Nicolai Rosemann

Die Macht der Runen

Was gerade ist,

was sein wird,

oder jemals ward,

verkünden die Runen von Asgard.

 

1. April

Der Magie des Versprechens, die Zukunft zu sehen, erlagen wir nur zu leicht. Und als dieser seltsame Mann bei uns erschien und für eine kleine Opfergabe ein Mittel versprach, die Zukunft zu deuten, verfielen wir alle seinem Bann.

Er nannte es einen kleinen Preis. Doch für einen Beutel Runen aus den edelsten Steinen dieser Welt verlangte er mehr als wir aus dem Jetzt betrachtet zahlen wollten. Er forderte als Preis unsere Unsterblichkeit.

Einst spiegelte sich in meinen Augen die Unsterblichkeit und jeden Tag verzehrte sie mich um sich des Nachts wieder zu mehren. Mit der Unsterblichkeit gingen ewige Jugend, Wohlstand und Wissen einher. Außerdem war es uns möglich mächtige Waffen zu bauen.

Ein Schwert, das mit Magie aufgeladen jeden Feind niederstrecken konnte. Genannt Uriziel.

Einen Hammer, der fähig war, Blitze zu schleudern und alle Legierungen zu zerschmettern.

Einen Speer aus Knochen, der immer zu seinem Werfer zurückkehrt und niemals stumpf wird oder sich verbiegt.

Einen Bogen mit einem Köcher, der niemals leer wird, und jedes Ziel, ob nah oder fern, tödlich trifft.

Und schließlich einen Dolch mit einer solch kunstfertigen Klinge, dass sie bei jeder Berührung mit dem Körper den Tod bringt.

Wir hätten eine dieser Waffen eintauschen sollen statt unserer Unsterblichkeit. Denn nur noch als Halbgötter kam die Ragnarök über uns.

 

13. April

Wir hatten die Götterdämmerung selbst aufgeladen und so war es wohl ein Scherz des Schicksals, dass sich genau am 13. Tag des ersten Monats im neuen Jahr die Sterblichen gegen uns zu erheben beginnen, um unsere Macht auf die Probe zu stellen.

Regelmäßig wie ein Uhrwerk suchten die Menschen unsere Festung in den Wolken zu stürmen um hinter unser Geheimnis und an unsere mächtigen Waffen zu kommen. Vielleicht versprachen sie sich auch Erleuchtung daraus, wer weiß.

Unserer Unsterblichkeit beraubt waren wir verletzlich, selbst für ihre primitiven Klingen aus Bronze und leichtem Stahl. So befragten wir verzweifelt das Runenorakel, das uns unsere Unsterblichkeit geraubt hatte.

Die Antwort erschütterte uns bis auf die Knochen. Denn nur eine Rune offenbarte sich zuerst.

│ (Is), die Rune des Stillstands und der unmittelbaren Veränderung.

Weiters erschien dann Б (Beorc), die Rune, die einen Neuanfang verkündet. Die Geburt einer neuen Zivilisation oder der Beginn einer neuen Ära.

Und schließlich Σ (Feorth). Die Rune, die den Tod verkündet.

Daraufhin ergriffen die meisten von uns die Flucht und suchten ihr Glück in der Ferne. Nur die Besten und Tapfersten von uns blieben zurück.

Da die Unsterblichkeit uns sowieso verlassen hatte, schlüpften wir in sterbliche Hüllen um uns erst dann der Masse von Feinden zu stellen.

 

31. April Morgen

Ich schnallte mir gerade den tödlichen Dolch an den linken Stiefel als jemand das Tuch meines Zeltes zur Seite zog und eintrat. An den sanften, vorsichtigen Schritten erkannte ich eine gute Freundin. Sie würde den Knochenspeer in die Schlacht führen.

„Es ist so weit. Die ersten Formationen der Sterblichen ziehen den Pass herauf und werden bald gegen unsere Mauern branden.“

„Wir sind bereit“, antwortete ich und schlang den Gürtel mit meinem Schwert um meine Lenden.

