Die Lichter der Großstadt erhellen die Nacht. Außer im Zentrum, in dem hinter einer dicken Mauer ein einsamer, alter Friedhof liegt. Die verbogenen und verrosteten Stahlkreuze ragen wie faulige Zähne in den Schatten, über die steinharten Böden sammeln sich jede Nacht die Nebelschwaden und schenken der Umgebung ein gespensterhaftes, grünes Leuchten.
Inmitten dieser wohnlichen Umgebung sitzt eine einsame Gestalt auf einem der weniger verbogenen Kreuze. Ein langer, für den Frühling viel zu dicker und langer, Mantel verdeckt die langen Beine, die in schwarzen Lederstiefeln stecken. In der rechten Hand hält die Gestalt eine halb gerauchte Zigarette, die wie das Auge eines Feuerdämons in der Nacht leuchtet. Die andere Hand ist unter einem braunen, abgewetzten Lederhandschuh verborgen.
Das kantige, bleiche Gesicht ist auf den Vollmond gerichtet und die unnatürlich roten Lippen sind zu einem dämonischen Grinsen verzogen, bevor ein weiterer Zug an der Zigarette folgt.
Die Gestalt löst das Kopftuch und lange, pechschwarze Haare fallen über die schmalen Schultern. Leise lachend schwenkt die Frau den Kopf und springt dann blitzschnell von ihrem unbequemen Sitz. Steine knacken unter ihren Stiefeln, als sie federleicht landet und den Sprung abfängt, indem sie in die Hocke geht und sich mit der linken Hand am Boden abstützt.
Langsam richtet sie sich auf und lässt dabei die Zigarette fallen, die sie sofort mit der Schuhspitze in den Boden tritt.
Plötzlich nimmt sie eine Bewegung im Augenwinkel wahr und fährt herum. Aus dem Nebel kommt eine ihr ähnliche Gestalt auf sie zu und bleibt knapp eine Armlänge von ihr entfernt stehen. Sie steht unschlüssig da und mustert den Passanten, dieser nickt ihr freundlich zu und streckt die bleiche Hand nach ihr aus. Langsam weicht sie zurück und hebt die Arme zur Abwehr.
„Wer bist du?“
„Isidor ist mein Name“, antwortet die Gestalt und verneigt sich leicht. „Izzy. Und du?“
„Viktoria“, antwortet sie zaghaft.
„Bist du auch?“ fragt er und lächelt etwas. Spitze Eckzähne werden sichtbar. Daraufhin entspannt sie sich und kramt in ihren Taschen nach einer neuen Zigarette. Als sie eine gefunden hat, steckt sie sie sich an und bläst den Rauch durch die Nase raus. „Ja. Heute ist ein besonderer Tag.“
„So?“ fragte Izzy ohne Interesse in der Stimme.
„Heute sind es genau zehn Jahre.“
Izzy beginnt schallend zu lachen und klopft sich dabei auf den Schenkel. „Zehn nennst du einen Grund zum Feiern. Das ich nicht lache.“
„Du lachst doch“, korrigiert Viktoria und nimmt einen weiteren tiefen Zug.
„Ja, genau. Aber mir ist nicht nach Lachen. Ein seltsamer Zufall, dass wir uns treffen. Denn auch heute ist mein Jahrestag. Allerdings habe ich ein paar Jährchen mehr auf dem Zähler als du.“
„Echt?“ fragt Viktoria daraufhin interessiert. Izzy lächelt, nickt und antwortet: „Genau sechshundertachtundzwanzig. Eine halbe Ewigkeit.“
In der Nähe ist eine Parkbank. Stumm deutet er darauf und schlendert dann darauf zu. Viktoria folgt ihm langsam und setzt sich dann etwas versetzt auf die Bank. Izzy macht es sich bequem und schlägt die Beine übereinander. Er sitzt genau in der Mitte und streckt beide Arme zur Seite, sodass seine langen, bleichen Finger den Mantel von Viktoria gerade berühren. Es fröstelt ihr und sie rutscht noch ein paar Zentimeter von ihm weg.
