Horst Dreizler

Positiv

Es gibt die Gespenster, die kommen ,die gehen und die vergisst man.
Dann solche, die kommen, sich einnisten in den Gedanken und bleiben.
Man kann sich auf sie einstellen, gegen sie kämpfen, zumindest sich mit ihnen arrangieren.

..aber dann gibt es auch noch solche Gespenster, die kommen und gehen und dann doch wiederkehren, unvermittelt, die einen schutzlos überfallen und einen quälen.
Das sind die Schlimmsten...


Als Samuel an diesem Morgen mit Kopfschmerzen erwachte und sich mit steifem Nacken ins Waschbecken erbrach, waren die Eltern bereits vorgewarnt, sie wussten, dass so etwas passieren konnte, irgendwann.
Es waren Bauern, Pietisten, aus einem 200 Seelendorf in der Nähe der Stadt, Religion und Feldarbeit beherrschte ihr Leben, kein Alkohol, kein Tabak, der höchste Wochenendgenuss war der gemeinsame Kirchenbesuch, sie gingen beizeiten mit dem letzten Sonnenstrahl zu Bett und waren vor den Vögeln wieder wach.
Der Hausarzt kam, untersuchte und veranlasste die Einweisung in die Kinderklinik.
Ich weiss es noch wie heute, der Vater trug Sam in die Ambulanz, ein grosser Mann mit trockenen, rissigen Händen und einem schalen Stallgeruch an sich, auf dem Kopf einen braunen, glatten Filzhut,
der sonst sicherlich nur Sonntags das Tageslicht erblickte.
Im Schlepptau die Mutter, ein verhärmte Frau im dunklen Kleid, in der Hand einen kleinen Koffer, sie waren auf den stationären Aufenthalt vorbereitet.
Von Sam sah ich nur die Augen, grosse dunkle Augen, fiebrig glänzend und abwesend zur Decke gerichtet.
Rieker wurde geholt, er hatte Oberarzthintergrund und leitete auch die neuropädiatrische Ambulanz,
wir wussten bereits den nächsten Schritt und holten schon vorsorglich 2 Pfleger aus der Chirurgie.
Als ich Sam seinem Vater abnahm schaute er weiter zur Decke, ich trug ihn in den kleinen OP, die Eltern mussten draussen warten, Rieker wollte das so.
Ich redete mit Sam, legte ihn vorsichtig auf den grün-abgedeckten Tisch, sagte ihm, wir müssten ihn untersuchen, es werde gleich kalt am Rücken, das sei nur Desinfektionsmittel.
Sam schaute mich das erste Mal direkt an, sprach aber nichts.
Gerade als ich ihn auf den Einstich vorbereiten wollte, der einen kurzen Schmerz im Rücken verursachen würde, den aber ein grosser Junge locker ertragen könne, tauchte Rieker vor uns auf, in der Hand die fertig vorbereitete Lumbalkanüle.
Es ist ein Mordgerät, wenn es so unvermittelt auftaucht, und die Vorstellung, dieses Instrument in den Rücken gestochen zu bekommen ist alles andere als angenehm, zumal bei einem Kind.
..und Rieker ist ein hervorragender Kinderarzt, was die diagnostisch-technische Seite anbelangt, im
zwischenmenschlichen Verständnis hat er allerdings seine Defizite, ich hätte ihn erwürgen können.
Samuel bäumte sich kurz auf, als er die Nadel sah und zum ersten Mal gab er einen Laut von sich, ein leises wimmern. Ich wusste, die Chance, das ganze einiger massen undramatisch über die Bühne zu bringen war vorbei.
Die 2 Chirurgiepfleger, kräftige und erfahrene Männer, traten an den Tisch, einer oben, einer unten, sie umfassten das Kind an Kopf und Schultern sowie an den Beinen und bogen es durch wie eine Weidengerte.
Als Rieker zustach, um das Nervenwasser abzulassen stiess Sam einen Schrei aus, der sich an den gekachelten kalten Wänden brach und den ich immer wieder höre, heute noch, nach vielen Jahren.
Er erinnerte an einen dieser grossen Vögel aus dem Amazonasdschungel, ein verzweifelter Schrei.
Die ganze Prozedur dauerte 15 Minuten und als wir den Saal verliessen, sassen Samuels Eltern vor der Tür. Als ich den schönen Filzhut zusammengeknüllt in den Fäusten des Vaters sah, wusste ich, dass auch er den Schrei gehört hatte.
Den Nachmittag hatte ich frei, geteilter Dienst, am frühen Abend kam ich wieder zum Nachtdienst.
Ich sah nach Sam und kam in sein Zimmer, als sich die Eltern gerade auf den Weg machten.
Der Hof wartete, das Vieh musste versorgt werden, sie konnten nicht über Nacht bleiben.
Sam lag im Bett, eine Infusion tröpfelte und er machte einen frischen Eindruck.
Ich redete mit ihm, schärfte ihm ein, bis zum nächsten Morgen nicht aufzustehen, wenn er zur Toilette müsste, solle er klingeln.
Als ich ihm eine leichte Schlaftablette gab und mich verabschieden wollte spuckte er das Medikament auf die Decke und verlangte, ich solle ihm eine Gute Nacht Geschichte erzählen, zu hause würden das immer seine Eltern machen, mal die Mutter, mal der Vater.
Er überraschte mich, was wusste ich von Geschichten, von Märchen, ausserdem hatte ich noch zu tun, ich...als er mich mit seinen grossen, braunen Augen ansah setzte ich mich neben ihn, mir fiel spontan Rotkäppchen ein, aber Sam winkte ab,"..Kenn ich...", und so gings auch mit den anderen Märchen, die ich anfing, ..."Erfind halt selber was"...und..."mein Vater macht das auch"...tja, was sollte ich tun, ich fing an, fing einfach an zu erzählen, von Königen und Prinzessinnen, von Zwergen, die mit bösen Riesen kämpften und tapferen Burschen, die es mit allen Drachen dieser Welt aufnahmen.
Sam schaut mich an, hört mir zu , dann starrt er zur Decke und schliesst die Augen.
Ein leises kratzen an der Tür, Rieker, er kommt herein.
Wir stellen uns ans Fenster und beobachten auf einer Parkbank im Lichtkegel der Laterne 2 zusammengekauerte Gestalten . Das aufblitzen eines Feuerzeuges, sie kochen ihren nächsten Schuss, verdammte Junkies, in mir kocht die Wut hoch..."Jetzt kommen sie schon bis in den Krankenhauspark, es sind hemmungslose Scheisstypen, sie sind schuld...", ich schaue zu Sam.
Rieker flüstert...es sind genauso arme Schweine, sie haben nur noch ihre Sucht, keine Entziehung mehr möglich, Rückfallquote von mehr als 90 Prozent...wer hat Schuld an diesem Dilemma?...die Dealer?, die Bosse?, die Regierung?...man müsste wohl tief graben, so tief kann kein Mensch graben, wir können nur versuchen, das Beste draus zu machen...
Ja, so sprach er, der OA Rieker, damals, vielleicht doch kein so schlechter Kerl.
Als wir das Zimmer verliessen, schlief Sam friedlich und zufrieden.