„Wir sollten noch einmal die Runen deuten. Vielleicht war die erste Deutung falsch.“

„Die Runen irren sich nie, teure Freundin. Doch dir zuliebe werde ich sie erneut befragen.“

Aus den Tiefen meines Mantels beförderte ich den Lederbeutel mit den Runensteinen auf den Tisch. Ich schüttelte sie und ließ dann eine Rune nach der anderen ziehen. Blind legten wir sie auf den Tisch, bis der Beutel leer war. Alle Runen waren blank, bis auf eine. Σ.

„Es ist eindeutig“, musste nun auch sie enttäuscht zugeben.

„Es wird nicht so ein großer Kampf wie in den Liedern, die über uns gesungen werden. Sterblich ziehen wir in die Schlacht und werden das Schlachtfeld nicht mehr verlassen.“

„Dann soll es so sein. Doch davor schicke ich so viele wie möglich vor mir in das Feuer ihrer Hölle. Denn sie verbergen sich hinter einem Kreuz und glauben, dass es sie beschützen und leiten würde.“

Ich lachte auf. „Sie sollten sich dem Feind im Südosten zuwenden und dort auf den Schutz ihres Kreuzes vertrauen bevor sie ihre Verbündeten töten!“

„Sie werden wohl nicht auf uns hören.“

„Und wir dürfen die Entscheidung der Runen und des Schicksals nicht anzweifeln. Wir sehen uns auf dem Schlachtfeld.“

 

31. April Mittag

Seit gut und gerne drei Stunden brandeten die Wellen der fanatischen sterblichen Kämpfer gegen unsere Anlagen. Tausende waren schon leblos in den Staub gesunken und somit in ihr anderes Leben gefahren. Doch sie ließen sich durch die großen Verluste nicht entmutigen und drangen weiter tapfer auf uns ein.

Normalerweise hätten wir darüber gelacht, doch die Gefahren, nicht mehr unsterblich zu sein, trafen uns langsam aber sicher immer mehr. Unsere Glieder ermüdeten zusehend, und einige leichtere Wunden hatten wir auch schon davon getragen.

Unser mächtigster Krieger stand mit dem Donnerhammer zwischen zwei Enterleitern und hieb fröhlich jubelnd auf die Schädel der anstürmenden Sterblichen ein. Über die linke Leiter versuchten schwer gepanzerte Krieger aufzusteigen, die schwere Waffen trugen und in ihren Harnischen schwerfällig wie Schildkröten waren. Über die rechte Leiter kamen flinke und äußerst geschickte Schwertkämpfer mit dunklen, eingefallenen Gesichtern. Sie waren um ein Vielfaches schneller als ihre Waffenbrüder in den schweren Harnischen und deshalb für unsere Wehranlagen gefährlicher.

Ich selbst stand deshalb in der Nähe ihrer Sturmbasis und schleuderte die Angreifer von dort mit dem Schwert in der rechten und dem tödlichen Dolch in der linken Hand, zurück in den Abgrund. Doch in den Kämpfen hatte ich bereits zwei schmerzende Wunden im Gesicht und einen schwere Wunde in der Leistengegend davongetragen. Meine Beweglichkeit schwand mit jeder weiteren Minute dahin.

Einige Meter weiter entfernt ließ eine meiner Waffenschwestern den knöchernen Speer zwischen zwei Enterleitern kreisen und kreischte bei jedem tödlichen Hieb oder Stich in die Brust eines Feindes auf. Auch sie trug bereits einige blutende Wunden im Brustbereich und wankte zusehends unter dem nicht enden wollenden Ansturm.

Dabei stand eine weitere Waffenschwester mit dem endlosen Bogen neben ihr und schoss andauernd Feinde aus der Leiter bevor sie auf der Mauer Fuß fassen konnten.

Wie gesagt, nach drei Stunden stießen die Angreifer das Horn zum Rückzug. Die südöstlichen Kämpfer zogen sich zum Gebet zurück, die südwestlichen Kämpfer zu einem besinnlichen Gottesdienst.

Wir, auf den Mauern, einst Götter genannt, leckten uns die Wunden.

