Mark Alexander Maier

Sie

Robert saß zusammengekauert in einer Ecke des schwach beleuchteten Schlafzimmers. Seine Arme umklammerten die angewinkelten Beine und das Kinn stützte er auf seinen Knien auf.
Sein ganzer Körper schien wie gelähmt und in dieser Position gefangen. Ein immer wiederkehrender Schmerz breitete sich vom Brustkorb ausgehend durch die Beine hindurch bis hin zu den Zehenspitzen aus und schien sich dann in seinem Kopf zu sammeln, wo er schließlich in sich verpuffte. Doch irgendwie hatte dieser Schmerz keine Bedeutung mehr für ihn.
Er war nur lästig.
Lästig, wie das darauffolgende Licht, das ihn blendete und ihm die Sicht nahm. Es dauerte immer ein paar Sekunden, bis er wieder klar sehen konnte. Zuerst kamen die Farben zurück, dann langsam die Umrisse, bis er schlussendlich wieder ihr Gesicht klar und deutlich vor sich hatte.

Er kannte sie nicht. Er wusste weder ihren Namen, noch wie sie hierher in sein Schlafzimmer gekommen war.
Sie machte ihm Angst, doch zur selben Zeit schien sie ihm eine Vertraute zu sein. Ihr Lächeln beruhigte ihn, aber schon ihre bloße Anwesenheit ließ ihn zu Stein erstarren; ließ ihn in der Ecke kauern, wie ein getretener Hund.
Doch trotz dieser Schwankungen fühlte er sich zu ihr hingezogen. Er wollte ihr nah sein. Er wollte sie berühren. Er wollte mit ihr verschmelzen.
Wieder riss ihn dieser lästige Schmerz für kurze Zeit aus seinen Gedanken und das Licht ließ ihre Schönheit erneut verblassen.

„Kannst du wieder sehen?“, fragte sie mit einem Lächeln.
Robert atmete tief ein, als wollte er ihre Stimme in sich aufsaugen. Sie war ihm so vertraut, obwohl er wusste, dass er sie noch nie zuvor gehört hatte.
„Streng dich nicht so an“, sagte sie sanft und hielt Robert ihre ausgestreckte Hand entgegen. „Komm zu mir.“
Langsam hob Robert seinen Kopf. Jede Bewegung schmerzte ihn und war mühsam, als hätte er sich seit einer Ewigkeit nicht mehr bewegt. Gerade als er den Griff um seine Beine lockern wollte, schoss ihm ein Name durch den Kopf.
„Monika“, hauchte er durch seine fast geschlossenen Lippen. Für einen kurzen Moment hatte er sie vergessen. Er hatte Monika vergessen - seine große Liebe. Sie war doch immer noch sein Ein und Alles. Trotzdem saß jetzt eine andere auf seinem Bett.
„Du tust nichts unrechtes“, sagte sie. Immer noch hielt sie Robert ihre ausgestreckte Hand entgegen.
„Ich kann nicht“, murmelte er und stützte sein Kinn wieder auf den Knien ab. „Ich kann nicht.“ Robert schloss seine Augen und seine Gedanken kreisten durch seinen Kopf.
`Was mache ich hier? Wer ist sie? Was will sie?´
Gerade als er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, durchfuhr ihn erneut dieser ihm schon bekannte Schmerz. Er war heftiger als zuvor. Er drückte Robert gegen die Wand und ließ seinen ganzen Körper erzittern, so dass er aus seiner Embryoposition gerissen wurde und mit ausgestreckten Beinen und herunter hängenden Armen da saß, als sich der Schmerz schließlich in seinem Kopf auflöste. Doch das darauffolgende Licht war schwächer geworden. Es blendete ihn kaum noch.

