Ein fensterloser, kahler Raum. Nicht gross. Die Wände sind weiss gestrichen. Der Ort ist grell beleuchtet.
Die
Anwesenden:
Martin,
Chef der Zelle. Etwa vierzig Jahre. Frisch rasiert, gepflegt, unauffällig
gekleidet. Er steht einen Schritt vor der Wand.
Andreas,
Altmitglied. Um die sechzig, liederlich, grobe Gesichtszüge. Er sitzt lässig
auf einem Plastikstuhl, raucht.
Erika,
Rekrutin. Knapp dreissig, elegant bis sportlich. Sie sitzt ebenfalls,
beobachtet scheu die beiden anderen.
Martin: (liest) Ich
komme zur Top Five der aktuellen Todesliste. Nummer fünf: Pierre Leblanc.
Alleinstehend, keine Kinder. Er ist
einer der Köpfe des Methusalemprojekts Darmstadt. Ziel dieser Forschungen ist
es, den genetischen Alterungsmechanismus vollständig auszuschalten. Die natürlichen Telomere werden durch
Sequenzen ersetzt, die eine Strukturstabilität garantieren.
Andreas: Wie weit sind sie?
Martin: Schwer zu sagen. Schon heute werden Antiaging-Gene in
die Keimbahn gebracht. Leblancs Ansatz ist aber radikaler. Er will die Alterung
nicht nur verzögern, sondern ganz abschaffen.
Andreas: Ein biblisches Vorhaben.
Martin: Ja. (liest wieder) Konservative Schätzungen
gehen davon aus, dass die Lebenserwartung rasant ansteigen wird, wenn das
Methusalemprojekt einmal durchstartet. Die Menschen werden wenigstens fünfhundert Jahre alt werden können, was
die Struktur der Gesellschaft zerstören wird.
Andreas: Ganz klar. Kinder werden kaum noch wahrnehmbar sein. Die
Jugend wird bedeutungslos, das platte Erwachsenenleben ins Endlose gedehnt. Die
Welt wird voll sein von Menschen, die nicht leben können und nicht sterben
wollen.
Martin: Ohne Tod kein Leben.
Andreas: Und wir bringen den Tod.
Martin: (streng) Aber
wir tun es nicht gern. Es ist aber auch
klar, dass wir diese Forschungen nicht tolerieren können.
(Nimmt
wieder sein Blatt und liest) Nummer vier: Henriette Walters. Alleinstehend,
ein Kind. Walters ist eine zentrale Entwicklerin des
Beta-Synaptischen-Cerebralen-Interfaces, genannt BeSCI. Die bisherige Methode der Gehirnschnittstellen
beruht auf externen Elektroden, was zwar
ein Lesen und teilweise auch ein Übertragen von Gedanken ermöglicht, aber das in engen
Grenzen. BeSCI dagegen ist ein invasives Verfahren, bei dem die Grenze zwischen
dem menschlichen Gehirn und der Aussenwelt praktisch zerstört wird. Die
Hardware dockt direkt an den Nervenzellen an.
Andreas: Gehirne schwimmen träge in Nährtanks, eingespeist in
Rechnernetzen. Ich kann‘s schon vor mir sehen.
Martin: Konzentrieren wir uns aufs Greifbare. (liest) Das
BeSCI-Team betreibt noch Grundlagenforschung, hat aber bereits entscheidende
Durchbrüche erzielt. Das naheliegende Ziel besteht im Einsatz von Gehirnmodulen. Der Mensch würde dann
direkt über die Informationen verfügen, die in dem je verwendeten Chip
gespeichert sind. In einem zweiten Schritt soll die externe Hardware auch
Rechenleistung liefern können, so dass
sich die menschliche intellektuelle und kreative Leistungsfähigkeit computerisiert.
Diskutiert werden ebenfalls HCH-Verbünde, bei denen mehrere Menschen mithilfe
von BeSCIs zu einer anfangs nur temporären Überperson verschmolzen werden. Die
Forschungen laufen auf ein Ende der Personalität heraus und es versteht sich
von selbst, dass diese äusserste Bedrohung der Humanität von uns nicht
hingenommen werden kann.
Andreas: Gute Wahl, die Dame gehört elimiert. (schaut zu Erika, murmelt) Sie sagt gar
nichts.
Martin: (liest) Nummer
drei. Shen Sen, drei Kinder, geschieden. Wissenschaftlicher Leiter des
ATP-Sauger Projektes. Entwickelte bereits mehrere Prototypen von ATP-Konnektoren,
von denen gegenwärtig mehr als fünf Millionen im Einsatz sind. Bei früheren
maschinellen Gliedmassen speiste sich die verbrauchte Energie aus Batterien,
was deren Möglichkeiten beschnitt. Jetzt kann dagegen die Energie aus dem
natürlichen Stoffwechsel angezapft werden, wodurch die Bauteile zu einem
Bestandteil des Körperkomplexes werden. Menschen werden sich zu Torsos machen lassen
und sich die jeweiligen Extremitäten nach ihren aktuellen Bedürfnissen wählen.
