Annegret Schütz

Das geheimnisvolle Medaillon

Fröstelnd wickelt Katja ihre dicke Wollstola um die Schultern und öffnet das Fenster. Noch ist es grau und trüb. Doch der Wetterbericht verspricht im Laufe des Tages Besserung. Sie muss lächeln, als sie an einen Ausspruch von Peter Ustinov denkt, den sie kürzlich in der Zeitung gelesen hat. „Science Fiction ist der Wetterbericht, der täglich im Fernsehen kommt.“ Da steckte wirklich ein Quäntchen Wahrheit hinter. Der Wasserkessel zischt laut und Katja geht zum Herd. Starker heißer Kaffee ist genau das Richtige für einen kalten Herbstmorgen. Eine Woche ist sie jetzt schon hier. Auf dieser abgelegenen Insel im äußersten Westen Frankreichs. Ile de Sein - Insel der Toten. 60 ha groß und schon seit prähistorischer Zeit besiedelt. Sie war die letzte Zufluchtsstätte der bretonischen Druiden. Vor nicht all zu langer Zeit sollen die Bewohner ihre Kassen noch mit Strandräuberei aufgefüllt haben. Bei der rauen, zerklüfteten See hatten viele Schiffe hier ihre Endstation erreicht.

 
Katja geht zum Spiegel und bürstet ihre langen braunen Locken. Die täglichen Spaziergänge haben ihrem blassen Gesicht wieder Farbe gegeben und ihre schönen blauen Augen bekamen langsam ihren alten Glanz zurück. In einer Stunde würde sie mit dem Schiff nach Audierne fahren, wo sie noch einiges zu erledigen hatte.

 
Auf dem Weg zum Hafen begegnet Katja der alten Marie Le Rol. Klein und drahtig. Immer ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht. Man sah der Frau ihre 85 Jahre wirklich nicht an.
Heute Morgen strahlte sie besonders. Katjas Französisch hatte sich in den letzten Tagen enorm verbessert. Aufgeregt erzählt Marie, dass ihr Enkel Yann heute mit der Fähre kommt. Dann verfällt sie unangekündigt ins Bretonische und Katja versteht nur noch Bahnhof. Sie muss unbedingt daran denken, der alten Frau Blumen mitzubringen. Sie war eine der Wenigen, die Katja bei ihrer Ankunft willkommen geheißen hatten. Die Nachricht, dass eine junge deutsche Frau für 3 Monate auf der Ile de Sein wohnen wollte, hatte sich wie ein Lauffeuer über die Insel verbreitet und war nicht überall auf Wohlwollen gestoßen. Katja studiert Geschichte und will ihre Examensarbeit über Leben und Brauchtum der Kelten schreiben. Da sie die Bretagne aus zahlreichen Urlauben in ihrer Kindheit kennt, war ihr die Wahl nicht schwergefallen. Ihre Kommilitonen hatten nur mit dem Kopf geschüttelt. Aber das unglückselige Ende einer Liebschaft und das Erbe ihrer Großeltern hatte sie ihren Entschluss schnell in die Tat umsetzen lassen.

 
Ein lautes Hupen schreckt Katja aus ihren Gedanken. Fast wäre sie in einen Motorroller gelaufen. Zornige dunkle Augen blitzen sie an. Aber für eine Entschuldigung ist es zu spät. Das Schiff macht sich zum Ablegen fertig und Katja läuft so schnell sie kann. Sie merkt nicht mehr die verwunderte Blicke des jungen Mannes, der ihr kopfschüttelnd nachblickt, ehe er weiterfährt.

 
Buchstäblich in letzter Sekunde erreicht sie die ENEZ SUN. Zum Glück hält sich der Seegang heute in Grenzen. Nur in der Passage beim Leuchtturm schaukelt es heftig. Sofort hört man überall auf dem Schiff würgende Geräusche. Katja versucht sie zu überhören.

 
Im Hafen in Audierne herrscht heute buntes Markttreiben. Als Feinschmeckerin liebt Katja französische Märkte. Als sie gerade damit beschäftigt ist, Artischocken auszuwählen, spürt sie einen heftigen Stoss in der Seite. Ein junges, blass aussehendes Mädchen sieht sie starr an, entschuldigt sich und ist sofort wieder verschwunden. Katja blickt in ihre Tasche. Überzeugt, dass ihr Portemonnaie weg ist. Doch nein, es war noch da. Also wirklich nur ein Versehen.

 
Als sie Stunden später die Insel erreicht, ist sie vollbepackt wie ein Lastesel. Natürlich hat sie wieder viel mehr gekauft, als sie eigentlich wollte. Die Fischer der Ile de Sein haben Mitleid mit ihr und bieten ihr einen Handkarren an, was sie dankend annimmt. Dann konnte sie auch erst bei Marie vorbeigehen und ihr die herrlichen Sonnenblumen geben, die sie ihr mitgebracht hatte. Irgendwie fand sie, dass diese Blumen besonders gut zu der kleinen Bretonin passten.

