Er saß da. Den Kopf
zurück an die Glasscheibe gelehnt. Er starrte sie an. Die Menschen. Sie liefen
vorbei, rannten, schlichen. Kamen und gingen. Sie alle hatten ein Ziel vor
Augen.
Sie bemerkten ihn
nicht. Schauten ihn nicht einmal an. Er war ein Nichts. Niemand würde ihn
vermissen. Er hatte keine Familie, keine Freunde. Er war ein Einzelgänger.
Langsam stützte er sich nach vorn auf seinen langen Stock aus Ebenholz. Die
Sonne war schon untergegangen. Bahnen fuhren vorbei. Kamen und gingen. Menschen
stiegen aus und ein. Warteten, Eilten. Hektisches Treiben überall. Doch was sie
alle erwartete war der Tod. Sie wussten es und doch verdrängten sie es. Lebten
ihr Leben, wie kurz oder lang es auch noch sein mag. Natürlicher Tod, grausamer
Tod, Unfall. Es gab viele Möglichkeiten. Doch wählen konnten sie nicht. Es
blieb ihnen keine Wahl. Er lächelte. Womöglich könnte es auch Mord sein. Er sah
die Schlagzeile schon vor sich „Durch Tier getötet. Zerfleischt. Polizei sucht
erfolglos.“ Niemandem würde er auffallen. Unscheinbar. Durch die Nacht
schleichen. Glühende Augen, schmerzende Zähne. Hunger. Er sah das Blut, roch
es. Er begehrte es. Konnte es nicht abwarten.
Der kühle Wind strich
über sein blasses Gesicht. Er lächelte. Zeigte seine Zähne. Niemand ahnte
etwas. Niemand sah es. Ihn. Es könnte jeden treffen. Eine dunkle Gasse. Lautes
Schlagen der Kirchturmuhr und ein Fremder, der sich durch die Straßen bewegte.
Lautlos. Sein Mantel wehte im Wind. Verführerisch würde er auf die Menschen
wirken. Einladend. Und doch würde er ihnen den Tod bringen. Was er war? Ein
Einzelgänger, jedoch kein Mensch. Der Tod. Oh nein. Auch wenn man ihn als Teil
des Todes bezeichnen könnte.
Seine nächsten Schritte
waren gut durchdacht. Langsam erhob er sich. Lief geradewegs in die
Menschenmenge hinein. Er sah sich um. All diese Menschen, die alles zu wissen,
ja zu kennen glauben. Nichts wussten sie. Er blieb stehen, drehte sich im
Kreis. Schloss die Augen und atmete tief ein. Alles wie immer. Zumindest dachte
er das. Doch diese Nacht würde anders als bisher sein. Er würde sie treffen.
Dieses unscheinbare Mädchen, das seinen Untergang bedeuten würde. Er lief los,
rannte. Sprang die Wände hinauf und verschwand.
Er kannte seinen Weg.
Sein Herz trug ihn, wenn er eines hätte. Grausam. Er roch es. Angst. Er folgte
der Spur bis in eine dunkle Gasse. Er liebte die Dunkelheit. Er suchte sie.
Fand sie. Ein junges Ding. Dumm, unwissend. Er sprang hinter ihr auf den Boden.
Geräuschlos. Sie drehte sich um. Er konnte ihren Schweiß riechen. Sie hatte
einen angenehmen Duft. Hatten sie alle. Ihr Blut war berauschend. Doch sie war
anders. Das spürte er gleich, doch er wollte es nicht wahrhaben. Dumm und
unwissend. Er konnte noch umdrehen. Tat es jedoch nicht. Zu spät. Er packte sie
an den Schultern. Presste sie gegen die Hauswand. Sie starrte ihn mit großen
Augen an. Fasziniert. Sie hatte keine Angst mehr. Was auch immer ihr Angst
eingejagt hatte, er war es nicht gewesen. Seine Augen färbten sich dunkelrot.
Leuchteten im fahlen Licht einer weit entfernten Laterne. Ein kleiner Lufthauch
wehte durch ihr Haar. Er schloss die Augen. Atmete tief ein. Genüsslich. Spürte
seine Zähne länger werden. Sie hatte
Er roch es nicht. Viel
zu lange schon war er auf dieser Welt. Hatte sich angepasst. An sein Leben
gewöhnt. Nie alternd. Verdammt dazu für immer auf der Erde zu wandeln. Als
Schatten. Für niemanden vorhanden aber doch da. Suchend, hungrig. Er fand immer
was er wollte, was er brauchte. Es gab genug von ihnen. Den Menschen. Sie war
nur eine von vielen. Sie legte den Kopf schräg. Wartete darauf, dass etwas
passieren würde. Er öffnete die Augen,
starrte sie an. Und dann biss er zu, nahm den ersten Schluck. Erstarrte. Etwas
stimmte nicht. Mit ihrem Blut war etwas nicht in Ordnung. Er löste sich von
ihr. Weg. Er musste weg von ihr. Er drehte sich um. Taumelte. Konnte nicht mehr
denken. Er hörte Schritte. Sie kam auf ihn zu. Weg. Schwach. Dumm und
unwissend. Wie konnte ihm das passieren? Ausgerechnet ihm. Er fiel. Nein. Er
musste aufstehen. Weg von ihr. Konnte nicht. Keine Kraft. Er lag auf dem Boden.
Das Gesicht nach unten. Sie stand neben ihm. Schaute auf ihn herab. Beugte sich
zu ihm hinunter. Sagte etwas. Er hörte nichts. Keine Kraft mehr. Er musste weg.
Doch er konnte nicht. Sie hievte ihn hoch. Schleppte ihn in einen kleinen
Eingang. Hinein in ein Haus. Heruntergekommen, modrig. Sie flößte ihm etwas
ein. Er konnte nicht anders. Hatte keine Wahl. Schlagartig ging es ihm besser.
Er musste weg. Wollte aufstehen. Schmerzen im Handgelenk. Er war gefesselt.
Pein durchfuhr ihn. Ein Mensch. Nur ein Mensch. Eine Frau. Sie beobachtete ihn.
Sie hatte versucht ihn zu töten. Warum? Er wusste es nicht. Sie hatte ihn
gerettet. Noch unklarer. Gedanken zu vernebelt um nachzudenken. Er versuchte
sich aufzusetzen. Sie half ihm. Er fauchte sie an. Er brauchte keine Hilfe.
Nicht von Menschen. Was hatte sie vor? Er musste sie umbringen, bevor sie ihn tötete.
Er stellte sich schwach. Tat als ob er gegen die Fesseln nichts ausrichten
konnte. Sie war hübsch. Doch es gab keinen anderen Ausweg. Mit einem Ruck hatte
er die Fesseln gelöst, sprang auf sie zu und tötete sie. Sie schaute ihn an.
Nicht hasserfüllt, nicht verabscheuend. Enttäuscht, liebevoll. Und dann
erinnerte er sich. Sie hatte ihn beobachtet. Hatte ihn gehasst. Ihn besser
kennengelernt. Ihn geliebt. Der einzige Mensch, der wusste dass es ihn gab. Sie
starb in seinen Armen. Er senkte den Kopf. Trauer. Nur von kurzer Zeit. Er
schritt hinaus auf die Gasse. Lief sie entlang bis zur Straße. Ja, es gab viele
Möglichkeiten zu sterben. Natürlicher Tod, grausamer Tod, Unfall. Vielleicht
aber auch Mord. Das Leben ging weiter. Sein Leben. Alles überdauernd.
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Luisa Klein).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.04.2010.
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