Maike Sprickerhoff

Ivaté- Die Entdeckung, Part 1

Die endlos lange Straße aus festgefahrenem Sand erhob sich vor uns und schraubte sich in Schneckenform den Berg hinauf. Auf etwa 3.600 Metern liegt das Dorf Putre, in dem meine Mutter und ich unseren Urlaub verbrachten. Wir fuhren jedes Jahr in die Anden, auch wenn wir wussten, dass sie von Erdbeben geprägt sind. „Dauert es noch lange?“, war die Frage, die ich schon seit Stunden stellte. „Nein Cassie, nur noch ein bisschen“, war die darauf folgende plumpe Antwort, die ich zu Hören bekam. Ich lehnte mich an die Scheibe unseres Pick-Ups, die bei jeder Unebenheit der Straße erzitterte, und schaute nach draußen, auf die rasant vorbei ziehenden Steine.

Von Bäumen war schon seit Beginn der Fahrt nichts mehr zu sehen. Einzig ein vertrockneter Strauch, der tapfer am Wegesrand stand und sich von den Sonnenstrahlen zusammen krümmen ließ. Gegen Abend erreichten wir eine beschattete Ruine, die, wie mir meine Mutter eifrich berichtete, vor vielen Jahrtausenden eine Siedlung der Atacamenos war und auch in weitem Umkreis der einzige Ort mit Wasser. Da wir bereits angehalten hatten, schnappte ich mir die Taschenlampe vom Rücksitz und lief nach kurzem Warten auf meine Mutter zur Besichtigung geradewegs auf die alten Bauwerke zu. Ein Knacken, wie das Zersplittern eines Astes, ließ mich vor Schreck zusammenfahren. Der Schatten einer Wolke, die das Licht des Mondes verbarg, strich über den sich vor mir aufbäumenden Stein. Die glänzende Spitze eines Messers schnellte hervor und verfehlte mich um ein Haar, dank meiner reflexartigen Bewegung in Richtung Boden. Der panische Schrei meiner Mutter hinter mir ließ mich sofort wieder aus dieser Pose aufspringen. Doch auch sie stand nur wie angewurzelt da und war mit dem Schrecken davongekommen.

Die Person mit dem Messer rannte auf die andere Straßenseite, auf welcher sie in ein schwarzes Auto – das wir zuvor noch nicht wahrgenommen hatten – sprang und bergabwärts davonfuhr. Ich schaute der sich langsam legenden Staubwolke noch verdattert nach, als ich bemerkte, dass sich ein kleiner samtener Beutel keine zwei Schritte vor mir befand, den die Person offenbar in der Eile verloren hatte. Schnell und ohne auch nur einen Gedanken daran zu veschwenden, was in dem Beutel enthalten sein könnte, hob ich ihn auf und steckte ihn in meine Jackentasche. „Ist dir auch nichts passiert?“, fragte mich meine Mutter, die inzwischen schon neben mir stand. „Nein, mach dir keine Sorgen, aber wir sollten weiterfahren, um noch zu meinem Geburtstag morgen in Putre zu sein.“ Als wir schon eine Weile gefahren waren, wurde ich so müde, dass ich einschlief. Ich träumte, auf einem Schiff zu sein, das so hin- und herschaukelte, dass ich gegen die Wand geschleudert wurde. Geschrei drang langsam in mein Ohr und plötzlich fand ich mich in unserem Auto wieder. Das ganze Auto rüttelte. Ich fasste mir wegen des Lärms an den Kopf, von dem ich meine Hand sofort wieder zurückzog. Das Blut lief meine Hand hinab, bis es in meine weiße Bluse einsickerte. Ich drehte mich zu meiner Mutter um und schrie, denn sie lag mit dem Kopf auf dem Lenkrad, tot.

