Ein Lächeln...
ist oftmals bedeutsamer als tausend Worte
Die Türen des Zuges fielen laut krachend ins Schloss. Ich sah nicht zurück, denn die vorangegangene Zugfahrt war nun Vergangenheit. Ich war endlich da, das allein zählte. Zum zweiten Mal in meinem Leben. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Monaten... Es war ein wenig absurd, und viele mögen sicherlich den Kopf schütteln, aber eine unbändige Anziehungskraft hatte mich erneut, und vor allem so schnell wieder hier her geführt. Hierher nach Sylt. Der nördlichsten Insel Deutschlands.
Tief durchatmend straffte ich die Schultern, griff nach dem Henkel meines Rollenkoffers und suchte mir einen Weg durch die wartenden Menschen auf dem Bahnsteig dieses Sackbahnhofs. Alles war genauso wie vor knapp zwei Monaten. Die grünen bizarren Figuren auf dem Bahnhofsvorplatz, die Geschäfte mit ihren Angeboten vor der Türe, die Fischläden in der Einkaufszone... Zwei Dinge jedoch waren anders: der heiße Sommer war vorüber, und... ich war allein. Während ich den Sommerurlaub zusammen mit einer Freundin verbracht hatte, hatte ich mir diesen Wochenendtrip bewusst allein vorgenommen.
Es waren viele Dinge, die mich bekräftigt hatten wieder nach Sylt zu kommen - die mich den Urlaub im Sommer nicht vergessen lassen haben -, jedoch eine Tatsache hatte mich mehr als alles andere hierher zurück gezogen. Ich hatte die Hoffnung ihn wieder zu sehen.
Obwohl die Versuchung groß war mit Sack und Pack die gesamte Einkaufsstraße entlang Richtung Meer zu gehen, zügelte ich meinen Drang, und machte mich auf die Suche nach meiner Pension. Sie lag in einer Nebenstraße im Zentrum, und ich fand sie dank der Wegbeschreibung rasch. Ein Glück, denn für eine großartige Suchaktion hätte ich nun wirklich keinen Nerv gehabt. Dafür war ich viel zu aufgeregt.
Nachdem ich mein Zimmer bezogen und notdürftig meine wenigen Sachen in den Schrank verfrachtet hatte, hielt mich jedoch nichts mehr dort. Ich wollte sofort nachsehen, ob er wieder da war, obwohl die Chance, dass der Zufall es gut mit mir meinte mehr als gering war, wenn ich ehrlich zu mir war. Schließlich waren mehrere Wochen vergangen.
Mit klopfendem Herzen näherte ich mich der Ecke, wo sich das Café Leysieffer befindet, überquerte die Kreuzung und fand mich nur wenige Schritte später an besagtem Platz wieder. Ich hielt für wenige Sekunden die Luft an, und schluckte. Natürlich war er nicht da. Wie hätte es auch anders sein können. Es war die Natur eines Straßenkünstlers von Ort zu Ort zu ziehen. Weshalb hätte er also ausgerechnet heute wieder genau an demselben Fleck stehen sollen?
Für einen kurzen Augenblick schloss ich die Augen, und sah die Szenen vor mir, die mich die ganzen Wochen über immer wieder eingeholt hatten. Ich war mit meiner Freundin zusammen nach einem schönen Strandtag und einem leckren Abendessen auf ein Eis zum Nachtisch die Fußgängerzone entlang geschlendert. Und dann hatte er da gestanden: ein Straßenkünstler, der unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war komplett silberfarben gewesen. Gekleidet war er mit Latzhose, darunter ein Hemd, einen Hut auf dem Kopf und eine Umhängetasche. Überall waren Knöpfe verschiedener Größen angenäht. Sogar sein Gesicht war mit silberner Farbe geschminkt und in mit Handschuhen bedeckten Händen hielt er einen Stock samt Bündel geschultert.
Es war der erste Straßenkünstler, der mich mit Pantomime vollkommen in seinen Bann gezogen hatte. Seine freundliche Art und Weise sich zur Show zu stellen war interessant und lustig zugleich gewesen. Normalerweise verhielten sich Künstler dieser Art konsequent stocksteif und ernst, und bewegten sich nur für einen kurzen Augenblick, wenn jemand Geld in den bereitgelegten Hut warf. Bei diesem war es jedoch vollkommen anders.
