Christiane Mielck-Retzdorff

Auf verschlungenen Wegen

   

 

Michael schleppte zwei Plastiktüten mit Lebensmitteln durch den Flur der WG-Wohnung in die Küche, stellte sie ab und schlenderte verschwörerisch grinsend zurück auf dem Flur. Schwungvoll öffnete er eine Tür in ein Reich der Unordnung, wo eine Gestalt am Schreibtisch hockte und ungehalten ausrief:

„Kannst Du nicht anklopfen?“

„Wieso denn das“, fragte der Störenfried mit gespielter Unschuld, „ dich kann man doch höchstens so von der Last des Lernens befreien.“

„Du Komiker. Ich versuche wenigstens ernsthaft zu studieren.“

„Ich etwa nicht“, antwortete Michael fröhlich, „ aber die Hormone fordern eben auch ihr Recht, sonst vernebeln sie den Geist.“

„Ja, ja, dafür ist aber deine Susanne zuständig“, bemerkte Paul entnervt. „Was willst Du eigentlich?“

„Dich aus deinem medizinischen Einsiedlerleben herausholen. Du siehst schon ganz blaß aus.“

„Auf die stupiden Mädels, mit denen Du mich verkuppeln willst, kann ich dankend verzichten“, wehrte Paul ab.

„Nun mal nicht so voreilig. Diese ist etwas ganz besonderes. Sie studiert Psychologie.“

„Das fehlt mir gerade noch“, sagte Paul und blickte endlich von seinen Büchern hoch. Ich brauch keine Therapeutin sondern ein Examen.“

„Na, soweit ist die noch lange nicht. Ich schätze mal erstes Semester, also noch recht jung und unverbraucht.“

„Nein, wirklich, kein Bedarf.“

„Ey, Alter, Du brauchst endlich mal ’ne Freundin, so mit allem drum und dran, dann klappt’s auch mit dem Lernen.“

„Für so was habe ich gar keine Zeit“, antwortete Paul müde, doch Michael ignorierte diese Bemerkung.

„Ich habe sie an der Kasse im Supermarkt kennengelernt. Ein süßes Ding. Blonde Haare, klasse Figur und echt nett. Sie arbeitet da als Aushilfe. Es war gerade nichts los, und wir haben ein bißchen geplaudert. Einen Freund scheint sie nicht zu haben. Guck sie Dir doch einfach mal an. Das mit Euch könnte passen.“

„Ok, wenn ich mal Zeit habe, gehe ich in den Supermarkt und grase alle Kassiererinnen ab, aber nun will ich lernen“, beendete Paul das Gespräch.

 

Der Zeiger der Uhr wanderte gegen acht als Paul meinte, sein Kopf würde platzen, wenn er noch einen weiteren Gedanken dort hineinpressen müßte. Er brauchte dringend frische Luft. Draußen auf den Straßen war noch reger Betrieb in der warmen Sommerluft. In den Cafes saßen fröhliche Gäste und genossen den Ausklang der Woche bei Kaffee oder Wein. Pauls Füße trugen ihn wie selbstverständlich zu dem Supermarkt, wo er erst kurz hinter der Eingangstür stehen blieb. Verwundert über sein eigenes Handeln sah er sich um und wollte gerade gehen, als er an einer der Kassen ein junges Mädchen entdeckte. Eigentlich war es eher eine junge Frau, aber über ihrem Gesicht lag dieser Hauch von Unschuld, der ihr die Aura unberührter Jugend gab. Kein Kunde störte ihren träumerisch ins Nichts gerichteten Blick.

