Mai 1945
Diese Erinnerung ist sehr deutlich geblieben: Ich lag in meinem
Bett, in
dem
zum Bunker umgebauten ehemaligen Weinkeller, und sang.
Trotz allen Elends war es romantisch, wenn abends etwa 120 Leute
auf
ihren
Matratzen und in den Not-Betten lagen und "Guten Abend, gute
Nacht" schmetterten.
Wenn das Lied verklang, begann für mich der interessante Teil:
Cousin Rolf und ich saßen zumeist nachts in unseren, mit den Fußenden
aneinanderstoßenden Betten, und erzählten uns Horrorgeschichten.
Rolf war fünf Jahre älter als ich, also schon fast 16, und ich
glaube,
er begann gerade, seine Männlichkeit zu entdecken.
Viel verstand ich damals von Jungs noch nicht, aber Rolf kriegte
immer
Plüschaugen, wenn er Alberta sah, die ihrerseits aber auf das
"Baby"
gar nicht achtete. Die schöne Alberta war 18 und hatte ihre schwarzen
Augen verbotenerweise auf einen der Kriegsgefangenen geworfen.
Antoine war ein hinreißender, blonder Franzose, der jeden Tag mit
seiner Gruppe von einem Bewacher herbeigeführt wurde, um für unsere
Bunkergesellschaft einen weiteren Notausgang auszuheben.
Es dauerte nicht lange, bis er und seine Kameraden akzeptiert
wurden,
als gehörten sie zu uns.
Saßen wir denn nicht alle in einem Boot?
Es kam uns allen so vor, und aus dem Abstand der Jahre weiß ich
heute,
es hat sich in mehr als 50 Jahren nicht viel verändert.
Noch immer erkämpfen sich junge Menschen in einem Umfeld von
Tod
und Zerstörung ihren zuweilen so winzigen Freiraum, sie stehlen sich
das bisschen Glück.
Das war auch damals nicht anders. Stillschweigend wurde die
aufkeimende
Liebe zwischen Alberta und Antoine nicht nur geduldet, sondern von
allen
Kellerasseln - wie sich die 120 Bewohner des Bunkers nannten -
heimlich
unterstützt.
Anfang 1945 war nicht mehr die Zeit, in der Irgendwer sich noch
Illusionen über den Ausgang dieses Krieges gemacht hätte.
Es gab sie zwar auch dort, die Befürworter des Tausendjährigen
Reiches,
aber sie waren froh, daß man sie mit ihrem letzten Hab und Gut
aufgenommen
hatte und hüteten sich, Parteiparolen von sich zu geben.
Sie hatten weder Stimme, noch fanden sie Gehör: ihre Glanzzeit war
vorüber.
Auch ich liebte den schönen Antoine...
Zu meinem ewigen Kummer sah er in mir natürlich nur das Kind, das
ich
war.
Aber er machte das so geschickt, daß ich mich nie zurückgesetzt
fühlte.
Im Gegenteil, ich war es, der er sein ganzes Vertrauen schenkte!
Ich durfte vor dem Eingang zum Notstollen Wache halten, wenn Alberta
ihm sein Essen in den ausgehobenen Stollen brachte und ewig lange
nicht
zurückkam.
Lohn meiner Wachsamkeit waren dann zwei wundervolle Stelzen,
die Antoine mir schnitzte und auf denen ich während der immer kürzer
werdenden Entwarnungszeiten stolz wie ein König auf der Betondecke
über dem Bunker herumstolzierte.
Die Romanze ging so lange gut, bis Rolf, grün vor Eifersucht,
endlich bemerkte, was die schwarze Alberta da offensichtlich unter
aller Augen trieb - und von da an wurde es hart für mich.
Ich verlor von einem Tag auf den nächsten alle Privilegien,
die Cousin Rolf mir als seiner besten Freundin bisher zugestanden
hatte.
Er teilte nicht mehr mit mir, was er auf mehr oder weniger
illegalen Raubzügen
in den Vorratslagern der abrückenden deutschen Armee besorgt hatte.
