ein halbes Jahr später gingen Marion, Carlos und ich durch einen schönen Park in meiner Heimatstadt spazieren. Sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine Vorstellung davon, wie schön Dortmund ist.

Zum Glück war mir und ihr nichts Gravierendes wegen der Hundesache passiert.
Die bayrische Polizei begnügte sich angesichts ihres großen „Fahndungserfolges“ mit meiner Aussage, dass Carlos, mein Hund, mich nur verteidigt und den Angreifer im Verlaufe des Handgemenges getötet hatte, bevor dieser noch einmal abdrücken konnte. Mein zunächst bewusstloser Gegner wurde ebenfalls gefasst und hat meine Aussage letztlich bestätigt. Die eingeschleusten Personen wurden zu deren Leidwesen wieder in ihre Heimatländer abgeschoben. Wer weiß, wozu es gut war! Nicht zuletzt hatte sich Tante Wilma bei dem ermittelnden Kripobeamten, mit dem sie weitläufig verwandt war, sehr für mich eingesetzt. So kam es, dass meine Vorstrafe in dieser Angelegenheit, nicht ins Gewicht fiel und ich auf freiem Fuß bleiben konnte.


Ich hatte festgestellt, dass es sich bei Marion um eine hübsche Frau handelt, die gleichermaßen klug und von großer Herzenswärme war. Und wir kamen uns langsam näher  - und ins Gespräch. Sie war wohl gerade ohne Freund, und nach dem Tod ihres drogensüchtigen Ehemannes nur zögernd bereit, sich nach einem anderen Mann umzusehen. Sie sah sich als mitschuldig dafür an, dass sie durch ihre ständige Hilfsbereitschaft und Duldung, die Drogensucht ihres Mannes eher befördert als bekämpft hat. Erst nach dieser düsteren Erfahrung hatte sie lernen müssen, dass es etwas wie Co-Abhängigkeit gibt.
Aber mir war sie auf Anhieb sympathisch, roch gut und hatte diesen besonderen tiefgründigen Blick, den ich bei Frauen so mochte. Ein sinnlicher voller Mund. Und ein herrliches Lächeln, das fast immer auch ihre Augen erreichte, wenn sie denn lachte  - blaue Augen, herrlich geschwungene Brauen und lange Wimpern, die eingebettet waren in ein Gesicht, noch schöner als das der Mona Lisa. Und wenn diese Augen die sprichwörtlichen Fenster zu ihrer Seele waren, dann habe ich das Paradies gesehen… Dunkles volles Haar umrahmte ihr Gesicht, um dann auf ihre schmalen Schultern zu fallen. Sie passte somit perfekt in mein Beuteschema. Und diese langen Beine, die eine so perfekte Komposition mit ihrer übrigen Figur bildeten. Ich war hin und weg, auf der Stelle, verliebt  - nur Marion wusste nichts davon, jedenfalls hatte ich es in meiner Scheu noch nicht zu erkennen gegeben. Aber ich war sicher, dass sie es ahnte. Da wuchs etwas heran, zarte Bindungen, die sich langsam in eine tiefe Zuneigung wandelten. Und außerdem mied sie meine Nähe auch nicht gerade. Bis heute weiß ich nicht, wer am Ende wessen Beute war  - sie gab mir aber das Gefühl, dass ich sie erobert und verzaubert hätte. Ein schönes Gefühl, dort oben auf Wolke sieben…
Wir kamen uns näher, und nach dem ersten zarten Kuss sahen wir uns immer öfter. Bald täglich. Marion war bezaubernd. Und die Schmetterlinge in meinem Bauch kamen gar nicht zur Ruhe… Sie war eine hochgebildete und selbstbewusste Frau, die bildende Kunst  - mit einer Affinität zu Auguste Rodin bis hin zu abstrakten Darstellungen von Bronze- und Eisenskulpturen wie denen von Henry Moore -  studiert hatte. Sie blühte regelrecht auf, wenn sie davon erzählen konnte. Und ich hörte ihr ebenso gern zu.
Wir haben uns zwar nicht gesucht, aber dennoch gefunden. Dass sie gerade meine Nähe suchte, machte mich glücklich. Es wurde am Ende eine intensive, flammende Liebesbeziehung. Ich dachte nur an sie und zählte die Tage, Stunden und Minuten ihrer Abwesenheit.
Und es wurde Zeit, dass ich sie über meine Vergangenheit in Kenntnis setzte, in aller Offenheit und mit allem, was dazugehört. Das habe ich getan, gestern Abend bei einer Flasche Rotwein. Mit Angst und Neugier zugleich. Angst, weil ich fürchtete, dass sie sich abwenden könnte und Neugier, weil ich wissen wollte, wie sie auf einen weiteren Problemfall reagiert. Und als Problemfall sah ich mich durchaus an  - bei dieser Vergangenheit. Doch da habe ich mich getäuscht. Es war genau richtig mit der Wahrheit herauszurücken. Sie ahnte sie schon, zumindest zum Teil, denn auch sie hatte vor längerer Zeit von Tante Wilma nebenbei erfahren, um wen es sich bei mir handelt. Also: Vertrauen gegen Vertrauen…