 
Marie wohnte in einer Seitenstraße, wo die Häuser dicht an dicht standen. Nur so boten sie im Herbst und Winter einander Schutz vor den schweren Atlantikstürmen. Die liebevoll bemalte Tür stand offen. „Hallo. Ist jemand zu Hause“ ruft Katja und tritt ein. „Marie, sind sie da.“ „Sie ist auf dem Friedhof“ antwortet eine dunkle Männerstimme. Katja erschreckt. Vor ihr steht ein hochgewachsener muskulöser Mann mit schwarzen Haaren und fast genauso schwarzen Augen. „Sieh an. Die Träumerin.“ Katja ist so verblüfft, dass sie den Mann nur stumm anstarrt. Schließlich stammelt sie: „Entschuldigung. Ich wollte Marie die Blumen bringen. Ach ja, mein Name ist Katja Schumann.“ Mit einem spöttischen Lächeln verbeugt sich ihr Gegenüber und antwortet in Deutsch: „Mein Name ist Yann Le Rol und Marie ist meine Großmutter. Sie hat mir schon erzählt, dass eine Deutsche auf der Insel wohnt. Das ist hier natürlich eine Sensation. Aber machen sie sich darüber keinen Kopf. Ich bin genauso eine. Nehmen sie doch Platz. Meine Großmutter müsste jeden Augenblick zurückkommen.

 
Katja kam seiner Aufforderung nur zu gerne nach. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment fielen ihre Füße ab. „Vorher können Sie so gut Deutsch“ fragt sie. „Ich studiere Germanistik in Heidelberg. Seit zwei Jahren und dort wohne ich auch. Aber jetzt habe ich Semesterferien und bleibe einen Monat hier. Anfang Oktober geht das nächste Semester los. Und sie? „Ich studiere in Berlin Geschichte. Ich bin auch Berlinerin. Zur Zeit arbeite ich an meiner Examensarbeit über das Leben der Kelten.“ „Da sind sie ja hier richtig. Vielleicht kennt meine Großmutter noch die alten Überlieferungen.“ „Ja. In der Tat haben wir schon darüber gesprochen. Aber ich kann jetzt nicht länger warten. Würden Sie ihr bitte die Blumen geben. Sagen Sie, als Dank für den herzlichen Empfang, den sie mir hier bereitet hat.

 
Als Marie kurz darauf mit ihrem Handkarren abzieht, blickt Yann ihr noch einige Zeit hinterher. Eine sehr attraktive Frau, und eine interessante dazu. Vielleicht würde der Aufenthalt hier doch nicht so langweilig werden, wie er erst befürchtet hatte.

 
Mit einem lauten Knall schleudert Katja ihre hohen Stiefeletten in die Ecke. „Meine Güte. Sie würde nie mehr laufen können.“ Seufzend lässt sie sich auf einen Stuhl fallen. Den Versuch, ihre Zigaretten im Rucksack zu finden, gibt sie schnell auf und kippt ihn stattdessen über dem Tisch aus. Als sie ihre Sachen durchwühlt, durchfährt sie ein kurzer Schmerz. „Au.“ Was war das? Blut tropft von ihrem Zeigefinger. Verwundert starrt Katja auf das silberne Schmuckstück auf ihrem Tisch. Vorsichtig hebt sie es hoch und sieht sofort, dass es sich um einen keltischen Halbmond handelt. Offenbar ein Anhänger, aber ohne Kette. Das Silber ist angelaufen, aber es wiegt schwer. Viel zu schwer für einen Anhänger. Aber wie kam er in ihre Tasche. Sofort fällt ihr das junge Mädchen ein. Ob er ihr gehörte. Vielleicht war er aber auch gestohlen und sie hat ihn auf der Flucht einfach in Katjas Tasche fallen lassen. Fragen über Fragen. Sie würde gleich Morgen zu Monsieur Brun, dem Inselpolizisten, gehen und den Anhänger dort abgeben. Sie legt ihn in die Glasschale auf dem Wohnzimmertisch und beginnt die Einkäufe auszuräumen. Immer wieder gehen ihre Gedanken zu Yann Le Rol. Der Mann hatte ein fast unheimliches Charisma. Mit Schadenfreude dachte Katja, dass ihr Ex neben ihm wie ein Niemand wirken würde. Da nützte auch der teuerste Anzug nichts. Ihr fiel auf, dass sie in den letzten Tagen überhaupt nicht mehr an Henning gedacht hatte und kam zu dem Schluss, dass es wirklich so das Beste gewesen war. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

 
In der Nacht hat Katja einen seltsamen Traum. Das junge Mädchen aus Audierne steht an ihrem Bett und streckt stumm die Hand aus. Ihre langen Haare sind nass und scheinen am Körper zu kleben. Etwas an ihr ängstigt Katja und mit klopfendem Herzen erwacht sie. Es dauert einige Minuten, bis sie sich wieder richtig gefangen hat. Draußen schlägt der Regen mit Wucht gegen die Fensterläden. Kopfschüttelnd zieht Katja sich die Decke über den Kopf. Natürlich hatte sie die Geschehnisse des Tages in einem Traum verarbeitet. Kurze Zeit später ist sie wieder fest am schlafen.

 
Katja erwacht durch ein heftiges Klopfen an der Haustür. Verschlafen blickt sie auf ihren Wecker. 10.30 Uhr. Das war doch nicht möglich. Schnell zieht sie ihren Bademantel über und öffnet die Tür. Oh, nein. Nicht dieser Mann! Mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht betrachtet Yann Le Rol die kleine, verstrubbelte Frau vor ihm und kam zu dem Ergebnis, dass sie einfach hinreißend war. „Guten Morgen. Also, nicht nur Träumerin, sondern auch Langschläferin.“ Sofort fiel Katja der seltsame Traum ein. „Ich habe heute Nacht nicht gut geschlafen“ antwortet sie. „Kein Wunder bei dem Unwetter. Daran werden sie sich gewöhnen müssen.“ Plötzlich kam es Katja richtig zu Bewusstsein, dass sie verschlafen, ungewaschen und mit einem Morgenmantel vor einem unglaublich attraktiven Mann stand. „Was wollen sie eigentlich“ fragt sie unwirsch und mit hochrotem Kopf. Schon wieder dieses Grinsen! „Meine Großmutter hat sich sehr über die Blumen gefreut und möchte sie heute Nachmittag zum Kaffee einladen. Haben sie Zeit - so gegen 15.00 Uhr?“ Katja nickt. „Ich werde gerne kommen.“ „Gut. Dann bis später.“

 
Im Haus lehnte Katja sich an die Eingangstür und blies eine Strähne von ihrem Haarpony in die Luft. „Was für eine Situation.“ Schnell ging sie ins Bad, falls noch mal jemand klopfte.

