Marion Redzich

Die schöne Prinzessin

    


 

Es war einmal vor langer Zeit an einem anderen Ort, weit weg von hier, eine Prinzessin namens Male. Male war eine sehr scheue und schüchterne Prinzessin. Und da sie das einzige Kind ihrer Eltern war, die über ein kleines aber sehr wohlhabendes Reich regierten, war sie bemüht, dem König und der Königin immer alles recht zu machen. Sie war von ebenmäßigem Wuchs und hatte von Geburt an Augen, die an einen unergründlichen Bergsee erinnerten. Menschen, denen sie begegnete, waren von ihrer äußeren und inneren Schönheit gefesselt und konnten ihren Blick nicht mehr von ihr wenden.

Als ihr 16. Geburtstag nahte, beschloss der König, dass es nun an der Zeit sei, einen angemessenen Bräutigam für seine Tochter zu suchen. Er schickte Kundschafter aus in ferne Länder. Deren Aufgabe war es zu erfragen, wie die ideale Prinzessin sein müsse.

„Groß und mager!“ sagten die Suraser, die weit im Norden des Landes lebten.

„Dick, klein und rund!“, sagten die Toralliner, die sieben mal sieben Tagesreisen entfernt im Süden des Königreiches wohnten. „Sie darf auf keinen Fall eine große Nase haben!“, meinten die Kiritaketen, die den Westen des Landes bevölkerten. „Sie muß unbedingt kleine Füße und große Ohren besitzen!“, sagten die Magelonier, die weit im Osten lebten.

Als der König hörte, welch sonderbare Vorstellungen von einer idealen Prinzessin in seinem Königreich vertreten wurden, war er sehr irritiert. Er erzählte seiner Tochter davon. Prinzessin Male wurde im folgenden Jahr von Tag zu Tag trauriger. „Nie werde ich einen Prinzen finden!“ jammerte sie.

Und bemerkte dabei gar nicht die sehnsüchtigen Blicke, die ihr die Männer zuwarfen, denen sie begegnete. „Ich bin viel zu groß, meine Ohren sind zu klein und mein Po ist zu dick!“... So ging es Tag für Tag und nach und nach ließ die Prinzessin alle Spiegel im Schloss zerstören, weil sie sich immer hässlicher fand, obwohl sie sich in Wirklichkeit von einem Kind in eine wunderschöne junge Frau verwandelt hatte.

Eines Tages war ihre Verzweiflung so groß, dass sie beschloss, das Königreich und ihre Eltern zu verlassen, um sie vor ihrer Hässlichkeit zu verschonen.

Sie zog sich einen großen Umhang über und schlich sich leise in einer dunklen, sternenlosen Nacht aus dem Schloss. Der König und die Königin waren ausser sich vor Sorge um ihre Tochter und schickten Kundschafter aus, die Prinzessin zu finden, aber sie blieb verschwunden. Drei mal fünf Monate lang.

Prinzessin Male indes wanderte von Land zu Land, überquerte Berge und durchschwamm Meere. Und jeder Mensch, vor allem die Männer, waren beeindruckt von ihrer Schönheit. Die Kinder liefen hinter ihr her und sangen Lieder. Doch Male fühlte sich klein, dumm und hässlich und dachte, dass alle Menschen, denen sie begegnete, schön seien, nur sie nicht.

Da fühlte sie sich noch kleiner und hässlicher. Doch eines Tages, nach drei mal fünf Monaten Herumirrens durch alle Gebiete des Königreiches, gelangte die Prinzessin schließlich an den Eingang einer Höhle, von deren Existenz nie ein menschliches Wesen jemals erfahren hatte. Sie zögerte kurz und betrat dann die Höhle, um sich auszuruhen von den Strapazen ihrer Wanderschaft.

Denn sie war sehr müde, vom vielen Laufen und auch von ihrer ständigen Traurigkeit. Plötzlich hörte sie ein leises Geräusch, weit hinten in der Höhle. Es war wie das Rascheln von Blättern im Wind, und sie tastete sich vorsichtig dahin, wo das Geräusch herkam. Und da saß er. Ein Rameplit, ein Höhlenmann, der sich von den Früchten und Wurzeln der Wälder ernährte und sein Leben in dieser Höhle verbrachte. „Guten Tag, lieber Höhlenmann“, sagte die Prinzessin mit ängstlicher Stimme. „Wer ist da? Wer stört mich?“ donnerte der Rameplit mit tiefer, wuchtiger Stimme zurück, so dass Male vor Schreck erstarrte.

„Ich.... ich bin’s nur, Male, die Prinzessin vom Glöckchen-Reich, und ich wollte Euch ganz bestimmt nicht stören... ich geh’ ja schon:“ Male wandte sich zum Gehen um. „Warte! Bleib!“, sagte die fremde Stimme, nun deutlich sanfter. „Ich möchte Dich mal anschauen!“ Und schon war der Rameplit, dem nie zuvor ein menschliches Wesen begegnet war, ganz dicht vor ihr und tastete ihr Gesicht mit seinen erstaunlich feinen und zartgliedrigen Händen ab. Ramepliten können nur mit ihren Händen „sehen“, denn ihre Augen sind von Geburt an blind.

Lange Zeit stand der Höhlenmann vor Male und ertastete den sanften Schwung ihrer Nase, die Form ihrer Augen und die Lage ihrer Ohren. Plötzlich fing der Rameplit an zu weinen und sagte:“ Wie schön Du bist! Noch nie haben meine Hände so etwas schönes gesehen, noch nie haben meine Ohren einen schöneren Laut als Deine Stimme vernommen. Noch nie hat meine Seele eine schönere Seele wahrgenommen als Deine! Wer bist DU?“ fragte er erneut.

Und plötzlich fiel alle Traurigkeit ab von der Prinzessin, die sie so lange begleitet hatte. Sie fühlte auf einmal ihre innere und äußere Schönheit, ihre Augen bekamen wieder ihren Glanz zurück und sie antwortete mit fester Stimme: „ Ich? Ich bin Ich!“

Tief bewegt nahm Male Abschied vom Höhlenmann, bedankte sich für den Seelenspiegel, den er ihrem Herzen geschenkt hatte und machte sich auf den Weg zurück. Zu ihren Eltern, zu ihrem Königreich, zu dem Prinzen, den sie kurze Zeit später kennen- und lieben lernte – zurück zu ihrem Leben.

„Ich bin ich“ sagte sie laut zu sich selbst. „Ich bin genauso wie ich für mich sein sollte. Und ich bin der schönste Mensch, der in mir wohnt!“

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.07.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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