Früher hatte ich immer direkt hinter der Bunkertür auf ihn
gewartet,
weil ich wußte, Rolf würde, egal, wo er sich herumgetrieben hatte,
niemals ohne einen essbaren Anteil für mich aufkreuzen.
Jetzt aber saß ich nur noch traurig auf meinem Bett und litt
zweifach,
nämlich Hunger ebenso wie an meinem Unvermögen, Antoines und Albertas
heimliche Stelldichein nur wegen meines knurrenden Magens zu
verraten.
Ich blieb standhaft auch dann, als Rolf mir keine nächtlichen
Horrorgeschichten mehr erzählte.
Ich wurde auch nicht mehr in sein Bett eingeladen, um von dort aus
die fette Frau Schuster zu begutachten, wenn sie sich im Schein der
Kerzen ihrer voluminösen Kleidung entledigte,
die sie übereinander trug wie eine Zwiebel ihre Schalen.
Wir kreischten nicht mehr vor Vergnügen, wenn sie dann endlich ihr
Schnürkorsett stöhnend beiseite legte und unter dem Bett nach dem
Nachttopf angelte, den sie zweckentfremdet hatte.
Er enthielt nämlich trockene Erde und war der nächtliche Baumersatz
für ihren verwöhnten Pinscher, der dennoch Nacht für Nacht an die
Pfosten
des Bettes von Pischgull urinierte, was dann ebenso regelmäßig am
Morgen erboste Auseinandersetzungen zwischen seiner Herrin und Pischi
ergab.
Nein, Rolf und ich waren von einem Tag auf den anderen keine Freunde mehr.
Früher war ich nicht selten, in seliger Unschuld Löffelchen
liegend,
in Rolfs Bett eingeschlafen.
Heute traf mich nur sein eiskalter Blick: ich war eine Verräterin.
Ich hatte natürlich keine Vorstellung davon, wie Rolf litt,
aber auch wenn ich es gewußt hätte, seit Antoine da war, fühlte ich
mich,
als sei ich nicht nur die freche Rotzgöre aus dem Bunker im Steinweg,
sondern durchaus auf dem Weg, zu etwas ganz Besonderem
heranzuwachsen, denn Antoine wollte mich malen!
Wie begabt er war, zeigte sich zum erstenmal, als er mit einigen
schnellen Strichen eine Skizze von mir entwarf, um die dann alle
staunend
herumstanden, denn er hatte mich perfekt getroffen: so sah ich ja
wirklich
aus.
Wegen der Wirren der letzten Kriegstage wurde das Projekt niemals
richtig angegangen, aber einige Vorskizzen machte er dennoch mit mir.
Rolf stand immer spöttisch grinsend daneben, wenn Antoine mit seinem
hinreißenden französischen Akzent sagte: "Schau meine Schöne,
halt die Kopf 'ier" oder "NEIN, isch brauch Zopf wie Kron mit
Gold...",
was dann bedeutete, ich hatte meine langen blonden Haare wie eine
geflochtene Krone zu drapieren, ehe er zufrieden war.
Diese Tage werde ich nie vergessen, denn Antoine war es, der mir
klar
machte,
daß ich langsam aufhörte, ein Kind zu sein; er fand mich schön,
und er sagte es auch.
Mich störte nur das seltsame Benehmen von Rolf, der sich plötzlich
aufführte,
als sei ich sein persönliches Eigentum.
Immerhin hatte er doch gerade die schwarze Alberta nicht aus den
Augen
gelassen; mir schien, er gönnte Antoine keine von uns beiden.
Für Antoine war ich sein kindliches Model und eine Freundin, auf
die er
sich verlassen konnte, wenn dicke Luft drohte.
Rolf aber, der zusehen mußte, wie Alberta mit hungrigen Augen Antoine
ansah und ihn selber nicht einmal wahrnahm, schien nicht gesonnen,
auch noch meine Aufmerksamkeit zu verlieren.
Er unterbrach oft genug die Sitzungen, bei denen ich doch still
sitzen
mußte,
während Antoine seine Skizzen machte.
Diese bösartigen Störmanöver beendete ich irgendwann mit einem
gewaltigen Tritt gegen sein Schienbein und dem totalen Abbruch
unserer freundschaftlichen Beziehungen.