„Du bist so kalt.“
„Ich habe lange geschlafen. Das kann vorkommen“, antwortet Izzy unbeeindruckt und starrt in den Himmel. „Sechshundertachtunddreißig Jahre. Eine halbe Ewigkeit“, wiederholt er.
„Und wie war es so?“
Izzy pfeift durch die Zähne und sieht Viktoria dann traurig an. „Nicht so schön, wie ich dachte. Damals, als mich meine Meisterin fragte, was ich von dem Angebot halten würde die Ewigkeit zu erleben, unsterblich zu sein, glaubte ich noch an Gott und die Welt. Ich sah die Chance die Welt zu sehen, Abenteuer zu erleben und eben unsterblich zu sein. Doch diese Schlange mit ihrer gespalteten Zunge, möge ihre Seele in der Hölle brennen, vergas mir die Kehrseite der Medaille zu zeigen. So gab ich mich ihr ohne Bedenken hin und wurde, was ich heute bin.“
„Ein überlegenes Wesen.“
Izzy schnaubt über diese Aussage und macht eine wegwerfende Bewegung. „Einem Menschen vielleicht. Doch eigentlich sind wir schwach. Der Mond ist unsere Sonne, die Sonne verbrennt uns. Die Nacht ist unser Zuhause, und doch schadet sie uns. Das Blut ist der Quell unserer Kraft, und gleichzeitig unser Fluch. Nacht für Nacht streichen wir durch die Welt, um dann doch wieder in heimischer Erde schlafen zu müssen. Das Wasser ist für uns ein unüberwindbares Hindernis. Und schließlich und endlich unsere Feinde nicht zu vergessen. Blutrünstige Wegelagerer in Form von Gestaltenwandlern, Hexenmeistern und Werwölfen. Nicht durch die Sonne gebunden machen sie uns das Leben schwer.“
„Dann bereust du es also das zu sein, was du bist?“
„Ja und nein. Einerseits habe ich nicht alles gesehen, was ich wollte, aber genug um zu erkennen, dass mein Leben vielleicht doch einen Sinn hatte. Ich hatte eine gute Aufgabe, lieferte mir oft Kämpfe mit der Inquisition und anderen Institutionen im Dienste der Kirche. Doch nun haben sie das Interesse an uns verloren. Zu schade, denn seitdem bin ich ruhelos.“
„Du hast gegen die Inquisition gekämpft?“
„Einen Kampf kann man das nicht nennen. Es waren doch nur Menschen. Aber es war ein Heidenspaß ihnen ihre Zerbrechlichkeit zu zeigen, bevor ich sie in die Flammen der Hölle schickte. Sie waren eben nur Menschen.“
„Beeindruckend. Wie lange hast du es gemacht? Lange? Hast du viele getötet?“ Die Fragen sprudeln aus Viktoria nur heraus und bei jeder Antwort rückt sie näher an Izzy heran. Er beantwortet ihr alles geduldig und macht ab und an eine Pause, um in den Vollmond zu starren. Viktorias Zigarette brennt inzwischen ab, bis die glühende Asche ihre Hand erreicht, sie sie erschrocken fallen lässt und ihre verbrannte Hand schüttelt.
„Ich habe viel gesehen, weißt du?“ sagte Izzy schließlich, als ihr die Fragen ausgehen. „Ich habe viele Fragen gestellt und viele Antworten erhalten. Genau wie du. Aber ich hatte ja lange genug Zeit, nicht wahr?“
Viktoria versteht den Sinn dieser Frage zwar nicht, aber sie nickt. Nicken kann nie falsch sein, denkt sie. Schließlich vertraut sie diesem Vampir, der so plötzlich in ihr Leben trat und im Gegensatz zu ihrem Meister dem jungen Vampirmädchen wenigstens etwas Aufmerksamkeit schenkt und sie an seiner Lebenserfahrung teilhaben lässt.