Freddy, mein kleiner Bruder fehlt mir sehr, aber sein Lebenskreis hatte sich vollendet. Und ich muss mein Versagen ihm gegenüber als Bestandteil meiner Vita akzeptieren. Als ich dies eines Abends erkannte, war mir so, als wenn er mich grüßen und mir mit seinem verschmitzten Lächeln aus grauen Gefilden zuwinken würde, den Daumen nach oben gereckt, irgendwo hinter einem großen Schleier, der ihn verbarg, noch unerreichbar für mich.

Marion und ich sind jetzt ein Paar und freuen uns darüber, dass es gerade Carlos war, der uns letztendlich zusammenbrachte. Auch ihm geht’s wohl gut, zumindest hört das Gewedel seines Schwanzes nie ganz auf. Wie ich letztlich sein Vertrauen gewonnen habe, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht konnte er mich gut riechen. Oder es war die Liebe, die durch den Magen geht. Ich weiß es nicht. Aber ich bin froh, endlich wieder einen treuen Freund zu haben, einen Freund, der bereits bewiesen hat, dass er auch in der Not zu mir steht ...

 

Ja, und was ist mit dem vielen Geld, das ich einst gebunkert habe, werden sie fragen. Ganz so lebensfremd bin ich auch nicht und werde es in den nächsten Jahren vorsichtig einsetzen. Mal sehen, vielleicht richte ich Marion ein eigenes Atelier ein. Und ich selbst? Ja, ich fange vielleicht mit dem Schreiben an  - wollte ich schon immer, und warum eigentlich nicht? Über diesen Plan mag man vielleicht lächeln, aber wie sonst könnte ich als Ex-Knacki überhaupt auf die Beine kommen?
Tja, und meine Kawasaki habe ich verkauft. Ich werde mir eine Maschine mit Beiwagen zulegen, um Marion und natürlich Carlos mitnehmen zu können.

Ein letztes noch. Morgen möchte ich Marion meinen Eltern vorstellen. Und sie ist einverstanden damit. Die ahnen noch gar nicht, dass ich wieder ein freier Mann bin, dazu noch verliebt. Ein Mann, der Verantwortung übernehmen möchte und außerdem einen treuen Freund hat: Carlos.

 

 

 

Ende   

Liebe Leser, in der Story "Bekifft in Deutschland - Freddy war hier" findet ihr die Vorgeschichte
des Protagonisten, Kategorie Drama. Auch in "Der Gejagte" ,Thriller, spielt er eine wichtige Rolle. "Heimliche Hatz" ,Romane, ist eine überarbeitete und längere Fassung von "Der Gejagte".  Den Abschluss bildet "Sein letzter Job", Thriller.



 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.03.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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