Doch Rolf teilte nicht nur seine gehamsterten, gestohlenen oder
sonstwie illegal erworbenen Eßvorräte nicht mehr mit mir,
sondern auch keine Neuigkeiten mehr.
Ich erfuhr erst gar nicht, wenn er mal wieder höchst agil und
erfinderisch
eine neue Bezugsquelle für Lebensmittel oder fehlende Bedarfsartikel
wie Seife, Nähgarn oder gar Kleidungsstücke erkundet hatte.
Und das wiederum hieß, daß nun auch ich mit den anderen Kindern
in den Pausen zwischen zwei Bombardements losziehen mußte,
um Brennesseln für einen zünftigen Eintopf zu sammeln,
den meine Mutter sowohl für die Kriegsgefangenen wie auch für
die Stammbesatzung des Bunkers zubereitete.
Für Alle hätte das nie gereicht, denn so nach und nach war die
Hälfte
der Bewohner der um den Bunker gelegenen Straßen zu uns gestoßen.
Sie zogen mit Betten und Koffern ein, ließen sich häuslich nieder und
bekamen die Zeit zugewiesen, in denen sie selbst kochen und waschen
durften.
Nicht selten aber kamen zu den Brennesselvorräten auch weitaus
schmackhaftere Sachen aus irgendwelchen unerfindlichen Quellen.
Niemals fragte jemand danach, woher urplötzlich ein halbe Seite Speck
auftauchte oder ein Sack Kartoffel angekarrt wurde.
Meine Mutter besaß das Vertrauen der gesamtem Kellerbesatzung,
sie zauberte immer etwas auf die Tische.
Im Zuge dieser Beschaffungsmaßnahmen leerten sich die in
Generationen
in Wäscheschränken und Besteckkästen angehäuften Schätze
und verschwanden als Tauschobjekte auf den umliegenden
Eifelbauernhöfen.
Wir hungerten zwar dennoch, aber wir überlebten.
Und nicht nur wir.
Auch die Tiere in dieser so zwanghaften Lebensgemeinschaft hatten
durchaus ihre Bedeutung...
Gräuli...meine Katze, wegen ihrer außerordentlichen Intelligenz auch
"Madame Curie" genannt, war eine Superdiebin.
Aber sie erfuhr wegen ihres Talentes, Gefahr bereits im Vorfeld zu
erkennen,
von allen Seiten nur Anerkennung und mehr als nur die Duldung ihrer
diebischen Existenz.
Sie stahl zudem nie für sich alleine! Sie stibitzte und warf ihren
Raub
nach unten,
und da standen dann die drei Hunde, die ebenfalls mit uns im Keller
lebten.
Da war Greif, der Deutsche Schäferhund von Tante Maria, der dieses weiträumige Gewölbe gehörte.
Luzy, der schwarze Königspudel von Frau Schuster, ein ebenso
verwöhntes
Biest wie seine anspruchsvolle Herrin - und der greise Dackel des
alten
Pischgull,
der seinem Herrchen so ähnlich sah, daß auch der Hund Pischi gerufen
wurde.
Als Pischgull aus der Adolfstraße mit Hund und Papagei einrückte,
wurde wegen ihm eine Sondersitzung einberufen, damit auch der Papagei
bleiben durfte,
denn der schrie den ganzen Tag "He Pischi, her mit dem Speck";
und Pischgull hatte Mühe, all den aufmerksamen Ohren zu erklären,
daß es diesen Speck nicht gab und nie gegeben hatte.
Es war eine drollige Menagerie, die sich da im Laufe der letzten
Monate vor Kriegsende angesammelt hatte, alles Individualisten,
die Vierbeiner ebenso wie ihre Herrchen.
Jeder von ihnen ein Überlebenskünstler.
Wenn Gräuli von ihrem bevorzugten Sitz auf der gewundenen
Stufenleiter,
die zum oberen Keller führte, majestätisch hinunterstieg,
dann war jedem Bunkerbewohner klar, jetzt geht's gleich los...
Diese Katze irrte sich nie, sie reagierte wie ein lebender
Seismograph.