„Über sechshundert Jahre sind wirklich lange, ja“, antwortet sie schließlich und hofft, dass es Izzy reicht. Der Vampir blickt sie mit starren Augen an und lächelt dann. „Das will ich meinen, Viktoria. Dann gestatte mir doch selbst eine Frage zu stellen. Eine, die einer Antwort wohl würdig sein wird.“
„Bitte.“
„Bist du mit deiner Existenz zufrieden? Haben sich deine Erwartungen erfüllt oder bist du nur einer Lüge aufgelaufen und verfluchst nun jeden Tag?“
Viktoria schluckt einige Male. Im ersten Moment weiß sie einfach nicht, was sie antworten soll. Schließlich stößt sie ein kurzes Ja aus.
„Ja? Bist du nun zufrieden oder verfluchst du jeden Tag?“
„Ich bin zufrieden. Die Kraft, die Macht und die Gewissheit, besser zu sein, machen jede Sekunde meines Lebens zu einer Symphonie. Davor war ich ein Nichts und jetzt bin ich ein überlegenes Wesen“, sprudelt es aus Viktoria heraus, „niemand kann mir das Wasser reichen und zusammen mit meinen Freunden werden die Jagden nach den kleinen, schwachen Menschlein zu einem Fest der Sinne.“
Izzy verfolgt die Ausführungen der jungen Vampirin aufmerksam und nickt zustimmend. Doch sein bis dato freundliches Gesicht verhärtet sich immer mehr bis es sich zu einer bösen Fratze verzieht. Viktoria bemerkt die Veränderung jedoch nicht und plaudert fröhlich weiter. „Mein Körper strotzt nur so vor Kraft und immer mehr Fähigkeiten treten zu Tage. Ich kann die Gestalt von Nebel annehmen. Willst du sehen?“
„Gerne“, zischt Izzy böse und verschränkt die Arme vor der Brust. Viktoria springt von ihrem sitzt und atmet laut ein und aus. Dann breitet sie die Arme aus und schließt die Augen. Stumm bewegen sich ihre Lippen und ihr Körper wird wirklich beinahe transparent. Doch dann nimmt er wieder Form an und Viktoria atmet schwer aus. „Manchmal will es aber noch nicht.“
„Wir sind auf einem Friedhof, einem Ort voller Muttererde. Ein Ort, der Vampiren noch mehr Kraft gibt. Und du bist nicht einmal zu so einer einfachen Verwandlung wie dem Nebel fähig“, flüstert Izzy drohend, „weißt du, was du bist?“
Viktoria zuckt unter der Schärfe seiner Aussage zusammen. „Untrainiert?“
„Nein“, geifert Izzy, „nein. Du bist eine Schande!“ Das letzte Wort schreit er so laut, dass in den nahen Bäumen Vögel aufgeschreckt werden und schnell einen anderen Schlafplatz aufsuchen.
Izzy gleitet theatralisch langsam von seinem Stein und baut sich vor Viktoria auf. Sie zittert wie Espenlaub und sucht nervös nach einem Fluchtweg.
„Ich habe dir gesagt, wie alt ich bin. Gut. Aber nun sage ich dir, was meine Aufgabe ist. Ich schreibe Grabreden.“
„Was?“ stammelt Viktoria.