Die Erde wurde ruhig, alles um mich herum schien leer. Die Sonne schaute schon am Horizont hervor und die Strahlen wärmten meine Hände. An meinem 15. Geburtstag, höchstens 500 Meter von unserem Urlaubsziel entfernt, starb meine Mutter. Ohne jede Wahrnehmung lief ich mit der Handtasche, die ich noch immer um die Schulter geschlungen hatte, die Straße entlang und wartete darauf, dass mein Herz einfach aufhört zu schlagen. Ich lief, bis ich das blau verzierte, zweistöckige und damit größte Haus in Putre erreichte. Hier wohnten wir jedes Jahr, die Hausbesitzerin, Betti, war für mich wie eine Tante, die einfach nur weit weg wohnte. Ich drückte die Klinke mit der Schlangenverzierung, die für mich besonders als kleines Kind sehr interessant gewesen war, herunter und zog die Tür auf.

Der Geruch von Pfannkuchen stieg mir in die Nase. Es war wunderbar, das leise Knistern und Knacken des Kaminfeuers zu hören. Betti kam mit weit aufgerissenen Augen und einem geöffneten Taschentuch auf mich zugerannt. „Oh, Gott Cassie! Was ist passiert?“, war das Erste, was aus ihrem Mund sprudelte, „Wo ist Sandra?“ Betti drückte mir das Taschentuch auf die Stirn und umarmte mich ganz fest. Danach holte sie ein Pflaster aus ihrem Verbandskasten und klebte es mit etwas Salbe an meine Stirn. Ich erzählte ihr unter Tränen von dem Erdbeben. Auch sie weinte und hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. „Wo ist das Unglück passiert?“, wollte Betti wissen. „Etwa einen halben Kilometer von hier.“ Sie wischte sich die Tränen aus dem Auge und ging zur Tür. „Du gehst am Besten rüber zu Naomi. Sie ist schon ganz aufgeregt gewesen, dass du kommst“, damit öffnete Betti die Tür, ging nach draußen und stieg in ihren Wagen, der immer fast direkt vor der Tür stand ein. Sie ließ den Motor an, wirbelte ein wenig Staub auf und fuhr mit dem allzu vertrauten Knattern die Straße hinab.

Ich schaute durch die offene Tür hinüber zu dem kleinen Einfamilienhaus, wo meine hier beste Freundin Naomi wohnte. Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht und ich steckte das Taschentuch in meine Jackentasche, wobei mir auffiel, dass dort drin immer noch der Beutel lag. Ich nahm ihn heraus, öffnete ihn vorsichtig und ein grüner Anhänger, befestigt an einem schwarzen Band kullerte in meine Hand. Ich strich mit dem Finger darüber und ertastete eine Einkerbung. Ich schaute sie mir genauer an und konnte erkennen, dass sie aussah, wie eine römische eins. Also eventuell auch ein i . Schnell öffnete ich den Knoten der Kette und band sie mir um den Hals. Am Haus der Davis' angekommen, klopfte ich an die grün-rot gemusterte Tür, die in der Mittagssonne in ihren Farben leuchtete. Ein Schlüssel wurde im Schloss knackend umgedreht und kurz darauf ging die Tür auf. Ich schaute in die Augen eines Mädchens. Sie war blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen und eine Zigarette in der Hand. „Cassie?“ „Oh mein Gott, Naomi! Was ist mit dir passiert?“, fragte ich bestürtzt. Die sonst so muntere Naomi bat mich stumm mit einer Geste herein. „Wo ist Sandra, deine Mutter? Bestimmt bei Betti, oder?“ Ich schaute sie eine Weile an, bis sich meine Augen langsam mit Tränenflüssigkeit füllten. Ich konnte es nicht aufhalten, so fiel ich Naomi in die Arme und schleuderte ihr dabei schlagartig die Zigarette aus der Hand. Noch angespannt hielt sie die Arme zur Seite, dann aber legte sie sie schützend um mich. „Erzähl...“ Ich erkannte meine Freundin wieder: Die Freundin die immer da ist, mit der man jeden Schmerz vergisst.

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