Andreas Gritsch

Ticketautomat

 

 

 

 

 

 

 

 

Als Erwartung war nichts mehr zu betrachten, dennoch ließ sich Leonie von der U-Bahn in eine Richtung treiben.  Im Blick aus dem Fenster schossen immer wieder Neonlichter vorbei, doch nur in deren Zwischenraum konnte sie ihr Spiegelbild erkennen. Unabhängig von der Tageszeit glitt sie immer weiter an ihr Ziel, ohne daran zu denken, sondern nur für einen Moment die anderen Fahrgäste beim Ein- und Aussteigen zu beobachten.  

Als Kind ging sie diese Strecke noch zu Fuß, ob bei Sonnenschein oder mitten im Regen. Schon damals haben sich die Gebäude am Rand der Strasse ständig verändert, doch heute verschwinden davon täglich ein paar mehr. Ihr alter Trampelpfad wurde unter einer Bushaltestelle begraben, und diese Linie führt heute als Endpunkt zu einem U-Bahnhof.

Leonie sah in dieser Erinnerung ihr eigenes Alter, während die Computerstimme in ihrem Abteil begann, den nächsten Halt immer leiser durch die Boxen zu flüstern. Sie saß im vordersten Waggon und konnte den Bahnführer durch eine Glasscheibe beobachten. Jener befand sich vor einer Kontrollstation mit tausend bunten Lichtern und Knöpfen, welche dieser aber tunlichst nicht zu berühren vermochte. Ihr schien gar, als würde er schlafen, dennoch funktionierte alles einwandfrei. Beide hatten ihr Ziel vor Augen.

An jenem angekommen und aus der Bahn gestiegen, bewegte sie sich in einem sterilen Raum unter dem Zentrum ihrer Erwartung. Zwei Treppen führten nach oben, drei auf der anderen Seite nach unten. Rolltreppen waren nicht vorhanden, nun stand alles in Bewegung. Keine Stimmen, keine Lichter mehr, nur der Blick an diese Oberfläche. Leonie schritt nach oben in ihr neues Zurück, während eine Computerstimme ein leises "vorsicht Abfahrt" flüsterte. Niemand betrat den Zug, während sie über diese Treppen zu wandeln begann.

Im Herzen der Betrachtung an der Oberfläche stehend, begann ihr Blick ferne Zeiten zu umstreichen. Wie gefroren in mitten dieser Bewegung fühlte sie den Boden unter ihren Füssen erweichend. Kein Platz war mehr verordnet durch Gebäude fremder Planprojekte. Bäume wirkten angeordnet, Parks ohne Leben, Fabriken ohne Tätigkeit bezahlt. Leonie dachte an die alten Männer, welche ihr damals von einer U-Bahnstation vorgeschwärmt hatten. Sie erzählten von schneller Bewegung, doch heute steht hier alles still.

Tastend begann sie daraufhin, einen Weg zu finden, welcher sie weit weg von diesem Ort führen sollte. Es wurde dunkel und die Laternen auf unangenehme Weise immer heller. Leonie konnte ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch graue Gestalten erkennen welche an ihr vorüberliefen. Doch langsam wurden es weniger, das Licht schien auch angenehmer, jener fremde Lärm begann zu schweigen, und sie fühlte sich mit jedem Schritt besser und befreiter.

Ohne Blick zurück befand sich Leonie plötzlich im schönsten Dunkel ihrer Vorstellung. Aus keiner Richtung des Himmels vermerkte sich eine Störung. Der Wind umhüllte nun eine zarte Umkehr jener alten Sinnlichkeit. Ihre Augen bewegten sich nach innen, alle Erwartungen quollen nach aussen, an der Bushaltestelle befand sich kein Mensch, und jede Betrachtung verflog als Moment.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.07.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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