Er hatte auf einem Podest gestanden, worüber ein silberfarbenes Tuch gehängt war, so dass er erhöht zum Publikum stand. Sobald jemand Geld in seinen Hut warf, bewegte er sich, hob die Hand zum Gruß, oder bedankte sich, um kurz darauf wieder zu verharren. Kamen allerdings Kinder in seine Nähe und suchten seine Aufmerksamkeit, so widmete er sich ihnen mit unglaublicher Geduld und wahrer Freude, obgleich diese ihm nicht soviel Geld einbrachten, wie Erwachsene.
Er erwachte zum Leben, lächelte ihnen zu, winkte oder scherzte mit ihnen. So hielt er den Kleinen zum Beispiel seine Hand hin, bewegte sie jedoch immer höher, sobald diese versuchten danach zu greifen. Die Kinder gingen darauf ein und sprangen in die Luft, um die Hand schließlich doch zu fassen zu bekommen. Teils tat er dann so, als ob ein Stromschlag ihre beider Arme durchzuckte, was lautes Gelächter hervorrief. Immer und immer wieder kamen die Kleinen angelaufen und hatten ihre helle Freude.
Wir blieben eine ganze Weile dort stehen - konnten uns nicht losreißen. Groß und Klein war fasziniert von diesem Mann, und mir ging er seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, ihm ebenfalls ein paar Münzen in den Hut zu werfen, aber ich hatte einfach nicht widerstehen können. Schließlich wollte ich seine künstlerische Darbietung honorieren.
Es war gekommen, wie es hatte kommen müssen. Er hatte sich mir zugewandt, mir die Hand gereicht und sie länger als alle anderen geschüttelt. Dabei hatte er mir unverwandt in die Augen geschaut und mich mit einem unwiderstehlichen Lächeln zum schmelzen gebracht. Unwillkürlich hatte er ein Lächeln auf mein Gesicht gezaubert. Ich war wie versteinert. Diese Augen, dieses Lächeln... einzigartig.
Während sich unsere Hände trennten, zwinkerte er mir verschmitzt zu, bevor er wieder in seine Starre fiel, um sich kurze Zeit drauf den nächsten Leuten zu widmen. Meine Freundin fragte mich daraufhin unverblümt: "Na, was war das denn gerade?", aber ich war wie weg getreten. Auch sie hatte gemerkt, dass diese Begegnung etwas Besonderes gewesen war, also war es keine Einbildung meinerseits.
Genau diese Begegnung war nun zwei Monate her, und ich spürte immer noch ganz genau, dass sie etwas Einzigartiges gewesen war. So etwas erlebt man nicht alle Tage, dass ein Mensch einen vom ersten Augenblick an dermaßen in den Bann zieht; dass man ihn nicht vergessen kann, obwohl er völlig fremd ist. Allein der Gedanke daran ließ mich lächeln, und ich sah seine blitzenden Augen und sein Lächeln vor mir, als sei es erst gestern gewesen.
Worte, die meine
Mutter mal gesagt hatte, kamen mir in den Sinn: "Solche Straßenkünstler
sind meist Kunststudenten..." Und genau das galt es für mich
herauszufinden. Was befindet sich hinter der Fassade eines solchen Menschen?
War er wirklich so fröhlich, oder tat er nur so? Hatte er Freude an dem, was er
tat, oder warum machte er es? In diesem Fall gab mir mein Gefühl zwar bereits
die Antworten, aber ich wollte wissen, welche Lebensgeschichte hinter diesem
Mann steckt. Ich wollte ihn gern kennenlernen, ja ihn schlicht und einfach
wieder sehen.
Absurd, aber wahr. Er hatte mich nach nur so kurzer Zeit wieder
nach Sylt geführt. Und nicht etwa, weil ich mich wie ein Teenager in ihn
verliebt habe, wie vielleicht viele denken würden, wenn ich ihnen von meinem
Vorhaben erzählt hätte. Nein, einfach nur, weil er mich mit seiner
liebenswerten Weise und seinem Charme auf Anhieb so sehr fasziniert hat, dass
ich seitdem einen ungeheuren Drang verspüre, ihn noch einmal wieder zu sehen
und mit ihm zu reden.