Andreas: (grinst)
Kabinett des Grauen. Neben der Kleiderkiste der Schrank mit den Armen und den
Beinen. (Kratzt sich am Hinterkopf,schau
spielert maliziös und plump) Hmm,
welchen Körper nehme ich heute? Die langen oder die schnellen Beine? Nächstes Jahr werde ich zum Sechsarmer, Schluss
mit dieser langweiligen Viergliedrigkeit!
Martin: (liest) Bei
der quergstreiften Muskulatur werden die künstlichen Organe in absehbarer Zeit
in allen Belangen leistungsfähiger sein als die natürlichen. Der Ausverkauf des
menschlichen Leibes ist zu stoppen.
Andreas: (hält den Daumen
nach unten) Shen Sen zu den Würmern! Erika, was denkst du darüber?
Erika: Bei den letzten beiden Fällen frage ich mich,
ob die Forschungen nicht gegen die
Cyborggesetze verstossen und wir nicht auch eine legale Handhabe hätten.
Andreas: (leise) Hab
ich’s mir doch gleich gedacht. Eine Weiche.
Martin: Die Cyborggesetze verbieten in erster Linie die
Ausstattung von Maschinen mit natürlichen Geweben. Also Roboter mit menschlichen Hirnen, Brüsten,
Gebärmüttern. Das Auftauchen von Schwangerschaftsmaschinen und die Beliebtheit
der fleischlichen Androidenprostituierten gehen auch vielen Progressiven zu
weit.
Erika: Seit der Konvention von Ottawa gilt diese scharfe
Grenze nicht mehr. Ich glaube nicht, dass die Brainmodule legal sind.
Andreas: Politische Mobilmachung ohne Terror ist zahnlos.
Martin: Andreas hat recht. Die juristischen Wege sind verworren, ungewiss und langsam. Die Verbote
werden auch dauernd unterlaufen, zur Not weichen die Institute in andere Länder
aus.
Andreas: Mach weiter!
Martin: Nummer zwei ist ein Hardwarepionier. (liest)Jeff Cludy, homosexuell, keine Kinder. Cludy ist einer der Väter der
Unity-Architektur. Hier werden dezentrale Hochleistungsnetze mit einem
Konzentrator ergänzt, der sogenannten Unity-Kaskade. Der aus der Peripherie
kommende Datenstrom wird durch vielgliedrige Filter gejagt und schliesslich in
die Netzknoten eines finalen Vibrators gepresst. Die Informationsdichte dieses
Modules wird so hoch sein, dass die dort ablaufenden Prozesse nicht mehr
annähernd nachvollzogen werden können. Schon heute sind die Menschen zumeist
nur noch Hermeneutiker der künstlichen Intelligenz, doch mit dem Auftauchen der Unity-Rechner wird diese
ehemals strenge Wissenschaft zu einer Art Astrologie verkommen. Es gilt als
wahrscheinlich, dass in den Wirbeln des finalen Vibrators ein maschinelles
Bewusstsein entspringen wird.
Andreas: Uff. Man kann diese Leute gar nicht so schnell
abschiessen, wie sie nachwachsen. Diese Wissenschaftler-Freaks vermehren sich
wie die Ratten.
Martin: Cludy ist eine Klasse für sich. Ein solches Genie ist
kaum zu ersetzen. Er hat allerdings schon Schaden genug angerichtet.
Andreas: Was denkst Du, Erika?
Erika: Ich frage mich, ob der Mann in unsere
Zuständigkeit fällt. Er ist ein Informatiker, seine Arbeit bedroht die
menschliche Natur nicht.
Andreas: (schielt zu ihr) Sie
versteht gar nichts.
Erika: Dann erklär’s mir.
Andreas: (zu Martin)
Erklär du es ihr.
Martin: Wir müssen uns die grösseren Zusammenhänge
vergegenwärtigen. Wir leben in einer Zeit, wo die künstliche Intelligenz die
Menschen aus immer mehr Berufen herausdrängt. Nach den Handwerkern, Arbeitern
und den meisten Büroberufen sind in naher Zukunft die Wissenschaftler selbst an der Reihe. Wir
gehen davon aus, dass ein Netz der Unitylinie den Menschen in allen
intellektuellen Belangen überlegen sein wird.
Andreas: (höhnisch) Kapito?