 
Der Himmel war noch immer grau. Katja verzichtet auf ihren täglichen Spaziergang und setzt sich an den Schreibtisch. Sehr weit gekommen war sie noch nicht und wollte heute einiges arbeiten. Ihr fiel der keltische Halbmond ein und sie ging zum Schrank. Aber die Schale war leer. Das konnte doch nicht sein! Sie wusste genau, dass sie ihn die blaue Glasschale gelegt hatte. Trotzdem suchte Katja alles aus. Nichts. Wie vom Erdboden verschluckt. Es gab nur eine Möglichkeit. Jemand war heute Nacht in ihrem Haus gewesen. Kein angenehmer Gedanke. Aber wer? Und warum hatte er nur den Anhänger mitgenommen und ihr Portemonnaie mit den 100 € liegen lassen? War es vielleicht doch kein Traum gewesen und das Mädchen hatte wirklich neben ihrem Bett gestanden. Katja klopfte das Herz bis zum Halse. Sie konnte sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren und beschloss, trotz des unfreundlichen Wetters einen Spaziergang zu machen. Als sie beim Leuchtturm angekommen war, riss in Sekundenschnelle der Himmel auf und die Sonne kam zum Vorschein. „Typisch Bretagne“ denkt sie. Das Wetter hier wechselte von einem Moment zum anderen. Es gab selten Tage, an denen es permanent schlecht war. Im Sonnenlicht verlor die eher karge Landschaft ihr raues Gesicht. Das Meer glitzerte, als wäre es mit Diamanten gefüllt. Katja schloss die Augen und breitete die Arme aus. Sie atmete den Duft der Brandung. Es war herrlich. „Haben Sie vor wegzufliegen“? Erschrocken dreht sie sich um. Schon wieder dieser Mann. „Verfolgen Sie mich eigentlich“? Die Frage war ihr herausgerutscht, ehe sie darüber nachdachte. Doch er schien nicht wütend, eher amüsiert. „Vielleicht haben sie recht. Sie sind zur Zeit mit Sicherheit das Interessanteste, was diese Insel zu bieten hat.“ „So, finden Sie? Ich finde die Ile de Sein sehr interessant.“ „Sie müssen entschuldigen, aber ich bin hier aufgewachsen. Bis zu meinem 14. Lebensjahr haben meine Eltern hier gewohnt und ich kenne jeden Winkel. Man sieht die Dinge dann anders.“ Da musste Katja ihm recht geben.

 
„Kommen Sie. Meine Großmutter mag es nicht, wenn man unpünktlich ist.“ Katja blickt auf ihre Armbanduhr. Tatsächlich! Es war schon halb Drei. Wieder lächelte Yann. „Ich sehe. Sie haben sich schon daran gewöhnt Zeit zu haben. Das ist gut.“

 
Auf dem Weg in den Ort überlegt Katja, sich ihm anzuvertrauen. „Sicher halten sie mich jetzt für eine neurotische Spinnerin“ schloss sie ihre Erzählung. Yann schüttelt den Kopf. „Das tue ich bestimmt nicht. Ich werde nachher ihre Schlösser überprüfen, ob sich jemand daran zu schaffen gemacht hat.“ „Vielleicht hatte ich auch nicht abgeschlossen. Ich war ziemlich müde gestern. Auf jeden Fall ist mir nichts aufgefallen. Außer, dass das Amulett fehlt. Außerdem würde es bedeuten, dass dieses Mädchen mit der Fähre auf die Insel gekommen ist. Wo sollte sie geschlafen haben.“ „Wie hat sie denn ausgesehen?“ Etwa so groß wie ich, aber zierlicher. Die Haare sehr lang und fast schwarz. Ein schmales blasses Gesicht und seltsame Augen. Ja, jetzt fällt es mir erst richtig auf. Irgendwie ohne Farbe. Hellgrau oder so was ähnliches. Sie passen auf jeden Fall nicht zu der Haarfarbe. Ich schätze, sie wird so zwischen 17 und 20 sein.“

 
Später in der gemütlichen Küche von Yanns Großmutter erzählt Katja die Geschichte noch einmal. Maries dunkle Augen sind wachsam. „Auf der Insel lebt niemand, auf den die Beschreibung passen könnte. Meinen sie, dass Amulett wäre wertvoll gewesen?“ „Ich denke schon. Es war aus schwerem Silber und es schien alt zu sein. Kein Schmuckstück, welches man an einem herkömmlichen Stand kaufen kann.“ „Die Fee Viviane trug einen keltischen Halbmond“. Yann rollt mit den Augen. „Großmutter bitte!“ „Es ist nur eine Feststellung.“ „Da bin ich aber beruhigt“ antwortet Katja. „Der Gedanke, dass eine bretonische Zauberin nachts durch mein Haus schleicht ist nicht gerade angenehm.“ Marie hatte den spöttischen Unterton in Katjas Stimme gehört. „Es gibt viele Dinge, die ein Großstadtkind wie sie nicht verstehen kann.“ Katja schüttelt den Kopf. „Ich bin nicht so ignorant, dass ich denke, alles ist erklärbar. Aber bei heidnischen Gottheiten bin ich schon eher skeptisch.“