Als mir zum Ende des
Hochsommers beim Anblick einer herabfallenden Sternschnuppe dieser Wunsch auf
wiederholte Weise durch den Kopf gegangen war, hatte ich unwillkürlich gewusst,
dass ich es nicht vollkommen dem Schicksal überlassen konnte. Wie sollte ich
schließlich jemals einen wildfremden Menschen wieder sehen, wenn nicht an einem
Ort, wo wir uns schon mal begegnet sind? War dort nicht die Chance größer, wenn
trotz allem minimal? Also beschloss ich noch in jener Nacht, sobald ich es
einrichten konnte, für ein Wochenende in den Norden zu fahren, in der Hoffnung,
dass mein Wunsch in Erfüllung gehen würde.
Und hier war ich nun.Er jedoch nicht. Eigentlich
keineswegs verwunderlich, bedachte man die Begebenheit unseres
Zusammentreffens. Aber es war einen Versuch wert gewesen. Ehe ich sonst noch
wochenlang das Für und Wider durchgegangen wäre, hatte ich kurzerhand den weiten
Weg in Kauf genommen, schließlich galt die Reise auch zu meiner Erholung.
Bevor nun
Enttäuschung in mir aufsteigen konnte, kaufte ich mir ein Eis in einer herrlich
duftend frisch gebackenen Zimtwaffel, wie es hier Tradition ist, und
schlenderte Richtung Meer um mich abzulenken. Das Rauschen der Wellen und das
Umherkreisen der Möwen zogen mich in ihren Bann, so dass ich das Zeitgefühl
verlor und mich erst als die Dämmerung einbrach in Richtung Pension begab.
Was mich auf dem Weg
dorthin erwartete ließ mich im Gehen innehalten. Dort stand er! Tatsächlich genau an derselben
Stelle wie damals. Dieselbe Verkleidung, dieselben Gesten. Wie hatte ich nur so
dumm sein können vorschnell negative Schlüsse zu ziehen? Schließlich war ich
ihm das erste Mal auch am Abend begegnet. Vielleicht ist er ja immer erst
Ich weiß nicht, wie
lange ich angewurzelt da stand, bis mich meine Beine Schritt für Schritt zu ihm
führten. Wie von selbst griff ich in die Tasche, zückte mein Portemonnaie und
warf ihm einige Münzen in den Hut. Mechanisch gab ich ihm meine Hand, als er
mir die seine entgegen streckte. Sekundenlang hielt er sie fest, und ich spürte
seine Wärme durch den Handschuh. Meine Augen wurden von seinen gefesselt, und
ich hatte das Gefühl ein gewisses Erkennen darin aufblitzen zu sehen. Spielten
mir meine eh schon gereizten Nerven einen Streich? Aber nein! Da war es wieder:
sein schelmisches Zwinkern und sein herausstechendes Lächeln wobei mir ganz
anders wurde. Ich musste mich regelrecht von ihm los reißen, schließlich
konnten wir nicht den ganzen Abend so stehen bleiben. Was sollten denn die
anderen Passanten denken? Außerdem fühlten sich meine Beine mittlerweile wie
Wackelpudding an.
Ein paar Meter
abseits blieb ich stehen. Mein Herz raste wie wild, und ich sog die kalte
Abendluft regelrecht ein, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dennoch beobachtete
ich weiterhin das Treiben vor dem Sockel und erhaschte ab und zu seinen Blick
und ein flüchtiges Lächeln, bevor er wieder seine gespielte Starre einnahm. Nun
war ich mir eindeutig sicher. Ich spürte es genau. Es war erneut etwas über
gesprungen, was wir beide bemerkt hatten. Etwas, das man nicht mit Worten
beschreiben kann.