Robert sah zu ihr hinüber. Sie hatte das Bett näher an ihn heran geschoben und hielt ihm nun beide Hände ausgestreckt entgegen. Sie war nackt. Plötzlich war sie nackt. Nur ihr langes Haar bedeckte noch ihre Brüste und ihre endlos lang wirkenden Beine hielt sie elegant über einander geschlagen. Die Schönheit und Perfektion ihres Körpers raubten Robert den Atem. Er öffnete seinen Mund, um zu sprechen, doch kein Ton kam über seine Lippen.
Er begann nach Luft zu hecheln.
`Was ist das für ein Geruch?´
Die Luft schmeckte nach ihr. Der Geschmack ihrer Haut umhüllte seine Zunge, obwohl sie immer noch gute zwei Meter von ihm entfernt saß. Er wollte mehr von diesem Geschmack.

„Komm, nimm meine Hand“, flüsterte sie.
Robert hatte seinen rechten Arm schon nach ihr ausgestreckt, als er ihn ruckartig wieder zurück zog.
„Monika“, sagte er. „Ich kann nicht. Ich liebe Monika.“
„Ich weiß“, sagte sie. „Aber das tut hier nichts zur Sache.“
Sie stand vom Bett auf und setzte sich vor Robert auf den Boden. Sie war ihm nun so nah, dass ihr Duft ihn umhüllte und sich wie ein Seidentuch über sein Gesicht legte. Er wollte sie berühren, ihre Hand nehmen, aber sein Körper ließ keine dieser Bewegungen zu.
Er starrte nur in ihr Gesicht. Ihre tiefblauen Augen funkelten bei jedem Lächeln, das sie ihm schenkte und ihre Lippen luden ihn regelrecht zu einem Kuss ein. Er sehnte sich so sehr nach dieser ersten Berührung ihrer Lippen, dass er kaum mehr im Stande war, klar zu denken.
„Lass los“, hauchte sie ihm in sein Ohr, nachdem sie sich über ihn gebeugt hatte.
Ihr Gesicht war nur mehr Zentimeter von seinem entfernt. Ihr Haar berührte seine Wangen. Dieser Duft, diese Anmut, diese Vertrautheit.
Die Stelle in seinem Gesicht, wo ihr Haar ihn berührt hatte, schien wie gelähmt. Er spürte sie nicht. Nein, er spürte sie anders. Es fühlte sich an, als hätte dieser Teil von ihm nicht mehr zu seinem Körper gehört. Aber dieses Gefühl war schön. Er wollte mehr davon. Sein restlicher Körper verlangte danach.
„Spürst du es?“, fragte sie ihn und küsste seine Stirn.
Ihre Lippen waren weich und warm. Der Kuss schien ihm jeden zweifelnden Gedanken zu nehmen. Er fühlte sich frei. Es war, als hätte sie nicht nur seine Stirn, sondern all seine Gedanken geküsst.
„Spürst du es?“, fragte sie erneut.
Robert hatte seinen Mund geöffnet, um ihren wohlduftenden Atem zu inhalieren, bevor er im selben Atemzug auf ihre Frage reagierte.
„Ich weiß nicht, was ich spüre“, sagte er leise und fixierte wieder ihren Blick.
„Freiheit“, sagte sie und schenkte ihm dabei das strahlendste Lächeln, das er je gesehen hatte.

Robert spürte wieder diese Unsicherheit, dieses Bangen, diese Angst in sich aufkeimen.
`Freiheit?´
Woher wusste sie das? Er fühlte sich tatsächlich frei. Aber diese Freiheit war neu für ihn und machte ihm Angst.

Sie setzte sich im Schneidersitz vor Robert, streckte ihren Oberkörper durch, hob stolz ihren Kopf und strich ihr Haar über ihre Schultern nach hinten.
„Ist er nicht wunderschön?“, fragte sie.
Robert verstand ihre Frage nicht. Ein schnaubender kleiner Lacher verließ daraufhin ihre Lippen.
„Mein Körper“, ergänzte sie lächelnd mit gehauchter Stimme. „Ist er nicht wunderschön?“
Robert nickte nur und betrachtete ihre wohlgeformten Brüste.
Sie sah ganz still dabei zu, wie sein Blick über ihren Körper wanderte. Dann nahm sie sein Gesicht in ihre Hände, schaute ihm tief in seine braunen Augen und sagte:
„Aber du begehrst ihn nicht. Hab ich recht?“
Roberts Blick wanderte noch einmal über ihre nackte Haut und erstaunt über seine eigene Erkenntnis, bejahte er ihre Frage mit einem leichten Kopfnicken.
„Ihr seid alle gleich“, fuhr sie amüsiert fort. „Keiner versteht den Moment, in dem man das Begehrenswerte plötzlich nicht mehr begehrt und sich das Verlangen nach diesem einen Kuss von allen körperlichen Begierden trennt.“