Wir alle richteten uns nach diesem klugen Tier,
auch wenn das Geräusch der herannahenden Bomber noch nicht hörbar
und kein Großalarm ausgelöst war.
Sie würden kommen und ihre tonnenschwere explosive Last ein
weiteres
mal auf unsere Stadt abladen.
Tod und Zerstörung hinterlassend - es wurde zum gelebten Alltag.
Mitten in diesem nie erlahmenden Kampf war die Romanze zwischen
Antoine und Alberta für die Kellerasseln so etwas wie ein
romantisches
Rührstück aus der UFA-Produktion.
Wir alle nahmen regen Anteil an der Entwicklung zwischen den beiden.
Der Zarah Leander Film "Die große Liebe", den ich noch als
Zehnjährige
viermal hintereinander gesehen hatte, verblasste buchstäblich gegen
diese Liebesgeschichte direkt unter unseren Augen.
Hier durfte ich nicht nur mitspielen, sondern ich hatte auch, bei
Gott,
keine Nebenrolle!
Ohne mich hätten die beiden keine Minute für sich allein gehabt.
Ich war ihr Cupido, und ich nahm meine Aufgabe tierisch ernst.
Niemandem wäre es eingefallen, in diesen letzten Kriegswochen
Anstoß daran zu nehmen, daß ein Gefangener es wagte,
seine Blicke auf ein sogenanntes "arisches Mädchen" zu richten.
Hier waren einfach zwei junge, schöne Menschen,
die einander liebten und kein Hehl daraus machten.
Nicht, daß sie ihre Zuneigung vor aller Augen demonstriert hätten.
Dergleichen war zu jener Zeit nicht üblich, aber die Schwingungen
zwischen den beiden wären sogar jemandem mit dem Gefühlsleben
eines ausgetrockneten Flußbettes aufgefallen.
Die beiden strahlten, wenn sie einander sahen, sie flüsterten
miteinander,
wie das Liebende zu allen Zeiten getan haben, und sie waren inmitten
dieses Zigeunerlagers so etwas wie das Symbol der Hoffnung Aller auf
Liebe
und Glück.
Sie waren selig, und man sah es.
Die Nachricht, daß die Truppe der Kriegsgefangenen innerhalb von
zwei
Tagen
zu einem unbekannten Ziel abrücken würde, schlug ein wie eine Bombe!
Die Kellerbesatzung war in hellem Aufruhr!
Allgemein wurde damit gerechnet, daß die Alliierten schon bald den
Rhein
überquerten und der Krieg beendet sein würde.
Jeder wußte, was es bedeutete, wenn jetzt noch Kriegsgefangenenlager
aufgelöst wurden.
Zumeist verschwanden diese Menschen spurlos, und man hörte nie wieder
von
ihnen.
Antoine und seine Mitgefangenen kamen plötzlich nicht mehr.
Es sei sinnlos, hieß es von Seiten der Lagerverwaltung,
Notausgänge aus
Bunkern zu bauen, man werde schon zwei Tage später in Richtung Osten
abrücken.
Bereits eine Stunde später gab es eine Sondersitzung im Bunker.
Alberta saß, in Tränen aufgelöst, unter all den Erwachsenen und
rief
immer wieder
"Man wird ihn töten, das überlebt er nicht, was sollen wir tun?"
"Wir" sagte sie, und es war völlig klar: genauso sah es die um
die langen
Eßtische versammelte Kellerbesatzung .
Wir Kinder hockten unbeachtet auf der Ausstiegsluke zum Notausgang
Zwei
und rührten uns nicht.
Mitten unter uns Rolf, der wütend durch die Zähne zischte, wenn er
wegen
der erregt durcheinander sprechenden Versammlung etwas nicht
verstanden
hatte.
Ich sah ihn nur an, aber er tat so, als sei ich gar nicht da.
Lange hielt ich das nicht aus - ich stieß ihn wütend mit dem
Ellbogen in
die
Rippen und kreischte fast "Sag's ihnen endlich, oder ich werde es
tun!"