Mein Herzschlag
beruhigte sich mit der Zeit und unsagbares Wohlbehagen legte sich über mich. Vollends
zufrieden mit dieser Begegnung trugen mich meine Beine wie von selbst - nach
einem letzten Blick und einem letzten Lächeln - zurück zur Pension. Die
Vernunft hatte mir eingeflüstert, dass ich nicht den ganzen Abend dort hätte
stehen bleiben können um ihn zu beobachten. Ich war ungeheuer glücklich, und
vielleicht würde ich ja zu späterer Stunde noch mal einen Spaziergang machen...
Doch die Müdigkeit
übermannte mich vorzeitig, so dass ich beim Relaxen in meinem Bett einschlief
und erst am nächsten Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen wieder aufwachte. Die
viele Bewegung, und vor allem die frische Seeluft hatten ihriges getan. Ich
fühlte mich so wohl und entspannt wie schon lange nicht mehr. Deshalb wollte
ich mich nun auch gar nicht darüber ärgern, dass der Abend anders verlaufen
war, als ich es mir vielleicht gewünscht hätte. Unnötige Gedanken hätten nur
dazu geführt diese unglaubliche Ruhe und Glückseligkeit in meinem Innern zu
vertreiben. Außerdem war ich mir inzwischen sicher: ich würde noch lange von dieser
sagenhaften Begegnung zehren können. Denn dadurch war mir klar geworden: Ja, es
wurden tatsächlich Wünsche wahr! Und auch konnte es nicht verkehrt sein, hin
und wieder seinen Teil zur Erfüllung beizusteuern...
Nach einem
ausgiebigen Frühstück machte ich mich auf den Weg zum Strand. Die Sonne lachte,
und es waren einige Menschen unterwegs, wenn auch nicht solche Massen wie in
der Hochsaison. Den Kopf hoch erhoben und die Wärme der Herbstsonne genießend
lief ich den Sandstrand entlang. Möwenrufe unterbrachen das stete Rauschen der
Wellen. Es war einfach herrlich! Hier konnte ich den Arbeitsalltag vergessen
und mich mit mir und der Natur um mich herum beschäftigen.
Als meine Beine
begannen schlapp zu machen, lief ich quer über den Strand vom Meeresrand Richtung
Dünen. Die Sonnenstrahlen hatten den Sand mit all ihrer Kraft erwärmt, so dass
ich mich auf einen kleinen Hügel setzen konnte. Ich ließ meinen Blick umher
wandern. Die Wellen rauschten mit einer enormen Geschwindigkeit heran und
hinterließen einen Schaumrand, während sich das Wasser sacht wieder zurück zog.
In der Ferne zählte ich drei Fischerboote. Ich ließ die Seele baumeln, genoss
jede einzelne Minute.
Als sich mein Magen
begann zu melden, war die Mittagszeit schon lange vorbei. Ich schlenderte den
Strand zurück und beschloss in einem Straßencafé auf der Promenade nach einem
kleinen Snack zu schauen. Das Wetter war viel zu schön, da wollte ich die Sonne
so lange wie möglich genießen.
Tatsächlich fand ich
ein Café, welches mir zusagte, und bestellte neben einem Glas Mineralwasser ein
Käsebaguette. Der Himmel war wolkenlos, ein Traumwetter für Oktober. Kein
Wunder, dass nahezu sämtliche Tische belegt waren. Rechts neben mir saß
händchenhaltend ein junges Pärchen, und auf der anderen Seite ein älterer Herr,
der ebenfalls auf sein Essen zu warten schien. Ein junger Mann schräg dahinter,
bemerkte ich, hielt mich mit seinem Blick fixiert. Röte stieg mir ins Gesicht,
und ich wandte mich ab. Ich ließ meinen Blick hinüber zum Meer schweifen, doch
meine Gedanken waren woanders - ein Gefühl beobachtet zu werden, blieb.
Mehr aus Reflex, als
aus Neugierde, drehte ich meinen Kopf erneut. Durch die Helligkeit der Sonne
musste ich blinzeln. Aber beim zweiten Hinschauen traf es mich. Dieses Lächeln,
diese strahlenden Augen hätte ich unter Hunderten von Menschen wieder erkannt.
Ja, er musste es sein! Obwohl ich ihn
nie ohne Verkleidung gesehen hatte, war ich mir sicher. Ein Zwinkern
seinerseits verriet, dass er sich ebenfalls meiner Aufmerksamkeit bewusst war.