Martin: Die Menschen können diesen Verdrängungsprozess nur
verzögern, indem sie sich selbst kybernetisieren, also ihre eigene Natur
abwickeln. Die Architekten der Rechner sitzen so im eigentlichen Zentrum der
bedauerlichen Umwälzungen unseres Zeitalters.
Andreas: Sie will nicht töten.
Erika: Ich bin nicht grundsätzlich gegen das Töten. Ich
frage mich nur in jedem einzelnen Fall, ob es auch tatsächlich sein muss.
Andreas: Nein. Du willst nicht töten.
Martin: Wir
alle töten nicht gern. Wir verabscheuen die Gewalt. Aber wir leben in einer Zeit,
wo wir Einzelne opfern müssen, um Milliarden zu retten. Wir schaffen ein Klima
der Beklemmung und des Nachdenkens, um den Menschen die Kraft zur Umkehr zu
geben. Das rote Kreuz wurde seinerzeit gegründet, um Menschen in Not,
verletzten Menschen zu helfen. Sicher, an unseren Händen klebt Blut. Doch das
Ziel ist dasselbe geblieben - den Menschen zu retten.
Andreas: Genug davon. Wer hat denn gewonnen?
Martin: Nun zum Sieger (lächelt
schief, liest dann) Leon de Breugel, verheiratet, drei Kinder. Langjähriger
Gendesigner. Seit vier Jahren ist er die Seele eines gekapselten Transhumanprojektes.
Es wird, mit faktischer Duldung der Behörden, an der Entwicklung einer
nichtmenschlichen Intelligenz gearbeitet. Im Unterschied zur bereits
realisierten Infantenspezies wird die neue Art dem Menschen in allen Belangen
überlegen sein. Breugel ist von Haus aus
Harmonisator, doch vor allem ein genialer Aberrator.
Andreas: Das sind die Finsterlinge, die neue Arten zeugen.
Schrecklich.
Martin: Allerdings. (liest)Über den Genbaukasten des Entwicklungsteams ist wenig bekannt, die
Forschungen haben einen dezidiert konspirativen Charackter. Unsere Aufklärer
konnten bisher nur wenig Konkretes in Erfahrung bringen. Als sicher gilt, dass
der aktuelle Prototyp mit dem Menschen nicht mehr fortpflanzungsfähig sein
wird.
Andreas: (empört) Wie
kann man solche Pläne verfolgen! Advokaten des Teufels!
Martin: (liest) Die
Mannschaft verfügt über eine eigene Obfuskationsabteilung, die sehr
professionell arbeitet. Die Natur der Forschungen wird verdunkelt – bisher ist
es dem Institut gelungen, die Öffentlichkeit über seine wahren Ansichten zu
täuschen. Sollten die überaus
fanatischen Foscher nicht aufgehalten werden, treiben sie die Aberration immer
weiter. Spätere Intelligenzen werden nicht mehr so an den Menschen angelehnt
sein, wie der jetzige Entwurf.
Andreas: Jeder Wissenschaftlicher will schliesslich etwas Besonderes kreieren. Die Eitelkeit
Gottes.
Martin: Die Folge wäre, dass die Menschen im günstigsten Fall
an den Rand gedrängt und ihrer Bedeutung beraubt würden. (Schaut auf, sein Blick streift erst Andreas, bleibt dann für Sekunden
an Erikas Augen hängen.) Schluss, aus, Finito.
Andreas: (schaut zu ihr)
Und – Erika?
Erika: Ich kenne ihn.
Andreas: Oh!
Erika: Als ich noch als Journalistin arbeitete …. Ich
habe Interviews mit ihm geführt.
Andreas: Und?
Erika: (versonnen)Er ist in der Tat sehr intelligent.
Andreas: (forschend) Und?
Erika: (leise)
Er ist kultiviert, freundlich, warmherzig.
Andreas: (maliziös) Du
hast mit ihm geschlafen.
Erika schweigt. Andreas rückt zu ihr heran, fixiert sei, geniesst ihr
Unbehagen.
Andreas: (leise) Du
hast ihn geliebt.
Erika: (schwach)
Was soll das?
Andreas: Er muss sterben.
Erika: (Seufzt) Ja,
er muss wohl. (Pause, dann leise) Ich
will nicht, dass er stirbt.
Andreas: Sein Tod ist notwendig.
Erika: Ja.
Andreas kommt noch näher.Grob, schmierig. Er tätschelt ihr Haar und
haucht ihr ins Ohr.
Andreas: Wenn es dich beruhigt: Ein Platz in der Top Five ist
geradezu eine Überlebensgarantie. Die kriegen einen Polizeischutz, das ist
abartig. Auf Platz 912 zu stehen, ist viel gefährlicher.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.05.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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