"Halt die Klappe, oder du kannst was erleben, ich werde doch wegen
dieses
Schaumschlägers meine Verbindungen nicht aufs Spiel setzen,
der windet sich schon allein aus allem raus, er ist ja so
intelligent"
sagte Rolf höhnisch.
Ich wäre in meiner Wut fast von den Stufen gefallen, dann ging ich
mit
Fäusten und Krallen auf ihn los.
Aber ich hatte natürlich keine Chance gegen ihn, er hielt mich mit
nur
einem Arm von sich weg, und mit der anderen Hand verschloß er mir den
Mund,
denn ich schleuderte ihm in meinem Zorn die wüstesten Beleidigungen
entgegen.
Mit Genuß hätte ich ihn von der Ausstiegsluke gedrängt, wenn ich dazu
fähig
gewesen wäre.
"Ich hoffe, du verdammter Drecksack brichst dir das Genick" schrie ich weinend und trat nach Rolf.
Jetzt endlich wurde man unten auf uns aufmerksam. "Verdammte
Bande,"
rief der alte Pischgull, "wollt ihr euch wohl vertragen, wir haben
keine Zeit jetzt, es gibt Wichtigeres!"
"Gibt es nicht," schrie ich heulend, "dieser Mistkerl hier
weiß genau,
wie wir Antoine aus dem Lager kriegen, aber er wird's nicht verraten,
weil er gelb vor Eifersucht ist!"
Tödliche Stille unter uns, niemand sprach mehr, aber aller Augen waren auf Rolf gerichtet.
Endlich sprach Tante Maria, Rolfs Mutter:
"Ist das wahr Rolf?"
"Quatsch," sagte Rolf, "das Luder lügt doch, wenn es den
Mund aufmacht,
wer glaubt denn, was diese Rotzgöre sagt?"
Eine lange Pause entstand und dann sagte Tante Maria mit einem tiefen Seufzer:
"Junge, ich hoffe nur, daß deinem Bruder an der Front niemals
Hilfe
verweigert wird,
wenn er sie brauchen sollte.
Ich bete jeden Abend dafür, daß die Menschen, die seine Not erkennen,
sich nicht darum kümmern werden, ob er Freund oder Feind ist, sondern
das
tun,
was wir alle tun sollten, sofern es uns möglich ist."
Tante Maria hatte ihren Sohn nicht aus den Augen gelassen, und ich auch nicht.
Ich hielt den Atem an...was würde Rolf tun?
Er war ein harter Brocken. Vielleicht war er in diesen
erbarmungslosen
Zeiten
so geworden, ich wußte es nicht; auf jeden Fall verschloß er sich wie
eine
Auster,
stieg von der Stufenleiter und schlenderte, ohne ein Wort zu
erwidern, zum
Ausgang.
Die Diskussion lebte sofort wieder auf, und es wurden eine Menge
Vorschläge
gemacht, die jedoch wegen ihrer Aussichtslosigkeit umgehend wieder
verworfen
wurden.
Unbeachtet stieg ich ebenfalls herab und rannte hinter Rolf her.
"Warte," schrie ich, "warte doch, du Halunke..."
Er ließ mich grinsend herankommen.
"Na, du Mistbiene, willst du dich schon wieder in Dinge
einmischen,
die dich nichts angehen?
Irgendwann bricht dir deine Unüberlegtheit noch mal den Hals, du
Zauberflöte."
Er grinste immer noch.
Ich hatte gerade zu einer heftigen Erwiderung angesetzt, die mir
dann
aber
doch buchstäblich im Hals steckenblieb, denn Rolf hatte
"Zauberflöte" gesagt!
Und das war seine Art mit mir umzugehen, wenn zwischen uns alles in
Ordnung
war!
Er hatte es seit Wochen nicht mehr zu mir gesagt, immerhin waren ja
die
diplomatischen Beziehungen abgebrochen.
Aufmerksam sah ich ihn also an, und was ich sah, ließ Hoffnung aufkeimen.
"Ich habe dich bisher für ziemlich gewitzt gehalten," sagte er
dann leicht verächtlich.
"Aber wie man so dämlich sein kann, vor versammelter Mannschaft meine
Verbindungen zu den Leuten auszuposaunen, die in der Lage wären, da
etwas zu
tun , das solltest du mir erst mal erklären, du Primel."
