Jürgen Berndt-Lüders

Vorahnung oder Realismus?

Natürlich weiß ich nicht, ob es euch oder sogar allen so geht, aber manchmal holt einen die Vergangenheit ein. Erlebnisse, die man längst vergessen zu haben scheint, werden plötzlich wach. Jedes Detail wird plastisch und gegenwärtig. Bei mir betraf es alles, was mit Ulrike zusammen hängt. Das war lange, lange her.

 

Letzt wurde ich an Ulrike erinnert. Durch ein kluges Exemplar Weib, das einen erfolgreichen Buchverlag leitete.

 

Ulrike konnte Entwicklungen voraus sehen, in Dingen, die sie selber oder Menschen betrafen, die sie liebte. So viel, dass sie mir unheimlich wurde und ich sie förmlich weg stieß.

 

„Mach deinen Quatsch mit jemand Anderem“, oder so habe ich gesagt, und das ist – wartet mal – fünfundvierzig Jahre her.

 

Ulrike. Ich weiß wieder, dass ich kurz nach dem Kennen lernen den ganzen Tag mit ihr zusammen war, in einem Berliner Kaufhaus, das es schon lange nicht mehr gibt. Auf der Dachterrasse aß sie einen Salat und ich ein Eisbein mit Sauerkraut. Ich weiß das so genau, weil sie ständig aufs Abnehmen aus war und ich kaum auf meine Figur achtete.  Ich habe noch diesen Geschmack auf der Zunge, obwohl das eigentlich unmöglich ist.

 

Wir schlenderten an mehreren Verkaufsstände vorbei, auf denen Unterwäsche, T-Shirts oder Strümpfe wild durcheinander lagen. Sie griff einen Baumwollschlüpfer Größe Erdbebenopfer-Zelt und hielt ihn sich vor.

 

Ich lachte. „Der passt dir doch nie und nimmer.“

 

„Den werde ich mal brauchen“, behauptete sie.

 

Ich riss die Augenbrauen hoch. „Wieso das denn? Du bist doch schlank; sowas brauchst du in hundert Jahren nicht.“

 

„Doch“, widersprach sie. „Wir werden uns verlieben, das heißt, du wirst dich verlieben, denn ich bin schon verliebt. Wir werden heiraten, ich werde für dich kochen, und weil ich weiß, dass du gern fett isst, werde ich fett kochen. Ich werde aus Liebe zu dir ebenfalls fett essen und fett werden.  Wir werden Kinder haben, und ich zusätzlich am Hintern und den Oberschenkeln Cellulite , und bald wird mir dieser Schlüpfer passen.“

 

„Mein Gott“, stieß ich entsetzt aus. „Sowas kann man doch vorher nicht wissen.“

 

Es kam noch schlimmer. In der mittleren Etage gab es Babysachen. Sie sah sich alles ganz genau an, vom Kinderwagen über Wiegen bis hin zu Stramplern und Baumwollwindeln.

 

„Bist du schwanger?“, fragte ich.

 

„Noch nicht“, antwortete sie ohne aufzusehen. „Aber man kann sich nicht früher genug damit beschäftigen.“

 

Ganz unten gab es Reisetaschen, Rucksäcke und Koffer. Sie wog einen der stabilsten in der Hand und schätzte das Gewicht. „Den zahlst du, wenn es so weit kommt, ja?“

 

Keine Ahnung hatte ich damals, was sie meinte mit „...wenn es soweit kommt“, und ich ging auch nicht darauf ein. Deutlicher wurde sie, als ich mit dem Zeigefinger unter ihrem Pullover das Prinzip ihres BH-Verschlusses zu erforschen trachtete.

 

„Siehst du, ich habe recht“, sagte sie. „Du willst mit mir schlafen, ich werde nicht nein sagen, weil ich verliebt bin und dich nicht verlieren will, ich werde schwanger sein und meine Eltern werden mich raus werfen. Wegen der Schande. Ich werde meine wenigen Habseligkeiten in meinen Koffer packen, aber den zahlst dann du. Du hast ja gesehen, wie teuer die sind.“

 

Ich tippte gegen meine Stirn. „Du spinnst. Du willst mich so hinbiegen, wie du mich brauchst, und deshalb laberst du mich mit tausend Sachen voll, die du dir ausdenkst. Tschüss dann. Such dir einen Passenderen“

 

Ich verließ sie damals, ehe es richtig angefangen hatte. Aber jetzt las ich eine Annonce in der Zeitung. Ein Verlag suchte gute Autoren. Ich meldete mich.

 

Eine gewisse Ulrike Höfner saß mir beim Vorstellungsgespräch gegenüber.  Es war meine Ulrike von damals. Ich erkannte sie kaum, aber sie hatte damit keine Probleme.

 

„Ich wusste, dass du dich meldest, wenn ich einen guten Autor suche. An Realitätsverlust hast du schon damals gelitten“.

 

Ich glaube, dass sie irgendwie recht hat.

 

© Jürgen Berndt-Lüders

 

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