Der aufkeimenden
Erregung in meinen Innern wurde Einhalt geboten, da just in dem Moment der
Kellner mit meinem Baguette kam. Toll, wie sollte ich jetzt noch etwas herunter
bekommen? Doch in Anbetracht meines knurrenden Magens, und dass es sicherlich
mehr als komisch gewirkt hätte, nun doch nichts zu essen, zwang ich mich dazu
Bissen für Bissen einzunehmen, und stur gerade aus zu gucken.
Allerdings hielt dieses
Vorhaben nicht lange. Schon bald erwischte ich mich dabei, in seine Richtung zu
blicken. Unsere Augen trafen sich erneut, und er lächelte mir zu. Auf meinem
Gesicht bildete sich ebenfalls ein zaghaftes Lächeln, und zeigte wieder einmal
wie ansteckend ein solches doch sein konnte. Es wäre zwecklos gewesen, sich
dagegen zu wehren. Immer wieder schaute ich auf, es war wie ein Zwang für mich.
Ich wollte dieses Lächeln sehen, welches mir auch tatsächlich immer wieder geschenkt
wurde. Tat er nichts anderes, als mich anzuschauen, fragte ich mich und fühlte
mich insgeheim geschmeichelt.
Kinnlange
dunkelblonde Locken umspielten wild sein Gesicht, und ich musste zugeben, der
Mann sah richtig gut aus! Das Essen fiel mir immer schwerer, und automatisch
verlangsamte sich mein Kauen. Obwohl es so gar nicht meine Art war, konnte ich
nicht davon ablassen ihn zu beobachten, und auch an seine Blicke hatte ich mich
inzwischen gewöhnt. Es war ein seltsames Gefühl, welches sich in meinem Körper
breit gemacht hatte. Eine gewisse Vertrautheit, die ich bereits auf der Straße
gespürt hatte. Wie war das möglich?
Der Zeichenblock vor
ihm auf dem Tisch, bestätigte übrigens meine Vermutung, dass er tatsächlich
nicht nur Straßenkünstler war, sondern sich auch in der Freizeit, oder vielleicht
sogar im Beruf der Kunst widmete. Und erst in dieser Zeit des längeren
Hinguckens bemerkte ich, dass er eigentlich beschäftigt war. In seiner Hand
ruhte ein Stift, der zum Einsatz kam, sobald er den Kopf senkte. Leichte
Schuldgefühle kamen in mir hoch. Hielt ich ihn etwa von der Arbeit ab?
Vielleicht wäre es eine gute Idee, mich wieder mehr meinem Baguette zu widmen,
als ihm?! Zum Glück konnte es wenigstens nicht kalt werden. Ich bläute mir
immer wieder ein nicht eher aufzuschauen, ehe ich fertig gegessen hatte, und
mit ein bisschen Disziplin schaffte ich es auch.
Danach jedoch galt
meine Aufmerksamkeit wieder diesem Mann, der mich noch genauso in seinen Bann
zog, wie an jenem Tag, wo ich ihm das erste Mal auf der Straße begegnet war.
Wie gern würde ich tatsächlich mit ihm reden, ihn näher kennen lernen. Hier saß
er quasi neben mir, womit ich nie im Leben gerechnet hätte. Noch gestern Mittag
war meine Hoffnung eher ein Hoffnungsschimmer, ihn jemals wieder zu sehen, und
nun hatten sich tatsächlich innerhalb weniger als 24 Stunden zwei Mal unsere
Wege gekreuzt. Das konnte kein Zufall sein.
Meine Gedanken
überschlugen sich. Warum blickte er ständig so intensiv her, ein stetiges
Lächeln für mich bereit? Es kam fast schon einem Flirt nahe, wie ich fand. Wieso
also machte er nicht auch Anstalten hinüberzukommen? Hibbelig spielte ich mit
meinen Fingern und nahm alle paar Minuten einen Schluck aus dem erst halb
geleerten Wasserglas. Er musste doch ebenfalls diese offene Vertrautheit
spüren, die zwischen uns herrschte. Oder wie sollte ich seine Gesten sonst
deuten?