 
Viel zu schnell ging der gemütliche Nachmittag vorbei und es war schon dunkel, als Yann sie nach Hause begleitete. Er inspizierte die Schlösser, konnte aber nichts feststellen. Katja war nervös, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. „Möchten sie noch einen Kaffee?“ Katja stand mit dem Rücken zu Yann und er ging zu ihr, fasste sie sanft an den Schultern und drehte sie zu sich um. Sie war einen guten Kopf kleiner und musste zu ihm aufsehen. Unter dem prüfenden Blick der schwarzen Augen errötete sie. „Haben sie Angst“, fragte Yann mit zärtlicher Stimme. Stumm schüttelt Katja den Kopf. „Wieso? Müsste ich das?“ „Ich denke nicht. Er griff in die Tasche und holte eine Visitenkarte hervor. Hier ist meine Handynummer. Sie können mich zu jeder Zeit anrufen, wenn sie sich ängstigen.“

 
Als er weg war, musste Katja erst einmal tief durchatmen. Das Adrenalin schoss nur so durch ihren Körper. Noch nie hatte ein Mann sie so in Verwirrung und Unruhe versetzt wie Yann Le Rol.

 
In der Nacht kam er wieder, dieser Traum. Diesmal aber stand das Mädchen lächelnd an ihrem Bett. Ihre dunklen Haaren waren trocken und fielen in sanften Wellen bis auf ihre Hüften. An ihrem Hals hing das Amulett. Schweratmend erwachte Katja. Doch dieses Mal stand sie auf und ging in die Küche. In dieser Nacht würde sie keinen Schlaf mehr finden.

 
In warmen Orangetönen ging die Sonne auf. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Katja lief bis zum Leuchtturm. Die kühle Morgenluft tat ihr gut. Es war Ebbe und die vielen Felsen um die Ile de Sein lagen frei. Katja liebte es über den trockenen Meeresboden zu laufen. Es fanden sich immer wieder Muscheln und kleine Tierchen. Sie lief bis zu einer hohen, labyrinthartigen Felsgruppe und kletterte auf den höchsten Felsen. Katja schloss die Augen und breitete ihre Arme aus. Es war herrlich. Der Geruch, das Geschrei der Möwen, einfach alles. Dann blickte sie auf ihre Armbanduhr. Es dauerte noch gut zwei Stunden, bis die Flut einsetzte. Eine halbe Stunde würde es dauern, bis sie wieder an Land war. Man musste hier sehr vorsichtig sein. Durch den hohen Tidenhub kam das Meer schnell und mit Gewalt zurück. Die Vorderseite des Felsens war mit Miesmuscheln bewachsen. Katja versuchte, welche abzubrechen. Meine Güte, waren die fest. Da brauchte man ja ein Brecheisen. Plötzlich rutschte sie ab und fiel auf den spitzen Felsen unter ihr. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren rechten Arm. Doch Katja ignorierte ihn. Vor ihr kamen die Umrisse einer skelettierten Hand aus dem Boden und ihr entfuhr ein gellender Schrei. Dann stand sie auf. Ihre Knie waren blutig und ihr Arm vermutlich verstaucht, wenn nicht sogar gebrochen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte sie so schnell es ging davon.

 
Yann, der ein Frühaufsteher war, fuhr auf dem Weg zum Bäcker bei Katja vorbei. Die Läden waren offen. Also war sie wach. Er klopfte mehrmals, bekam aber keine Antwort. Bei dem herrlichen Herbstwetter machte sie bestimmt einen Spaziergang. Man musste jeden Sonnenstrahl ausnutzen. Er beschloss Katja zu suchen. Da er sein Fahrrad dabei hatte, würde er sie schnell finden. Die Insel war klein. Gestern noch hatte sie erzählt, wie sehr sie den Leuchtturm mochte und so fuhr er in diese Richtung. Schon von weitem sah er Katja. Sie war im Meer zwischen den Felsen. Die Frau war unmöglich. Wusste sie nicht, dass bald die Flut kam. Yann war wütend und fest entschlossen, ihr gehörig die Meinung zu sagen. Da sah er, dass Katja kaum laufen konnte. Schnell springt er vom Rad und lief ihr entgegen. Die Worte bleiben ihm im Hals stecken als er sieht, dass sie verletzt und total verängstigt war. Wortlos hob er sie hoch. Katja wollte ihm alles erklären. „Jetzt nicht. Wir müssen uns beeilen. Das Wasser kommt. Als Yann schweratmend das Ufer erreichte, strich ihm das Meer schon um die Knöchel. „Meine Güte, sie sind nicht gerade leicht“, stöhnte er. „Sind sie in der Lage, mit auf mein Fahrrad zu steigen. Ich bringe sie zum Arzt.“ „Ich glaube mein rechter Arm ist verstaucht. Aber es wird schon gehen.“ Unterwegs erzählte Katja, was geschehen war. „Ich kann mir vorstellen, dass sie sich erschreckt haben. Aber es hat hier so viele Schiffsunglücke gegeben, da ist es nicht ungewöhnlich, dass das Meer ab und zu seine Beute wieder freigibt.“ „Ich finde es nicht angebracht, über einen verunglückten Menschen als Beute zu reden“, erwiderte Katja kühl. Sie hatten das Haus von Dr. Belletrud erreicht. „O la la Mademoiselle. Das sieht aber nicht gut aus.“ Während Yann wartete, rief er den Inselpolizisten an. „Ich werde mich sofort mit Audierne in Verbindung setzen“, versprach dieser. „So, hier haben sie ihre kleine Freundin wieder. Abschürfungen an den Knien und ein verstauchter Arm sind das Ergebnis ihres Abenteuers. Vielleicht sollten sie ih! r klarma chen, dass sich das Meer schlecht zum spazieren gehen eignet. Ich muss ohnehin in ihre Richtung und nehme sie mit.“ Katja blickte Yann fragend an. „Fahren sie mit dem Doktor. Ich komme mit dem Rad nach.“