Mein Gott ja, er hatte ja recht! Mein Zorn verebbte auf der Stelle und ich fühlte mich, als habe man mir einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen.
"Soll das heißen, du wirst den beiden helfen?" Noch glaubte ich
nicht recht daran,
daß Rolf über seinen Schatten springen würde.
"Halt den Mund und kümmer dich nicht drum!" Er sah mich ungnädig an.
"Wie meine liebste Cousine allerdings glauben kann, ich sei ein
solcher Schuft,
mich einfach abzuseilen und diesen blöden Franzosen samt seiner Hulda
in diesem Schlamassel untergehen zu lassen, das werte ich dann doch
als
Beleidigung."
Jetzt grinste ich wie ein Honigkuchenpferd; das war mein alter
Rolf.
Was immer er für Alberta empfunden haben mochte, er schien es
überwunden zu
haben.
Ich war unendlich erleichtert!
Meine Welt fügte sich wieder zusammen!
Spontan stellte ich mich auf die Zehenspitzen, umarmte ihn heftig und
drückte
ihm einen dicken Kuß auf die Wange.
"Nun werd mal nicht lästig" knurrte er und sah sich hastig um,
ob jemand diesen Gefühlsausbruch beobachtet habe.
"Und merk's dir, absolut niemand darf heute Nacht meine
Abwesenheit
bemerken.
Sobald also die letzten Kerzen ausgehen, wirst du dasselbe tun wie
immer,
rumquatschen und so tun, als liege ich in meinem Bett.
Bevor ich mich rausschleiche fordere ich dich also auf,
eine deiner dussligen Horrorgeschichten zu erzählen.
Suche dir eine schön lange aus und rede einfach drauflos.
Irgendwer aus den Nachbarbetten wird dir dann schon sagen, wann es
reicht
und du endlich schlafen sollst, es wird also gar nicht auffallen, daß
ich
längst nicht mehr da bin."
"Und was machst du?" Ich war neugierig wie immer.
"Was du nicht weißt, kannst du auch nicht in die Gegend
posaunen"
sagte Rolf kurz angebunden, und weg war er.
Alles lief so ab, wie Rolf es geplant hatte: die letzten Kerzen
wurden
ausgeblasen,
und ich begann mit einer hanebüchenen Horrorgeschichte.
An Phantasie hat es mir ein Leben lang nicht gemangelt,
aber diesmal übertraf ich mich selbst.
Es dauerte ewig, bis schräg hinter meinem Bett eine verschlafene
Stimme
sagte:
"Jetzt halt aber mal die Klappe, du tibetanische Bergziege,
für heute haste aber dein Soll voll erfüllt!"
Zu diesem Zeitpunkt war Rolf längst weg und ich hatte ihn,
obwohl alle meine Sinne aufs Äußerste angespannt waren, nicht
davonschleichen hören.
Gewundert habe ich mich darüber aber nicht, dies war nicht sein
erster
unerlaubter nächtlicher Ausflug, und immer hatte ich ihn auf die
gleiche
Weise gedeckt; wir waren eben ein eingespieltes Team.
Ich schlief lange nicht ein, denn ich machte mir Sorgen, die mehr
als
berechtigt waren.
Würde Rolfs Plan gelingen, oder würde man ihn schnappen und in den
damals
durchaus üblichen Schnellverfahren aburteilen?
Das Ganze war ungeheuer gefährlich, und ich wußte es.
Mein erster Blick am Morgen galt Rolfs Bett.
Er lag da und schnarchte mit halb geöffnetem Mund.
Gott sei Dank, ihm war wenigstens nichts passiert, aber was war mit Antoine?
"Er ist in Sicherheit" sagte Rolf und blinzelte mich an.
"Scheißer," flüsterte ich glücklich, "du schläfst ja gar nicht..."
"Nee, aber gleich, du wirst dich darum kümmern müssen,
daß niemand erfährt wie er in den abgebrochenen Stollen gekommen ist.
Ich hab in der Eile keinen anderen Platz für ihn gefunden.
