Norbert Wittke

Dr. Geiger (Typen die man nicht vergisst)


Nach meiner Versetzung lernte ihn kennen. Den Oberregierungsrat Dr. Geiger,
ca. 1,75 cm groß, 60 Jahre alt und Brillenträger mit solch dicken Gläsern,
wie ich sie vorher nicht gesehen habe.

Ich wurde zunächst als Springer eingesetzt. Musste überall dahin, wo Not am
Mann war. Sechs Wochen musste ich einen Steueramtmann vertreten. Dr.
Geiger war sein Sachgebietsleiter. Als ich mich bei ihm anmelden wollte,
nach dem Anklopfen in sein Büro trat, dachte ich ich sei in einem Gewächs-
haus gelandet. Überall auf den Fensterbänken und auf Tischen Blumen und
Pflanzen. Es sah aus, als sei ich in die grüne Lunge der Kreisstadt  S. geraten.

Aber lange hatte ich nicht Zeit, diesen Anblick zu verdauen. Ich wurde von einem
Foxterrier angesprungen. Sein Körbchen stand von mir aus gesehen rechts neben
dem Schreibtisch. Ich stellte mich vor. So verlief unser erster Kontakt.

Im Verlaufe der Wochen zog ich meine Erkundigungen ein.  Er war in den
Zeiten des Dritten Reiches sogar Finanzpräsident gewesen. Nach dem Krieg
und der Entnazifizierung war er wieder in der Finanzverwaltung eingestellt
worden, wurde aber zum Oberregierungsrat degradiert und nie mehr befördert.

Ich bewunderte an ihm, dass er sich mit dem Schicksal abfand, aber auch
niemanden mehr wichtig nahm. Zu seinen Mitarbeitern pflegte er einen seltsamen
Kontakt. Zweimal im Jahr traf er sich mit ihnen außerdienstlich. Bestimmte dann
bei welchem Sachbearbeiter das Treffen zuhause stattfand. Er war verwitwet
und begründete so, dass er seine Mitarbeiter nicht bei sich im Hause empfangen
konnte. Der ausgewählte Sachbearbeiter bekam von ihm 100,00 DM für
Getränke und Essen. Aber da mindesten 300,00 - 400,00 DM dafür drauf
gingen, wollte natürlich keiner unbedingt der Gastgeber sein. Aber alle hatten
Angst, es ihm persönlich zu sagen. So wurden vor dem anstehenden Termin
die Sachbearbeiter krank, hofften so, ihm zu entkommen.

Auch sein Urlaub wurde für manche Mitarbeiterin zum Drama. Er bestimmte eine
von ihnen zur Blumenpflege. Wehe in seiner Abwesenheit wäre eine Blume einge-
gangen. Er konnte da sehr grantig werden.

Was ich später für mich ausnutzen konnte war seine starke Kurzsichtigkeit und seine
große Rivalität zum Vorsteher Dr. Meica. Sobald er nur den Namen sah, wurde er
aktiv, strich auf Schreibentwürfen den Namen durch, setzte dann seinen darunter.

Als ich schon meinen eigenen Veranlagungsbezirk hatte, nutzte ich das aus. Sobald
der Vorsteher einen Vorgang sehen und selber unterschreiben wollte, ging ich so
vor, dass ich wie gefordert den Vorgang bearbeitete, ihn dann aber in eine Mappe
für Dr. Geiger legte. Er war zwar nicht mein Sachgebietsleiter, aber ich hatte zu einem
Kollegen gute Beziehungen, der in seinem Sachgebiet war. Ihm brachte ich dann
die Akte. Siehe da die Angelegenheit war auf dem kleinen Dienstweg erledigt.
Ich habe mir so manchen Anschiss vom cholerischen Vorsteher mit Körpergröße
1,58 cm erspart. Wenn er hinter seinem Schreibtisch thronte, war er sein Sitzriese,
stand er auf, musste man ihn suchen.

Am Freitag stand Dr. Geiger mit zwei Eimern in der Toilette, um sich für das Wochen-
ende Wasser mit zu nehmen. Bei ihm wäre das Wasser zu hart zum Tee kochen.
Wir waren auch immer erstaunt, wie mit dem Auto jeden Tag den Weg zum Dienst
fand. Ich konnte kaum vermuten, dass er durch diese Brille irgendetwas erkennen
konnte.

Heute gibt es solche Urtypen fast nirgends mehr. Deshalb wollte ich hier auf ihn
aufmerksam machen. Irgendwo wird er mit dem Dr. Meica in Himmel oder Hölle
an einem Tisch sitzen, um ihre Streitigkeiten weiter auszufechten.

26.05.2010                     Norbert Wittke



 

 



 

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