 
Der Unfall und der Fund breiteten sich über der Insel wie ein Lauffeuer aus. Während Yann für Katja Tee kochte, kam seine Großmutter. Marie ging sofort zu Katja und strich ihr zärtlich über die Wange. „Meine Kleine, was machen sie denn für Geschichten? Haben sie Schmerzen.“ „Ich sehe die Buschtrommeln funktionieren wie eh und je“ antwortete Yann an ihrer Stelle. „Es ist schon ein Polizeitrupp aus Audierne unterwegs, um die Leiche zu bergen.“
Katja schwieg noch immer. „Ist es so schlimm“ fragte Marie. Wieder antwortete Yann. „Sie ist nur beleidigt, weil ich mit ihr geschimpft habe. Wäre ich nicht gekommen, hätte sie dem Skelett Gesellschaft geleistet.“ „Ja, ja. Man darf die Urgewalt des Meeres nicht unterschätzen. Marie grinste. „Ich sehe mein Enkel sorgt gut für sie. Sobald ich etwas Neues erfahre, komme ich zurück.“ Als sie weg war setzte Yann sich Katja gegenüber und zog sie auf seinen Schoß. „Was fällt ihnen ein“, fauchte Katja empört. Doch statt einer Antwort bekam sie einen langen leidenschaftlichen Kuss. „Das wollte ich schon, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe und dir ist es genauso ergangen.“ Katja widersprach nicht. Was er sagte, stimmte. Stattdessen legte sie den Kopf an seine Schulter und genoss das schützende Gefühl seiner Arme. „Ich hatte wieder einen Traum von dem Mädchen. Es stand wieder an meinem Bett. Diesmal lächelte sie und hatte das Amulett um den Hals. Was soll das bedeuten? Ich habe Angst.“ Yann wiegte sie beruhigend hin und her. „Es wird sicher alles eine Aufklärung finden.“ Er hoffte es zumindest.

 
Das kleine Polizeirevier auf der Ile des Sein brach fast auseinander. Ein vierköpfiges Team aus Audierne, bestehend aus dem Kommissar, seiner Assistentin und zwei Spurensicherern hatten alles mögliche in dem kleinen Raum ausgebreitet. Sobald die Ebbe wieder eingesetzt hatte, fing man an zu graben und war schnell fündig geworden. Jetzt warteten sie darauf, dass Skelett zu weiteren Untersuchungen an Land bringen zu können. Der Knochenbau war eher zierlich und man vermutete, dass es sich um ein Kind handele.“Oder um eine zierliche Frau“, meinte Kommissar Duvall. Seine Assistentin Sophie Peron unterstütze seine Theorie, da noch einiges an schwarzem Haar vorhanden war. In zwei Stunden fuhr das Schiff. Dann würde man weitersehen.

 
Yann hatte darauf bestanden, dass Katja bei Marie übernachtete. Es war noch ein Gästezimmer da und so machte es weiter keine Umstände. Unter dem dicken Federbett fühlte sie sich warm und geborgen. Schließlich schlief sie ein. In der Nacht kam er wieder, dieser Traum. Das Mädchen stand an ihrem Bett und hielt ihr mit ernster Miene die offene Hand hin. In ihr lag das Amulett. Schreiend fuhr Katja aus dem Schlaf hoch. „Was ist los“ stürmte Yann, gefolgt von Marie, an ihr Bett. „Der Traum. Sie war wieder hier und hat mir das Amulett hingehalten.“ Yann nimmt Katja in den Arm. „Was für eine Sie und was für ein Amulett“, wollte Marie wissen. Doch Marie war zu aufgebracht, um etwas zu erzählen „Ich gehe runter und mache und warme Schokolade. Dann könnt ihr mir alles erzählen.“