Sie lächelte Robert an, beugte sich nach vorne, knöpfte sein Hemd auf und küsste seine Brust.
Er ließ es einfach geschehen, schloss seine Augen und spürte, wie ihn Leichtigkeit durchfuhr. Er hatte das Gefühl zu schweben. Nichts quälte ihn mehr. Kein Gedanke, kein Schmerz, keine Furcht, keine Moral.
Als er seine Augen wieder öffnete, stand sie vor ihm. Sie trug ein weißes langes Hemd, das einer Toga ähnelte.
`Wie lange hatte ich meine Augen geschlossen?´
Doch im selben Moment als diese Frage in ihm aufkeimte, spürte er, dass eine Antwort darauf keine Bedeutung mehr für ihn hatte.
„Meine Küsse sind nur für den Moment. Ich kann dich nicht nehmen. Du musst zu mir kommen und nach meiner Hand greifen.“
Wieder hielt sie ihm beide Hände ausgestreckt entgegen, als wollte sie ihm helfen, aufzustehen. Und plötzlich ging es leicht. Robert konnte sich bewegen. Es fühlte sich an, als hätte man ihm die Fesseln abgenommen.
Er streckte ihr seine rechte Hand entgegen, doch sie kam keinen Zentimeter auf ihn zu. Sie griff nicht nach ihr. Robert beugte sich weiter nach vor bis er ihre Fingerspitzen berührte. Ein warmes wohltuendes Gefühl durchfuhr seinen ganzen Körper.
Ohne seine Kraft auf einen weiteren vorausschauenden Gedanken zu verschwenden, lehnte sich Robert schließlich nach vorne und griff mit einem Ruck nach ihrer Hand.
Freiheit. Er fühlte sich frei.
Er spürte, wie sich ihre Finger um seine Hand schlossen. Es war kein Gefühl von Gehaltenwerden. Es war ein Gefühl von Loslassen.

„Sind sie bereit, Monika?“
Eine tiefe Stimme hallte durch den Raum. Eine fremde Stimme. Robert erschrak und lockerte seinen Griff.
„Lass nicht los“, sagte sie ermutigend. „Das alles hat keine Bedeutung mehr.“
„Wer ist das? Woher kommt diese Stimme?“
„Du weißt, woher sie kommt, aber sie ist nicht mehr für deine Ohren bestimmt.“
Ihr wohltuender Griff um seine Hand festigte sich und Robert spürte, wie allmählich alle Fragen in ihm erloschen und keine Antwort mehr erstrebenswert erschien.
Nun reichte er ihr auch seine linke Hand und ihre Finger umschlossen sich. Sie lächelten sich an. Robert stand auf. Sie standen sich nun Auge in Auge auf gleicher Höhe gegenüber. Es schien, als würde sie ein unendlichlanges Band der Vertrautheit aneinander binden. Sein Sträuben gegen das Unausweichliche war vorüber. Roberts Zeit war nun gekommen.
Ihre Lippen berührten sich.
Es war ein sanftes Verschmelzen. Leichtigkeit begann ihn zu tragen. Eine Stimme drang noch dumpf an sein Ohr. Er kannte sie. Sie gehörte zu Monika.
„Ja, ich bin bereit“, sagte seine große Liebe.
Robert hörte noch ein mattes Klicken. Irgendwoher aus weiter Ferne drang ein sanftes „Adieu“ an sein Ohr.
Dann wurde alles eins. Er war frei.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.04.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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