 

Paul sah sich etwas hilflos um und griff dann nach einem Apfel aus der Kiste mit Angeboten neben sich. Er ging zur Kasse und legte ihn sorgsam aufgerichtet vor der Frau auf das Förderband. Sie sah Paul direkt in die Augen, dann auf den einsamen Apfel und betrachtete diesen lächelnd. Erneut blickte sie auf Paul und ihr Lächeln verwandelte sich in ein strahlendes Lachen. Umfangen von einem seltsamen Zauber gestaltete sich vor ihm eine Bild und er sagte:

„Eigentlich war es ja andersherum.“

„Gut“, sagte die junge Kassiererin, „dann wollen wir die Geschichte mal nicht umschreiben“, und nahm die Apfel in die Hand. „Wenn ich Ihnen den Apfel nun gebe, droht auch keine Vertreibung aus dem Paradies sondern nur ein kleiner Betrag in Cent.“

Paul hatte den Eindruck, wenn er jetzt bezahlen und gehen würde, wäre er aus dem Paradies vertrieben. Er blickte hektisch auf die Uhr. 19.55. In fünf Minuten würde der Supermarkt schließen.

„Oh, ich sehe, sie sind in Eile“, deutete die Frau seine Geste, wog schnell den Apfel und nannte den Preis.

„Nein, nein, so war das nicht gemeint“, korrigierte er sie schnell. „Ich heiße übrigens Paul. Wollen Sie gleich mit mir einen Kaffee trinken gehen?“

Paul hatte Schweißperlen auf der Stirn angesichts seines eigenen Mutes, doch seine Worte wurden erneut mit einem Lächeln belohnt und einem Blick aus meerblauen, von dunklen Wimpern überschatteten Augen, der seinen Herzschlag zum Stolpern brachte.

„Ich heiße Simone“, schwebte von ihren Lippen in sein Ohr, „und ich freue, mich nach diesem anstrengenden Tag noch ein wenig in der Abendsonne zu sitzen.“

 

Die beiden hatten das Glück noch einen Platz in einem der überfüllten Cafes zu finden. Paul, der das Gefühl hatte, von Nebeln umhüllt zu sein, die jede äußere Wahrnehmung schluckten und sich in der Unwirklichkeit eines Traumes zu befinden, suchte verzweifelt nach einem ersten Satz, einer Einleitung für etwas, von dem er nicht wußte, was es war, das er jedoch festhalten wollte. Doch kein intelligenter Gedanke ließ sich in dem ungewohnten Wirrwarr seines Kopfes fangen, und so begann er mit einer banalen Feststellung:

„Du heißt also Simone.“

Die Angesprochene nickte ein wenig schüchtern.

„Wie Simone de Beauvoir“, versuchte Paul Eindruck durch Wissen zu wecken.

Simone war schon einmal auf die Namensgleichheit hingewiesen worden und kannte diese berühmte Freundin von Sartre.

„Ja, aber ich bin keine Feministin.“

„Und wie steht es mit offenen Beziehungen?“ fragte er weiter und errötete sogleich ob seiner Direktheit.

„Um Gottes Willen, nein“, wehrte Simone entschieden ab. „Da bin ich eher konservativ.“

Paul war erleichtert. Das Gespräch verstummte, was die junge Frau wenig zu stören schien. Zuerst beobachtete sie interessiert die anderen Gäste, dann starrte sie sinnierend auf die Pflastersteine.

Paul war ärgerlich, weil er sich nicht in der Lage fühlte, ein anregendes Gespräch in Gang zu setzen. Die junge Frau mußte ihn für sterbend langweilig halten. War er das nicht sogar. Hilflos fragte er:

„Was denkst Du?“

„Ach, allerlei Unsinn. Den willst Du bestimmt nicht hören.“

„Doch“, beteuerte Paul eifrig, „ das interessiert mich.“

„Siehst du dort die Pflastersteine? Sie liegen so ruhig und gleichmäßig da und werden von allen Menschen unbeachtet mit Füßen getreten. Einige spucken sogar auf sie. Dabei sind sie so wichtig, aber das bemerken die Menschen erst, wenn die Steine nicht mehr da sind und sie durch den Matsch waten müssen. Doch auch dann vermissen sie nicht diese Steine, sondern beschimpfen die Obrigkeit, weil dort keine Steine mehr sind.“

Paul ließ diese Worte auf sich wirken.