 
Wenig später saßen die Drei in der Küche, wo ein warmes Feuer im Ofen prasselte. Nachdem Marie alles gehört hatte, blickte sie Katja nachdenklich an. „Was ist los Großmutter“, fragte Yann, dem der besorgte Gesichtsausdruck aufgefallen war. „Es war im Herbst vor 60 Jahren. Kurz nach meinem 25. Geburtstag. Da ist die damals 16jährige Anne Clavier verschwunden. Sie war ein seltsames Mädchen. So wie alle Frauen aus ihrer Familie. Es ging etwas Unheimliches von ihnen aus. Vielleicht lag es auch an den Augen. Die waren so hellgrau, dass sie manchmal durchsichtig wirkten und einen ängstigten. Sie bildeten einen krassen Kontrast zu den schwarzen Haaren, die jeder in der Familie hatte. Seltsamerweise waren die Augen der männlichen Mitglieder alle blau.“ Katja war kreidebleich geworden, was Marie nicht verborgen blieb. „Ich sehe schon. Das Mädchen in deinen Träumen hat so ausgesehen. Habe ich recht?“ „Aber was hat das alles zu bedeuten. Wie kann das sein.“ stieß Katja entsetzt hervor. „Nun, es hieß, diese Frauen wären die Hüterinnen des silbernen Amuletts der Zauberin Viviane. Sollte es jemals aus der Familie verschwinden, würde die Ile des Sein im Meer versinken. Nur der freiwillige Tod der schuldigen Frau konnte dieses Schicksal abwenden. Es wurde immer von Mutter zu Tochter vererbt. Wobei 20 Jahre das Mindestalter war. Tatsächlich hatte sich Anne an einem schönen Herbsttag heimlich mit einem Mann getroffen und vorher das Amulett ihrer Mutter entwendet, damit sie es tragen konnte. Der Mann war ein Taugenichts. Er hat Anne das Amulett gestohlen und ist verschwunden. Zwei Tage später war auch Anne weg. Die einen sagten, sie wäre ihm gefolgt. Aber die meisten dachten, dass ihre Mutter sie gezwungen hatte, Selbstmord zu begehen.“ „Was für eine Geschichte“ sagte Katja entsetzt. „Wie kann eine Mutter von ihrem eigenen Kind den Freitod verlangen?“ „Wie ich schon sagte. Sie waren keine gewöhnlichen Frauen.“ „Aber wieso habe ich das Amulett plötzlich in der Tasche? Und dann diese Träume. Ich bin noch nicht einmal Bretoni! n.“ Mar ie zuckte mit ihren schmalen Schultern. „Das müssen wir noch herausfinden.“

 
In dieser Nacht schlief Katja nicht alleine. Sie lag in den Armen von Yann und mit einem Gefühl der Geborgenheit schlief sie ein.

 
Sie träumte. Sie war noch ein Kind und lief durch einen dichten Wald. Es war der Wald von Brocilande, in dessen Nähe sie in diesem Jahr ihre Ferien verbrachten. Sie hatte sich verlaufen. Sie war einem Schmetterling gefolgt, der so schön und bunt war, wie sie bisher noch keinen gesehen hatte. Aber jetzt wußte sie den Weg zurück nicht mehr. Es war auch kein Rufen der Eltern zu hören. Hatten sie noch nicht bemerkt, dass Katja nicht mehr da war. Sie kam an einen kleinen See und setzte sich weinend ans Ufer. Plötzlich stand eine Frau neben ihr. Sie war wunderschön, aber ihre Augen blickten kalt. „Komm“, sagte sie „ich bringe dich aus dem Wald heraus.“ Obwohl sich Katja sehr fürchtete, folgte sie der fremden Frau. Nach einer Weile blieb sie stehen und blickte Katja lächelnd an. „Du bist sehr mutig“, sagte sie und hielt dem Kind einen wunderschönen Stein hin. „Das ist ein Mondstein. Er gehört jetzt dir. Aber hüte ihn gut und zeige ihn niemand. Eines Tages wird er mir genauso nützen wie jetzt dir. Er bringt dich aus dem Wald heraus. Geh jetzt und schweige.“ Die Frau verschwand so schnell wie sie gekommen war. Aber Katja ging immer weiter. Den Stein fest in der Hand. Plötzlich hörte sie das verschweifelte Rufen ihrer Eltern und sah auch schon die Mutter zwischen den Bäumen. Schnell ließ sie den Stein in ihrer Tasche verschwinden und lief weinend der Mutter entgegen.

 
Durch das sanfte Schütteln von Yann erwachte Katja mit klopfendem Herzen. „Was ist los“, fragte er mit besorgter Miene. „Hast du wieder geträumt.“ Es dauerte einen Moment bis Katja sich beruhigt hatte. Dann erzählte sie Yann ihren Traum. „Ist der Stein noch in deinem Besitz?“ Katja nickte. „Ich habe mein Versprechen gehalten und ihn nie jemanden gezeigt. Ich war damals erst 10 Jahre alt und hatte furchtbare Angst, die unheimliche Frau würde sich an mir rächen.“ „Ist der Stein auf der Insel.“ „Ja. Du denkst, er könnte das Bindeglied sein.“ „Wenn sich herausstellt, dass es sich bei dem Skelett um das von Anne handelt, denke ich ja.
Nicht alles ist unbedingt erklärbar Katja. Und vieles sollte man ganz einfach nicht hinterfragen.“ Er zog sie wieder in seine Arme und für einige Zeit dachte Katja nur noch an Yann.

 
Als sie am nächsten Morgen in die Küche kamen, hatte Marie schon das Frühstück fertig. „Habe ich richtig gehört“, fragte Yann. „Hat schon dein Telefon geläutet.“ „Es war die Polizei. Bei dem Fund handelt es sich tatsächlich um Anne Clavier. Spuren eines gewaltsamen Todes sind nicht zu finden. Also hat sie tatsächlich Selbstmord begangen.“ „Vielleicht hat man sie auch gezwungen, ins Wasser zu gehen“, meinte Katja. „Sie ist doch ertrunken, oder etwa nicht.“ Marie blickt sie prüfend an. „Ja. Sie ist ertrunken und natülich könntest du recht haben. Die ganze Wahrheit werden wir wohl nie erfahren.“