„Ich schreibe Grabreden. Grabreden für Leute wie dich. Unreine Würmer, die sich Vampir schimpfen und von einer neuen Zeit sprechen. Einem neuen Zeitalter, das von den Würmern regiert wird? Nur über meine Leiche! Und die Leichen der anderen Alten. Wir werden das nicht zulassen. Darum schicken wir Leute wie mich. Um Leute wie dich zu finden, auszuhorchen und dann zu töten.“
„Du willst mich töten?“
„Mehr als das. Ich werde dich ausmerzen. Dich und das ganze Geschwür der neuen Generation!“ Blitzschnell packt er Viktoria am Hals und hebt sie über den Boden. Seine langen, dünnen Finger formen sich zu Krallen, die sich schmerzhaft in ihren Hals bohren. Sie schnappt nach Luft und strampelt verzweifelt, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Doch Izzy hebt sie nur noch höher, seine Augen leuchten böse als er sich streckt und sanft in ihr Ohr beißt. „Jetzt kommt das Ende“, flüstert er, „doch davor muss ich noch was wissen. Wie viele von dir gibt es noch? Wie viele hast du gemacht?“
Im selben Moment lässt er Viktoria fallen. Sie landet unsanft auf dem Hintern, greift nach ihrer Kehle und schnappt wie ein Fisch an Land nach Luft. „Erbarmen.“
„Es gibt kein Erbarmen für Würmer wie euch. Nur den Tod.“
„Lass mich gehen“, fleht das Mädchen. Doch Izzy schüttelt langsam und bestimmend den Kopf. „Nur einer wird diesen Friedhof heute verlassen. Der andere wird für ewig in der Erde ruhen bleiben. So sprich, oder ich hole mir die Information auf einem für dich schmerzvolleren Weg.“
„Einer“, schreit Viktoria heraus, „nur einer wurde von mir eingeführt. Doch er ist tot.“
„Tot? Das wollen wir doch mal sehen“, antwortet Izzy und streckt seinen rechten Arm nach ihr aus. Von einer unsichtbaren Macht gepackt schwebt Viktoria nun über dem Boden auf Izzy zu. Gierig öffnet er den Mund, seine Reißzähne blitzen im Mond auf. „Nur einer also“, geifert er, bevor er sich schnappend in Viktorias Hals verbeißt und gleichzeitig ihren Schrei mit der linken Hand erstickt. Gierig nimmt er das Blut in sich auf und lässt die leblose Hülle dann zu Boden fallen wie einen leeren Becher.
In seiner Tasche findet er ein Taschentuch und tupft sich die Lippen ab. „Ein edler Tropfen, fast unverbraucht. Welch eine Verschwendung“, murmelt er und packt den leblosen Körper von Viktoria dann bei den Beinen.
Ohne große Anstrengung schleift er sie zu einem frisch ausgehobenen Grab am anderen Ende des Friedhofs und rollt das Mädchen hinein. Dann nimmt er die Schaufel aus dem frischen Erdhügel und baut sich über dem Grab auf.
„Ich habe mich heute hier eingefunden, um eine weitere nutzlose Gestalt in Form eines Vampirs seinem gerechten Schicksal zuzuführen. Was wir aus unserem Leben machen entscheiden wir selbst, doch dabei sollten wir immer die Bedürfnisse der Alten achten. Dieses nichtige Wesen hat sich nicht daran gehalten und bezahlte nun den Preis für seine schändlichen Taten. Zwar schuf es in zehn Jahren nur eine weitere schmutzige Gestalt, doch selbst diese war eine zu viel. So übergebe ich diesen Körper nun der Ewigkeit und schließe mit den Worten: Egal was du bist, du kommst mit nichts ins Leben und nimmst nichts mit.“
Danach rammt Izzy die Schaufel in den Hals der Toten und trennt den Kopf dadurch ab, dann in die Erde und kippt die erste Ladung auf den Körper. Einen Sarg benötigt er nicht, die Insekten und Würmer sollen schnell sicherstellen, dass eine Auferstehung nicht durchgeführt werden kann.
Nach fünf Minuten Arbeit liegt nur noch der Kopf von Viktoria frei. Auf ihrem Gesicht liegt noch immer der Ausdruck des Entsetzens und des Schmerzes.
„Weißt du, Mädchen, zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich vielleicht anders gehandelt. Vor einhundert Jahren vielleicht. Irgendwie hatte ich dich gern, auch wenn du ein fanatisches Biest warst. A dios contigo, vampírica. Adiós!"
Eine letzte Schaufel Erde verbirgt den Körper nun endgültig. Fünf weitere Minuten später ist das Grab verschlossen, über dem ein einfaches Holzkreuz steht. „Unbekannt“ steht in Eisenletter darauf.
Zufrieden blickt Izzy seine Arbeit an und wirft dann die Schaufel weg. Mit zwei großen Sprüngen überquert er den Friedhof und springt dann mit einem einzigen riesigen Satz über die drei Meter hohe Mauer.
Vorheriger TitelNächster TitelGrabrede war mein Beitrag zu einer Vampir-Anthologie.
Izzy tritt inzwischen immer wieder als Kopfgeldjäger in anderen Vampirgeschichten von mir auf.Nicolai Rosemann, Anmerkung zur Geschichte
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.05.2010.
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