„Du meinst also, es ist wie bei den Menschen, jenen die unbemerkt ihren Dienst für uns alle tun, die aber niemand für das, was sie leisten, würdigt. Man vermißt sie erst, wenn sie fehlen und dann auch nicht sie persönlich, sondern irgend jemanden, der ihren Dienst tut.“

Simone sah Paul glücklich an und ergänzte:

„Ja, es ist wie bei einem Zahnrad. Es funktioniert nicht mehr richtig, wenn ein Zahn gebrochen ist oder dem Turm aus Konservendosen, der durch das Entfernen einer einzigen zusammenbrechen kann.“

„So lebt also die Gesellschaft durch jeden einzelnen Menschen, egal wie unbedeutend er erscheinen mag“, ergänzte Paul.

Die beiden verstanden sich, und nun füllte sich der Abend mit Gesprächen bis in die tiefe Nacht, die ihre Seelen verbanden und ein Vertrauen schufen, dass weit über eine Berührung hinausging.

 

 

Am späten Sonntagvormittag beim Frühstück zuhause bei ihren Eltern, die genauso wie ihr Bruder bereits die Wohnung verlassen hatten, dachte Simone voller Glück an den vergangenen Abend zurück. Paul hatte sie nicht nur ernst genommen, sondern auch ihre Gedanken verstanden, und in dem Gespräch mit ihm, entwickelte sie immer neue Ideen und Theorien, stellte in Frage und suchte gemeinsam mit ihm nach Lösungen. Sie hatte gewünscht, der Abend würde niemals enden.

Paul hatte sie bis vor die Haustür gebracht, da er um ihre Sicherheit im Dunkeln fürchtete, und auch der zarte Kuß zum Abschied hatte ihr gezeigt, dass sie nicht allein war mit ihren Gefühlen tiefer Zuneigung.

 

Wieder einmal mehr bereute Simone, während ihrer Schulzeit so wenig Interesse an dem Stoff gezeigt und durch permanente Faulheit nur eine sehr mäßige Mittlere Reife geschafft zu haben. Ohne Plan und Begeisterung hatte sie Bewerbungen für die unterschiedlichsten Ausbildungsstellen geschrieben und war spätestens wegen eines unmotivierten Vorstellungsgesprächs abgelehnt worden. Ihre Eltern betrachteten diese Entwicklung mit derselben Gleichgültigkeit, die sie auch während Simones Schulzeit an den Tag gelegt hatten. In ihren Augen war Simone attraktiv genug, einen Mann als Ernährer zu finden. Sie konzentrierten sich lieber auf das berufliche Fortkommen ihres Sohnes, der sie dahingehend auch nicht enttäuschte und mittlerweile eine Karriere als Ingenieur auf dem zweiten Bildungsweg anstrebte.

 

Simones gesellschaftskritischen und philosophischen Gedanken waren nie auf ein offenes Ohr gestoßen. Man attestiert ihr eher eine gewisse Weltfremdheit oder titulierte sie als Spinnerin. So hatte sie ihre Gedanken weggeschlossen, aber nie aufgehört, ihre Umwelt sorgsam zu beobachten und ihre eigenen, geheimen Thesen über die Welt zu schmieden. Dank Paul hatte sie nun die Tür geöffnet und die Eingeschlossenen drängten so heftig an die Oberfläche, dass ihr beinahe schwindelig wurde.

 

Aber etwas beunruhigte sie. Paul hatte im Laufe des Abend angedeutet, dass er sie für eine Studentin hielt, und aus Angst, den aufmerksamen Zuhörer und engagierten Diskussionspartner zu verlieren, hatte sie diesen Irrtum nicht korrigiert. Wie würde Paul reagieren, wenn er erfuhr, dass Simone tatsächlich nur eine Aushilfskassiererin war?

 

Diszipliniert hatte sich Paul wieder an seine Bücher zur Vorbereitung auf das Physikum gesetzt, doch es gelang ihm nicht, seine Sinne auf den Stoff  zu konzentrieren. Nicht nur Simones liebreizendes Bild sondern auch ihre rebellischen Worte kreisten in seinem Kopf. An dem vergangenen Abend hatte auch er zum ersten Mal seine verborgenen Ideen von der Gestaltung der Welt offenbart, seine Suche nach dem Sinn des Seins in Worte gefaßt. Endlich durfte er seine intellektuellen Fähigkeiten mit jemandem messen.