 
Katja wollte an ihrer Arbeit weiterschreiben und macht sich auf den Heimweg. Zuerst aber begleitete sie Yann zum Hafen. Er musste nach Audierne für Marie Medikamente holen. „Ich komme heute Abend vorbei.“ Katja nickte. „Ich werde da sein.“ Er drückte sie kurz an sich und ging aufs Schiff. Katja bummelte am Strand entlang. Es war wieder einmal ein sonniger Morgen und so richtige Lust nach Hause zu gehen, hatte sie nicht. Plötzlich vernahm sie ein leises Maunzen. Zwischen den Steinen saß ein kleines, grau-getigertes Kätzchen und blickte Katja unglücklich an. Schnell nahm sie es auf ihren Arm. „Du armes Kleines. Wo kommst du denn her?“ Verletzt schien das Tierchen nicht zu sein. Nur allein und wahrscheinlich hungrig. Katja beschließt es erst einmal mit zu nehmen. Sollte es jemand gehören, würde sie das auf der kleinen Insel schnell in Erfahrung bringen.
Zum Glück hatte sie noch Milch im Haus. Gierig leckt das kleine Kätzchen die Schale aus. Katja hatte es jetzt schon in ihr Herz geschlossen und hoffte, dass sich kein Besitzer meldet. Gerade als sie es streicheln will, sträuben sie sich Fellhaare und es verschwindet blitzschnell unter dem Küchenschrank. Was war denn jetzt los? Ein seltsames Gefühl lässt Katja Schauer über den Rücken laufen. Langsam dreht sie sich um, aber es ist niemand zu sehen. „Diese Insel macht mich noch verrückt“ murmelt Katja vor sich hin und versucht, das Kätzchen unter dem Schrank hervorzulocken. Ohne Ergebnis. Schließlich stand sie auf. Irgendwann würde es schon wieder rauskriechen. Jetzt musste sie erst einmal unter die Dusche.

 
Yann und Marie saßen sich schweigend gegenüber. Schließlich springt Yann auf und läuft in der Küche hin und her. „Das ist doch Aberglaube. So etwas gibt es nicht.“ Nervös streicht er sich das Haar aus der Stirn. „Setz dich wieder hin Yann“, befiehlt Marie mit strenger Stimme. „Diese Herumlauferei macht micht nervös.“ Dann, nach einigen Minuten: „Du weißt, dass es so ist.“ „Wie sollen wir es Katja sagen, ohne sie zu sehr zu ängstigen.“ „Ich glaube mein Junge, sie ist nicht so ängstlich und schwach, wie du denkst. Sonst hätte die weiße Frau sie damals nicht ausgesucht.“ Yann springt auf und eilt zur Tür: „Ich brauche frische Luft.“ Marie sieht ihrem Enkel nachdenklich hinterher. Sie hatte bemerkt, dass er in Katja verliebt war. Das freute sie sehr. Sie mochte die hübsche deutsche Frau. Aber erst musste diese Geschichte zu Ende sein.

 
Yann lief ziellos über die Insel. Es war einfach absurd. Nach einer Stunde hatte er einen Entschluss gefasst. Er würde mit Katja reden. Nach mehrmaligem Klopfen wurde hastig die Tür einen Spalt geöffnet. Wieder stand Katja vor ihm im Bademantel. „Das scheint ja dein Lieblingskleidungsstück zu sein“ grinst Yann sie an. „Hoffentlich ist da nichts drunter.“ Katja errötet leicht, was sie für Yann noch reizvoller machte. Aber dann wurde er schlagartig ernst. „Zieh dir erst mal was an. Ich koche uns in der Zeit Kaffee.“ Als er die Tassen auf den Tisch stellte, fühlte er sich beobachtet. Irriert drehte Yann sich um und blickte in die großen grünen Augen des kleinen Kätzchens. „Ja wen haben wir denn hier?“ Lächelnd bückt Yann sich und streichelt das niedliche Tier. „Ach, da bist du ja wieder! Vorhin hat es sich ängstlich unter dem Schrank versteckt und wollte nicht mehr hervorkommen. Kann ich aber auch verstehen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden,“ erklärt Katja. Als sie den ernsten Blick in Yanns Augen sieht fragte sie ängstlich: „Was ist los?“ „Setz dich erstmal. Wir müssen reden.“

 
Eine Viertelstunde später sitzt eine relativ gefasste Katja vor Yann. Zärtlich nimmt er ihre Hand, die sich eiskalt anfühlt. „Obwohl mein gesunder Menschenverstand Alarm schlägt, glaube ich dennoch das deine Großmutter recht hat.“ Als wäre dies das Zauberwort fliegt die Tür auf und Marie Le Rol steht vollkommen durchnässt in der Küche. „Dieses verflixte bretonische Wetter. Selbst wenn ich 100 werde, kann ich mich nicht daran gewöhnen. Dann geht man bei Sonnenschein und kommt nach 400 m aufgeweicht an.“ Schnell läuft Katja und holt eine Decke für Marie. „Setzen sie sich doch ans Feuer! Oder wollen sie die nassen Sachen ausziehen?“ „Bestimmt nicht“, antwortet Yann an Maries Stelle. „Sie ist es gewohnt nass zu werden, weil sie, so glaube ich, noch nicht einmal einen Regenschirm besitzt.“ Grinsend nickt die alte Frau. „Hat mein Neffe ihnen alles erzählt?“ Katja nickt. „Ich glaube ihnen.“ „Das ist gut so mein Kind. Ich habe Erkundigungen eingeholt. Anne hatte eine jüngere Schwester - Beatrice. Sie lebt seit ihrer Hochzeit in Rennes und ist jetzt 75 Jahre alt. Sie hatte eine Tochter, Claudine, die jetzt 50 Jahre ist und in Saint Malo lebt. Die wiederrum auch eine Tochter hat. Severine! Sie ist jetzt 20 Jahre und lebt in Rennes, wo sie studiert.“ „Du bist wirklich die bretonische Miss Marple“, stellt Yann grinsend fest. „Und was soll die Ahnenforschung jetzt?“ Mißbilligend sieht Marie ihren Enkel an. Doch ehe sie etwas sagen kann, antwortet Katja. „Das liegt doch klar auf der Hand. Severine ist die rechtmäßige Besitzerin des Amuletts und ich soll es ihr zurückgeben.“ „Das leuchtet mir schon ein. Aber es gibt ein Problem. Du hast das Amulett nicht mehr. Sondern offenbar der Geist von Anne Clavier oder was immer dir erscheint.“ „Jetzt kommt der Mondstein ins Spiel“, erklärt Marie. Bei der letzten Ebbe des Tages, muss Katja ihn auf die Stelle legen, wo die Leiche von Anne gefunden wurde. Bei der ersten Ebbe des Tages wird an seiner Stelle das Amulett liegen.“ „Na, wenn das mal klappt“ zweifelte Yann. „Ich trenne m! ich nur ungern von dem schönen Stein“, sagte Katja. „Aber es muss wohl sein. Warum bloß hat die Fee mich damals ausgesucht?“ Marie zuckte mit den schmalen Schultern. „Darauf weiß ich auch keine Antwort. Dann kramte sie in der Schublade und holte ihren Gezeitenkalender hervor. Die erste Ebbe ist morgen früh um 5 Uhr.“ Erwartungsvoll blickte sie Katja an. Diese nickte ohne zu zögern. „Ich werde es genauso machen, wie du es gesagt hast.“