Je länger ich darüber
nachdachte, desto unsicherer wurde ich, also beschloss ich - wie auch schon
durch diese Reise - den bedeutenden Schritt zu tun, ehe ich mich hinterher
selbst in den Hintern hätte treten können. Normalerweise gehörte ich eher der
zurückhaltenden Gattung Mensch an, und es hätte viel gutes Zureden für solch
eine Aktion meinerseits gebraucht, aber was hatte ich schon groß zu verlieren?
Würde es nach Hinten los gehen, so hätte ich es ganz allein mit mir
auszumachen, ihn würde ich aller
Wahrscheinlichkeit nie mehr wieder sehen.
Aller Zweifel jedoch
zum Trotz, erwies sich mein Vorhaben als richtig. Ich bemerkte nämlich sofort
im Augenwinkel, dass er traurig dreinschaute, als er mitbekam, dass ich zahlte.
Dieser Blick verschwand allerdings schnell, während ich kurz darauf unsicher
meinen Weg durch die Tische auf ihn zu bahnte. Genau diese Tatsache brachte
mich dazu, nicht doch noch im letzten Augenblick umzukehren. Nein, das würde
ich jetzt durchziehen. Das war es doch, was ich mir wochenlang ersehnt hatte.
Ihn wiederzusehen, und mit ihm zu reden.
"Darf ich mich
setzen?", meine Stimme klang mir selber fremd. Ein Nicken seinerseits ließ
mich ungeschickt den Stuhl zur Seite rücken und darauf nieder lassen. Schweigen
lag nun zwischen uns, aber das unwohle Gefühl verschwand von einer auf die
andere Sekunde. Es war ungewohnt, sein Gesicht so nah, und vor allem ohne
silberne Farbe zu sehen. Wir lächelten einander an, und ich bemerkte, dass
seine Augen eher grau als hellbraun waren. Diesen kleinen Unterschied hatte ich
im Lampenlicht auf der Straße nicht wahrnehmen können. Eine vereinzelte
silberne Strähne, die nach dem Waschen seiner Haare übrig geblieben war, gab
mir endgültige Gewissheit - wenn auch mittlerweile unnötig -, dass es
tatsächlich er war, dem ich hier nun gegenüber
saß.
Nach der kurzen aber
intensiven Musterung seines Gesichtes fiel mein Blick auf die Zeichnung vor
ihm. Überrascht hielt ich Sekundenlang die Luft an. Ich erkannte eindeutig mich
hier am Tisch dieses Straßencafés, hinter mir die Sonne über dem Meer. Also
hatte er mich die ganze Zeit gemalt. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen.
Deshalb diese steten Blicke.
"Bin ich
das?", fragte ich unsinnigerweise, obwohl die Antwort auf der Hand lag. Er
nickte, diesmal mit einem verlegenen Gesichtsausdruck. "Das ist
wunderschön!", brachte ich hervor, obwohl die Umstände mich nahezu
sprachlos machten. Ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Oh, wie
ich dieses Lächeln mochte! Es gab mir so viel, und doch konnte ich nicht
definieren, wieso.
"Sie sind
Künstler, nicht wahr?" Heute schien der Tag der sinnlosen Fragen zu sein,
aber irgendwie musste ich das Gespräch ja beginnen. Wieder nickte er - diesmal
kräftiger. Und als er nach seinem Stift griff, bemerkte ich, dass neben den
Zeichenutensilien ein weiterer Block lag. Schnell schrieb er etwas, und ehe ich
Zeit hatte mich zu wundern, verstand ich... er war stumm. Deshalb war er so
schweigsam und hatte bisher nur durch Nicken geantwortet. Er konnte nicht
sprechen.
Mir blieb keine Zeit
mir Gedanken darüber zu machen. Die Mundwinkel zu seinem unverkennbaren Lächeln
hochgezogen schob er den Block zu mir herüber und ich las: >Ja, das bin ich.
Eigentlich komme ich aus England, aber in diesem Jahr hat es mich nach
Deutschland verschlagen. Es gibt hier viele inspirierende Ecken.< Oh, er ist
gar nicht von hier, schoss es mir durch den Kopf. Also war es noch größeres
Glück, dass ich ihn tatsächlich wieder getroffen habe, als es mir ohnehin schon
vorkam.
