Nicolai Rosemann

(N)Utopia

Ich schreite durch die Gänge der Stadt, die wir einst Erde nannten. Mittlerweile ist sie so gewachsen dass nichts mehr übrig ist. Die Berge sind abgetragen, die Gewässer ausgetrocknet, die Wälder gerodet.

Im Hauptquartier, dem Zentralkern dieses Bienenstocks, stehen hunderte Roboter und halten das System am Laufen. Sechzig Milliarden Menschen werden hier versorgt. Sechzig Milliarden Menschen, theoretisch.

Ein kurzer Blick hinein genügt. Alles scheint in Ordnung zu sein. Defekte Einheiten werden automatisch von ihren Brüdern entfernt und ersetzt. Alles läuft wie am Schnürchen. Immer und ewig.

An den Recyclinganlagen stehen noch mehr Roboter und trennen den Müll. Eisen, Kunststoff, Biomassen, Leichen. In letzter Zeit werden es immer mehr. Die Alten sterben, die Jungen fliehen in die virtuelle Welt. Nur ihre Körper, nicht mehr als leere Hüllen mit starrem Blick, bleiben zurück.

Die Erholungsgebiete sind verlassen. Die immergrünen Parks, die Trainingsplätze, die glitzernden Casinos, die sterilen Labore. Einst gab es für jeden Einwohner jede Erdenkliche Möglichkeit zur Zerstreuung. Nur die neue Generation scheint das Interesse daran verloren zu haben. Sie leben nur mehr für ihre Maschinen durch die Maschinen.

Dasselbe Bild treffe ich in der Bibliothek an. Ein gelangweilter Roboter im Ruhemodus steht hinter dem Tresen. Als ich mich nähere, hebt er seinen schlaffen Oberkörper und winkt mir beinahe freudig zu. Er rollt auf mich zu und bietet mir ein altes Buch an, noch auf Papier gedrückt. William Gibsons Neuromancer Trilogie. Das hatte ich als Jugendlicher gelesen. Ich drehe es einige Zeit in den Händen und lege es dann zurück. Dann gehe ich wieder. Die Einheit verstaut das Buch in einem Regal und rollt zu seinem Posten. Dann erschlafft der Roboter wieder.

In der Baumfarm, gestaltet als grünes Erholungsgebiet, zwitschern künstliche Vögel. Sie sind neu und stammen aus den modernsten Roboterfabriken. Ein Informationsgerät wiederholt in der Endlosschleife die Daten über diese künstlichen Einheiten. Wahrscheinlich bin ich aber der erste, der die angenehme Stimme von Einheit B88 hört. B88 ist mein persönlicher Favorit weil er die meisten meiner Hörbücher spricht.

Im Umspannwerk schlagen Blitze über die Halbleiter. Die Pegel, wie alles hier unter genauer Kontrolle von Robotern, liegen im grünen Bereich. Sie nehmen mich bei ihrer Arbeit kaum wahr, höchstens vielleicht als Störfaktor. Aber ansonsten bin ich für sie Luft. Gerade wird eine ältere Einheit von seinem Posten entfernt. Die schlaffen Gelenke schleifen über die Gitter, bis zwei andere Roboter die Einheit mit vereinten Kräften auf das Förderband zur Recyclinganlage legen. Bald wird die defekte Robotereinheit eingeschmolzen und zu einer neuen künstlichen Lebensform. Vielleicht einem Vogel.

Nun gehe ich zur Kinderkrippe. Sie liegt ruhig und verlassen vor mir. Kein einziges Kind liegt in den Wiegen. Wahrscheinlich auch in keiner anderen Krippe, nirgendwo auf der Welt. Ein Defizit der neuen Generation ist schließlich ein Mangel an Paarungswillen.

Im nahen Holotheater spielt Shakespeares Sommernachtstraum. Allerdings sind alle Sessel leer. Doch nicht einmal meine Anwesenheit lenkt die Hologramme ab. Kurz nach dem Ende des letzten Aktes, in Erwartung eines Applauses, der nie ertönen würde, denn die Hologramme sind mangelhaft und plump, erlöschen sie. Kurz danach beginnt das Stück, dargestellt wie ein Trauerspiel, von neuem.

Im Paradiesgarten sitzen zwei junge Menschen. Mein Herz schlägt höher als ich sie sehe. Doch ihr Desinteresse an meiner Anwesenheit lässt meine Hoffnung auf Gesellschaft schmelzen. Diese beiden vermeidlichen Menschen sind doch nur weitere Hologramme, Wächter der Gärten, die dieses Fleckchen Natur, das inmitten all der Bauten erhalten blieb, hegen und pflegen.

In der Raumschiffwerft liegen Schiffe aller Größen und warten auf ihren Start. Roboter halten sie in Stand, ersetzen Teile, streichen die Hülle neu an und entfernen den Staub. Doch seit Jahren ist kein Schiff mehr gestartet. Die neue Generation interessiert sich nur für die virtuelle Welt da drinnen, in ihren Köpfen. Und die meinen, wir sind zu alt und gebrechlich.

Ich schleiche schließlich zurück durch die kalten, verlassenen Gänge der Welt und erreiche meine Zelle im Wohnkomplex. Mein persönlicher Roboter erwartet mich bereits, die Anlage ist vorbeireitet und warmgelaufen.

Ich lege mich auf die Pritsche und werde verkabelt.

„Ihr Körper leidet unter einigen Mängeln. Die nächste Rückholung könnte schwerwiegende Folgen für Sie haben. Ich rate von einer weiteren Rückkehr ab“, erklärt die künstliche Lebensform mit blecherner Stimme. Ich überlege noch, seit wann die Roboter ein Ich-Bewusstsein haben, aber dann entschwinde ich auch schon in die virtuelle Welt.

Unzählige Stimmen sind vom einen auf den anderen Moment da. Einige sprechen mich an, andere reden an mir vorbei. Doch alle wollen dasselbe. Wissen, wie es draußen ist.

„Unverändert“, antworte ich und wende mich den Strömungen in dieser Welt zu. Gedacht war sie zuerst nur für die Alten, die gebrechlich waren wie ich es nun bin. Doch die letzte Generation kam bald hier her und ging nie zurück.

Leute wie ich, die sich noch nicht richtig von der Welt trennen wollen, sind die letzten Späher in einer für uns beinahe fremden Welt.

„Alles in Ordnung?“ fragt ein alter Freund. In der echten Welt hätte ich abgewinkt. „Ich kann nicht mehr zurück. Der Körper, du weißt schon.“

„Dreiundsechzig Jahre. Früher kein Alter zum Sterben“, erinnert sich mein Freund. Ich lache.

„Da war diese Welt hier noch Science Fiction, zumindest für die meisten von uns. In der Bibliothek wollte mir der Roboter Neuromancer geben. Ich hatte das Buch mit 18 gelesen. Ich fühle mich jetzt wie Wintermute.“

„Ich werde es mir auch noch einmal ansehen. Bevor mein Körper stirbt. Bis später“, verabschiedet sich mein Freund und verlässt das Netz. Ich treibe weiter im Strom, spreche kurz mit alten Freunden, Bekannten. Und dabei denke ich über die Ewigkeit nach. Wie es sein wird für die Ewigkeit hier zu sein.

Mein Körper wird inzwischen brennen.

Draußen habe ich nie existiert.

Die vierte und letzte Geschichte aus der Auswahl eines Wettbewerbs zum Thema Utopia 2050. Vor kurzem ist sie auch in der Studentenzeitung meiner FH erschienenNicolai Rosemann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.06.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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