Also sorge dafür, daß er Wasser und etwas zu essen bekommt,
ich kann mich ja nicht um alles kümmern."
Rolfs Stimme verebbte, und dann war er tatsächlich eingeschlafen.
Danach überschlugen sich die Ereignisse.
Ich kam nicht einmal dazu, nach Antoine zu schauen, denn schon zehn
Minuten
später erdröhnte das schmiedeeiserne Tor zu unserem unterirdischen
Heim unter den Schlägen harter Gewehrkolben.
Zitternd vor Angst stand ich hinter Tante Maria, die vorsichtig öffnete.
Und da waren sie dann, unsere Befreier.
Zwei farbige Amerikaner mit dem Gewehr im Anschlag drängten sich
herein und
riefen
"Anyone speakin' English?"
Sie suchten nach deutschen Soldaten.
Argwöhnisch durchstöberten sie jeden Winkel der Räumlichkeiten,
und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf Antoine stoßen
würden.
Daß uns jedoch nicht Besseres passieren konnte, begriff ich in meinem
Schockzustand nicht.
Aber Rolf sah sofort unsere Chance.
In seinem mehr als holprigen Schulenglisch machte er den beiden
GIs klar,
daß dies kein Nazibunker sei, und führte sie zu Antoines Versteck.
Die beiden Amerikaner begriffen sofort.
Einer der beiden machte mit Kreide ein geheimnisvolles Zeichen an den
Eingang
zum Bunker und bedeutete uns, das auf keinen Fall zu entfernen.
Es sei der Hinweis für die nachfolgende Armee,
daß das Terrain bereits durchsucht und als unbedenklich eingestuft
sei.
Antoine verließ mit den beiden GIs den Keller, drehte sich am
Ausgang
noch einmal um und reichte Rolf schweigend die Hand.
"Danke," er grinste schief, "isch vergeß nie was du getan..."
Er wandte sich ab und ging.*
EPILOG
Aber er ging nicht für immer aus unser aller Leben.
Wir erfuhren, daß er als Dolmetscher in der Militärbehörde
untergekommen war
und Alberta schon ein Jahr später Deutschland mit ihm in Richtung USA
verließ.
Dort wurde Antoine ein anerkannter Maler.
Alberta studierte Chemie und eröffnete in den Sechzigern im
Mittleren
Westen
eine kleine Fabrik für kosmetische Artikel.
Die Beiden blieben kinderlos; es war wohl eine dieser Ehen,
in denen zwei Menschen ein Leben lang einander genug sind.
Heute leben die beiden in Paris.
Wir sehen uns inzwischen regelmäßig, einmal im Jahr.
Jedesmal im Mai, dem Monat, in dem unser aller zweites, glücklicheres
Leben
begann.
Alberta ist ein typische Pariserin geworden und trotz ihrer nun 72 Jahre immer noch schön.
Und Antoine - immerhin nun auch 75 Jahre alt - hat noch immer
dieses
Leuchten in den Augen, wenn er seine Frau ansieht.
Zwei Menschen, die einander trafen, als die Welt, in der sie
lebten,
mörderisch war - was aber nichts darüber aussagt, daß Liebe in ihr
keinen
Platz gehabt hätte.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Lieselore Warmeling).
Der Beitrag wurde von Lieselore Warmeling auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.04.2010.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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Anna - steiniger Weg
von Irene Zweifel
Anna ist herangewachsen zu einer jungen Frau. Die Suche nach ihrer eigenen Persönlichkeit gestaltet sich für die adoptierte Anna nicht einfach. Wird sie es schaffen, sich den Weg - der steinig und reich an Hindernissen ist - dorthin zu bahnen, wo sie endlich inneren Frieden finden kann?
Nach «Anna - wie alles begann» beschreibt dieser zweite Teil des autobiographischen Werks von Irene Zweifel das Leben einer jungen Frau die vom Schicksal nicht nur mit Glück bedacht wurde:einer jungen Frau mit dem unbeirrbaren Willen, ihr Leben - allen Schwierigkeiten zum Trotz - besser zu meistern als ihre leibliche Mutter ihr das vorgemacht hatte.
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