Beinahe hätte ich
selbst einen Stift genommen um die Antwort zu schreiben, als ich mich entsann,
dass ich ja ganz normal mit ihm reden konnte, auch wenn er selbst die
schriftliche Kommunikation als sein Ausdrucksmittel benutzen musste.
"Ach, Sie sind
gar nicht von hier?", fragte ich. "Woher können Sie so gut
Deutsch?" Während meiner Worte gab ich ihm den Block zurück. Ich war
gespannt auf seine Antwort, schaute ihm auf die Finger, während er schrieb. Der
Stift glitt schnell über das Papier, und ich bewunderte, dass seine Schrift
trotz allem so gut lesbar, und vor allem schön geschwungen war.
Kaum war er fertig,
reichte er mir den Block, und beobachtete mich, während ich las: >Meine
Mutter stammt ursprünglich aus Deutschland. Sie hat in England meinen Vater
kennen gelernt. Den Rest der Geschichte können Sie sich denken.< Ich grinste
ihn an. Und ob ich das konnte. Bereits zu dem Zeitpunkt hatte ich mich an diese
ganz und gar ungewöhnliche Unterhaltung angepasst, und fühlte mich alles andere
als unwohl. Dieser Mann strahlte eine solche Lebensfreude aus, dass man gar
nicht dazu kam, über sein Schicksal nachzudenken.
Gesprochene Worte und
geschriebene Sätze wechselten sich ab, und auf diese Weise erfuhr ich einiges
über ihn. Zum Beispiel, dass er tatsächlich Kunst studiert hatte, und nun als freischaffender
Künstler durch die Gegend zog, um seinem Drang die Welt kennen zu lernen
nachzugeben. Dank seines Berufes war dies an so gut wie jedem Ort möglich, da
er überall seine Bilder verkaufen konnte, oder eben als Straßenkünstler zu
Werke trat. Auch wenn das zuletzt angesprochene nicht unbedingt viel einbrachte,
so konnte er nicht von loslassen, schrieb er, denn es gab ihm so viel zurück,
Jung und Alt auf diese Art und Weise zu erfreuen.
Ich gestand ihm, dass
es dieser Antwort eigentlich gar nicht bedurft hätte, da ich seine Einstellung
nur allzu deutlich in seiner Präsenz auf der Straße erkannt hatte. Ich freute
mich darüber, dass es ihm tatsächlich darum ging, und ich seine Freude an dem
Ganzen so konkret hatte erfahren dürfen. Er war ein ganz besonderer Mensch,
dass hatte ich direkt zu Anfang gespürt, und dieses Gefühl hatte mich zu Recht
die ganze Zeit über nicht losgelassen.
Ich fühlte mich
unheimlich wohl in seiner Anwesenheit und entspannte mich noch mal so richtig
innerhalb meiner letzten Stunden hier am Meer, bevor schon Morgen früh der
Alltag wieder losgehen würde. Bei der Bedienung bestellte ich noch einen
Eiscafé, den ich sichtlich genoss. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es zu
kalt für ein Eis war. Während ich verträumt das Meer mit seinen Wellen beobachtete,
hörte ich das stete Geräusch des Stiftes auf dem Papier.
Als ich aufblickte,
erkannte ich, dass er sich erneut seinem Zeichenblock gewidmet hatte. Gebannt
schaute ich nun zu. Strich für Strich entstand ein weiterer Stuhl neben dem
meinem am Tisch, und schließlich nahm er selber auf dem Papier Gestalt an. Es
war, als ob er immer schon dahin gepasst hätte, als ob das Bild bisher alles
andere, als komplett gewesen war, obwohl mir das vorher nie aufgefallen wäre.
Ich hatte das Gefühl von innen heraus zu lächeln, und freute mich wirklich von
Herzen, als er mir das Bild zum Abschied schenkte. Es fiel mir mehr als schwer
mich loszureißen, doch ich musste langsam aber sicher gehen, sonst würde der
Zug nach Hause ohne mich abfahren.