Samuel D. lag im September 1992 zum ersten Mal stationär mit einer Hirnhautentzündung im Krankenhaus.
In den folgenden Jahren bis 1996 gab es stationäre Aufenthalte wegen Lungenentzündungen, schweren Pilzinfektionen, Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, schweren Harnwegsinfektionen mindestens zweimal pro Jahr.
Ich habe Sam viele Geschichten erzählt in dieser Zeit.

Samuel war bis zum März 1990 ein normal gesundes Kind, er ging in die Grund- und Hauptschule unserer kleinen Stadt, musste jeden Morgen eine halbe Stunde aus seinem Dorf mit dem Bus in die Stadt fahren und jeden nachmittag zurück. Er ging gerne in die Schule und er liebte Geschichten und Märchen.
Am 7. März 1990 versteckte sich Sam während eines Suchspiels im Gebüsch bei der Schule.
Er kroch auf allen Vieren hinein und stach sich dabei eine gebrauchte Spritzenkanüle in den Unterschenkel.
Dieses Gebüsch wurde gerne von örtlichen iv-Drogenabhängigen als "Verabreichungsort" genutzt.

Samuel D. starb am 19.9.1996 im Alter von 14 Jahren an einer therapeutisch nicht mehr beherrschbaren Lungenentzündung als Folge der Immunschwächekrankheit Aids.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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