 

Paul hatte sich nie zur Medizin hingezogen gefühlt, trotzdem stand es für seine Familie immer fest, dass er studieren und eines Tages Arzt werden würde wie sein Onkel Hannes. Sein Vater hatte als älterer Sohn den Elektrohandel übernehmen müssen und litt Zeit seines Lebens an dem Mangel an akademischer Qualifikation, so war es für ihn eine unabänderliche Tatsache, dass Paul eines Tages, ausgestattet mit den Würden eines Doktortitels, die Praxis seines Onkels übernehmen würde.

 

Simone und Paul trafen sich an diesem Abend im Park, ließen sich auf einer Bank am See nieder und genossen eine unausgesprochene Gemeinsamkeit ohne viele Worte. Sie schauten auf das Wasser, das im leichten Abendwind mit Reflexen spielte und wurden sich der Beständigkeit der Veränderung bewußt, die nun auch heftig an ihr Leben klopfte. Wie auf der Suche nach einer Antwort trafen sich ihre Lippen, verbanden sich ihr Wünsche und Sehnsüchte zu einem Gefühl, dass die Wirklichkeit in die Bedeutungslosigkeit verbannte.

 

Die nächsten Wochen waren erfüllt von heißem Begehren, flammender Erfüllung ihrer Körper und ihrer Seelen. In langen Nächten umschlangen sich ihre Sinne und ihre Gedanken und achteten nichts mehr außer sich selbst. Doch aus dieser vollkommenen Verbindung wuchs ebenfalls das Erkennen über die Notwenigkeit der Freiheit. In vollkommener Zweisamkeit öffnete sich das Tor der Zukunft und tauchte ihr Leben in ein neues, verheißungsvolles Licht. So opferten Simone und Paul den Rausch ihrer Liebe der Vernunft und gingen getrennte Wege in dem Bewußtsein, dass auch für sie noch die richtige Zeit kommen würde.

 

Paul überwarf sich mit seinem Vater und studierte in einer anderen Stadt Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. Er traf Menschen verschiedener Nationen, reiste mit dem Rucksack durch die Welt und meisterte dennoch mit Leichtigkeit seine Examen. Aber jeden Abend war es Simones Bild, das ihn in die Nacht begleitet und ihn mit freudiger Erwartung erfüllte auf etwas, von dem er nicht wußte, wo und wann es passieren würde.

 

Simone bekämpfte ihr Leid über die verlorene Gegenwart von Paul mit Gelegenheitsjob, der Abendschule und endlosen Nachmittagen in der Bibliothek, bis auch sie endlich ihr Studium der Kulturwissenschaften und Philosophie beginnen konnte. Beinahe manisch stütze sie sich in die Welt des Wissens und erlernte fremde Sprachen.

 

Es waren beinahe 10 Jahre vergangen seit Simone und Paul sich gegenseitig verlassen und jeden Kontakt zueinander verboten hatten. Simone nahm an einem Symposium an der Pariser Sorbonne teil und genoß in den Pausen den beginnenden Frühling in dieser Stadt. Warum sie sich plötzlich erinnerte, dass es der 14. April und damit Simone de Beauvoirs Todestag war, wußte sie nicht, aber es zog sie geradezu magisch zu dem Friedhof Cimetiere du Montparnasse, wo diese so verehrte Frau neben Sartre beerdigt war.

 

Mit jedem Schritt zwischen den Gräbern hindurch erfüllte Simone eine sich steigernde Unruhe, und ohne den Pfad zu dem Grab zu kennen, steuerte sie zielsicher, getrieben von einer inneren Stimme, über die Wege. Und ohne Erstaunen erkannte sie die große, schlanke Gestalt, die an diesem Ort auf sie wartete. So standen Simone und Paul, die Hände ineinander verschlungen, vor den beiden Gräbern und wußten, dass sie nun frei waren für eine ewige Bindung. 

 

     

 

 

 

  

 

 

     

 

 

 

  

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.04.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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