 

„Das siehst schlimm aus. Die Wunde reicht nicht tief und ist auch nicht schwer, doch die Klinge war vergiftet.“

„Ich werde damit klar kommen“, antwortete ich und stützte mich auf mein leicht verbogenes Schwert. Neben mir saß mein kräftiger Waffenbruder mit dem Donnerhammer und schüttete Met in sich hinein. Unter seinem langen Kettenpanzer schwitzte er wohl wie ein Schwein, und den Wasserverlust mit Alkohol zu kompensieren war bestimmt auch nicht die beste Idee.

Aber wir hatten alle unsere eigenen Probleme. Denn nach knapp einer Stunde verklang der Singsang der Gebete und die Armeen setzten sich wieder in Bewegung.

„Befrag noch einmal schnell die Runen. Vielleicht hat sich was geändert!“

Ich holte den Beutel aus meinem Gewand und verstreute die Halbedelsteine auf dem Boden. Doch wieder zeigte sich nur eine Rune.

„Wir sind verdammt!“

 

31. April Abend

Die Schlacht lief wie erwartet total gegen uns. Kaum hatten die Sterblichen wieder ihre Enterleitern gegen die Mauern geworfen, gelang es ihnen schon den Krieger mit dem Donnerhammer von den Beinen zu reißen und in einem Knäuel von Gliedmaßen und Waffen in die Tiefe zu reißen. Ich versuchte ihm noch zu Hilfe zu kommen, doch meine Verletzung verlangsamte meine Rettungsversuche so weit, dass mein Arm nur noch den Donnerhammer zu fassen bekam.

Schon sah ich mich einer Übermacht von Feinden gegenüber, der ich mich nur mit viel Glück und dem Einsatz meiner Waffen entziehen konnte.

Der erste Wall war gefallen und die verblieben Krieger zogen sich mit mir auf den zweiten, höheren Wall zurück.

Hier mussten wir nur zwei enge Durchgänge verteidigen, doch mit unseren Waffen erwies sich das als schwer. Meine Waffenschwester mit dem Bogen übernahm von mir den Donnerhammer und versperrte alleine den linken Durchgang. Da sie bis jetzt keine Wunden davongetragen hatte war die logische Konsequenz, dass ich mich mit der anderen Waffenschwester dem rechten Durchgang zuwandte.

Die Sterblichen brandeten jedoch wie die Flut gegen uns an bis wir die ersten Durchgangstore aufgeben mussten und uns mit letzter Kraft zu den zweiten Toren zurückziehen konnten. Der endlose Bogen ging dabei verloren.

Nun, da der Sieg nahe stand, gerieten sich die Angreifer gegenseitig wegen der Beute in die Haare. Wir schöpften Hoffnung, denn sie schlugen sich bald schon gegenseitig die Schädel ein, um die göttliche Waffe in das eigene Lager zu bringen. Wir konnten die Gelegenheit nutzen und unsere Wunden verbinden.

Doch gegen Sonnenuntergang kehrten sie vereint zurück. Jede Fraktion trug eine Hälfte des endlosen Bogens neben dem anderen Heerzeichen vor sich her.

Wir stellten uns zur letzten Schlacht.

 

Ein ungeschickter, durch die Müdigkeit im Umgang mit dieser schweren Waffe bedingter Schlag zerschmetterte schließlich das Schloss der letzten Tür, die unseren heiligen Raum, die letzte Rückzugsbasis, hätte versperren sollen.

So mussten wir drei, nun endgültig am Ende unserer Kräfte und durstig, einen Ausbruch versuchen um die angreifenden Sterblichen zur letzten intakten Bastion zurückzutreiben. Zu unserer Überraschung gelang es uns, doch kurz bevor die Tür ins Schloss fiel traf ein verirrter Pfeil meine Waffenschwester ins Herz. Der Donnerhammer entglitt ihren Händen und spaltete die Fliesen im Umkreis.

Schnell rangen wir die beiden letzten eingeschlossenen Feinde nieder und richteten unsere Aufmerksamkeit dann auf unsere sterbende Waffenschwester. Mit Tränen in den Augen, doch einem Lächeln auf den Lippen entschwand sie in meinen Armen. Doch nicht ohne uns letzten Verteidigern Mut zuzusprechen.