Zum Abschied stand er
auf, und nahm mich kurz in den Arm. "Sehen wir uns wieder?", fragte
ich unverwandt. Während unserer zufälligen Begegnung und der daraus
entstandenen Konversation hatte ich bereits einiges über den englischen
Künstler erfahren, der meine Aufmerksamkeit so unverblümt an sich riss, aber es
gab garantiert noch so viele Dinge mehr, die es zu ergründen gab, derer ich vor
allem auch mit regem Interesse entgegen sah. Dieser Mann faszinierte mich
schlichtweg, und nun, da ich Blut geleckt hatte, nur noch mehr. Also packte ich
die einzige Chance beim Schopf, die mir noch blieb, bevor sich unsere Wege
erneut trennen würden.
Das einzige Wort,
welches er daraufhin schrieb, ließen mein Herz noch mehr hüpfen, als es ohnehin
schon tat. >Unbedingt!<, stand auf seinem Block, und sein offenes Lächeln
besagte mir, dass er es ehrlich meinte.
Erst eine Stunde
später im Zug öffnete ich die Papierrolle und schaute mir die Widmung an, die
er zu dem Bild geschrieben hatte. >Ein Lächeln ist oftmals bedeutsamer als
tausend Worte... Danke für dein bezauberndes Lächeln! Matthew< Unwillkürlich
verzog sich mein Mund zu einem breiten Lächeln, und ich sah das seine erneut deutlich
vor mir. Wie recht er mit seinen Worten doch hatte! Wie viel brachte ein
Lächeln im Alltag, wenn es einem nicht gut ging, oder wie oft war ein Lächeln
die Ursache dafür das Eis zum Schmelzen zu bringen.
Es gab so viele
Ausdrucksweisen eines Lächelns, dass man oftmals ein Gesicht ganz genau
studieren, ja hinter die Fassade blicken musste, um die wahre Aussage darin
erkennen zu können. Es gab freundliches Lächeln, zufriedenes Lächeln,
verträumtes Lächeln, aufmunterndes Lächeln, verlegenes Lächeln, schelmisches
Lächeln, hinterhältiges Lächeln, dankbares Lächeln. Während ich darüber
nachdachte, fielen mir so viele verschiedene Arten des Lächelns ein, dass ich
mir der herausragenden Bedeutung dieser Gefühlsregung erst vollends bewusst
wurde.
Es war auch sein Lächeln gewesen, welches mir in
Erinnerung geblieben war und mich ihn nicht hatte vergessen lassen. In diesem
Lächeln lagen so viel Wärme, so viel Freude, ja so viel Wahrheit. Und vor allem
war es eine Form seiner Kommunikation ohne Worte. Wo andere vielleicht mit
tausend Worten nicht vermocht hätten ihre wahren Gefühle zu äußern, so hatte er
gelernt dies durch Gesichtszüge und Gesten auszudrücken.
Erst jetzt wurde mir
bewusst, wieviel mir dieses außergewöhnliche Gespräch mit ihm gegeben hatte. Es
war nicht nur die unsagbare Freude darüber, dass mein Wunsch in Erfüllung gegangen
war, weil ich ihn tatsächlich wiedergesehen, ja sogar kennengelernt habe. Nein,
es war viel mehr und viel bedeutsamer.
Während der
restlichen Zugfahrt las ich seine Zeilen immer wieder, und stellte erst kurz
vor meinem heimatlichen Bahnhof fest, dass wir uns einander überhaupt nicht
vorgestellt hatten...
© Simone A. (2004 - 2006)
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Simone Alby).
Der Beitrag wurde von Simone Alby auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.04.2010.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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von Bernd Herrde
In seinem sechsten Gedichtband zeigt sich Bernd Herrde wieder als Meister der Poesie. Wunderschöne, lebenskluge und herzenswarme Gedichte reihen sich wie Perlen auf einer Kette und ziehen den Leser in ihren Bann.
Bernd Herrde, geboren 1946 in Dresden. Erlernter Beruf Binnenschiffer bei der Fahrgastschifffahrt Dresden, später Studium von Kultur- und Kunstwissenschaft an der Universität Leipzig und von 1980 bis 2011 Konservator im Museum für Sächsische Volkskunst.
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