So verbanden wir unsere Wunden, versteckten den Donnerhammer und den knöchernen Speer an einem Ort, an dem niemals ein Sterblicher suchen würde, und warteten auf den letzten Angriff.

Ich befragte erneut die Runen, doch die Antwort blieb nach wie vor gleich. Der Tod würde auch uns beide, die letzten Verteidiger dieses Ortes, ereilen.

 

In meiner Wut über diesen schlechten Handel, die Wahrheit unseres bevorstehenden Todes und dem Verlust meines Waffenbruders und meiner Waffenschwester, verbrannte ich den Lederbeutel mit den Runen und verstreute sie in alle Winde. Weiters belegte ich die Steine mit einem Fluch.

Derjenige, der alle Steine wieder zusammentrage würde, solle niemals wieder Glück erlangen, bis er sich richten würde. Und selbst nach dem Tod sollte er leiden, wie wir hier gelitten hatten.

Danach zerbrach ich das Uriziel und sandte auch dessen Teile in alle Winkel der Welt, auf dass es nie wieder zusammengesetzt werden sollte. Nur einen kleinen Teil der Klinge, das Herzstück, verbarg meine Waffenschwester in ihrer Brust.

 

31. April Nacht

Kurz vor Mitternacht rissen die Sterblichen das Tor ein und stürmten johlend den Gang herauf. Wir erwartete sie bereits mit harten Gesichtern und schossen die ersten mit einfachen Bogen nieder. Dann warfen wir die Waffen weg und stürmten zu unserem letzten Kampf nach vorne.

Meine Waffenschwester warf sich in eine Gruppe der schweren Schwertkämpfer und stach sie mit einem solchen Geschick und solcher Geschwindigkeit nieder, dass ihre Formation zerbrach und sie sich in Panik zurückzogen. Ihre Linien wurden jedoch sofort von anderen Kämpfern aufgefüllt und irgendwann verlor ich meine Waffenschwester aus den Augen. Sofort setzte ich in ihre Richtung vor und erblickte schließlich ihren zerschmetterten Körper inmitten der niedergekämpften Feinde.

Mit einem Schrei der Wut und der Verzweiflung rammte ich den tödlichen Dolch in die Brust des nächstbesten Gegners und brach die Klinge dabei ab. Dann schleuderte ich mit letzter Kraft den Griff aus dem Fenster in die stürmenden Fluten des Meeres am Fuß der Festung.

Im nächsten Moment lag ich auch schon am Boden, von der Überzahl von Sterblichen übermannt. Doch statt mich zu töten, nahmen sie mich als letzten Feind gefangen und brachten mich als Trophäe fort.

Meine gefallenen Waffenbrüder und Waffenschwestern behandelten sie mit Ehre und Respekt und übergaben sie nach unserer Tradition den Flammen.

Durch Verhöre versuchten sie mir die Verstecke der magischen Waffen zu entlocken, doch mein eisernes Schweigen hielt länger als ihre Versuche. Denn wie bereits beim Sturm auf unsere Festung begannen schon bald nach Ende der Schlacht Kämpfe unter den einstigen Verbündeten.

Ich schere mich jedoch nicht um ihre Probleme. Der 31. April ist der Tag meiner Gefangenschaft, meiner Schmach. Verflucht soll auch dieser Tag sein und aus dem Kalender und der Erinnerung der Menschen, die nicht reinen Geistes sind, ausradiert werden.

Der tödliche Dolch und das Uriziel werden nie wieder zusammengesetzt werden können, und die anderen Waffen sind an einem sicheren Ort versteckt, den ich mit in mein Grab nehmen werde.

Mir stellt sich nur die Frage, ob eines Tages jemand alle Runen zusammentragen wird. Und ob ich diesen Tag, wohl meiner Unsterblichkeit beraubt, jedoch anders als die Sterblichen, erleben werde.

Inspiriert durch ein Lied von E Nomine habe ich hier versucht den Untergang der nordische Mythologie mit dem Wachsen der jetzt großen Weltreligionen Christentum und Islam zu verbinden. Nicolai Rosemann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.05.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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