 
Katja blieb im Haus von Marie. Irgendwann nach Mitternacht war sie in den Armen von Yann eingeschlafen. Yann hingegen lag noch lange wach und grübelte. Sein gesunder Menschenverstand glaubte nicht an irgend einen Hokuspokus. Doch seine bretonische Seele wusste, es gab Dinge jenseits aller Grenzen, die nicht erklärbar waren. Er blickte auf die schlafende Frau an seiner Seite und presste sein Gesicht in ihr Haar. Ein zarter Duft von Vanille schlug ihm entgegen. Er wusste, sie war sein Schicksal.

 
Es war noch dunkel, als sich in den frühen Morgenstunden die kleine Gruppe auf den Weg machte. Durch das Licht des Leuchtturmes war es etwas einfacher, die Stelle zu finden. Marie blieb am Ufer, während Yann und Katja, bewaffnet mit Sturmlampen, zu der kleinen Felsgruppe gingen. Sie hatten sich fest an den Händen gefasst und Yann spürte, dass Katja zitterte. „Hast du Angst?“ Fragte er. „Ein bißchen schon. Es ist alles so unwirklich.“ Nach einer Viertelstunde hatte sie die kleine Felsformation erreicht. Ein letztes Mal blickte Katja auf den Mondstein, der sie so viele Jahre begleitet hatte. Dann legte sie ihn nieder. „Ich hoffe, dass die Seele des armen Mädchens jetzt ihre Ruhe findet!“ Yann und Katja blieben noch einige Minuten stehen, dann traten sie den Rückweg an. „Ich weiß nicht, aber vielleicht habe ich erwartet, dass etwas geschieht,“ sagte Katja zu Yann. Der gab ihr einen zärtlichen Nasenstubser und anwortete: „Du hast wohl noch nicht genug Aufregung gehabt. Dann muss ich wohl diesen Part jetzt übernehmen?“ „Da bin ich aber gespannt,“ lachte Katja.

 
Vom Ufer aus hatte Marie gesehen, was den beiden jungen Leuten entgangen war. Kaum, dass sie die Felsen verlassen hatten, konnte man trotz der Dunkelheit den schemenhaften, weißen Umriss einer Frauengestalt erkennen. Ein Strahlen huschte über das Gesicht der alten Frau. Der Mondstein war wieder bei seiner rechtmäßigen Besitzerin.

 
In der Küche von Marie roch es wunderbar nach frischem Kaffee und warmen Croissants. Im Herd flackerte ein Feuer und die letzte Anspannung fiel von Katja ab. Marie war glücklich. Sie wußte, dass ihr Enkel und die deutsche Frau für einander geschaffen waren. „Ob der Stein noch da ist,“ fragte Katja. Marie lächelte. „Er ist weg. Ich habe gesehen, wie die weiße Fee ihn geholt hat.“ „Großmutter“, rief Yann entrüstet. „Selbst wenn es so gewesen wäre, hättest du in der Dunkelheit nichts erkennen können.“ Marie zuckte mit ihren schmalen Schultern. „Wenn du meinst.“

 
Den ganzen Tag war Katja mit ihrer Examensarbeit beschäftigt. Da Yann heute nochmal nach Audierne musste, war die Gelegenheit günstig. Doch jetzt war es genug. Sie konnte sich kaum noch konzentrieren. Ein Blick auf die Uhr ließ Katja erstaunt feststellen, dass es fast fünf Uhr waren. Erschöpft legte sie sich auf das alte Sofa und schhloss die Augen. Ehe sie einschlief dachte sie daran, dass sie vor zwölf Stunden unterwegs gewesen war, um den Mondstein wegzubringen. Das kleine Kätzchen hatte es sich neben ihr ebenfalls gemütlich gemacht.
Katja hatte seltsame Träume, in denen sie das Fauchen einer Katze hörte. Doch langsam wurde ihr bewußt, dass es ihr Kätzchen war. Sie wurde in dem Moment wach, als es vom Sofa sprang und dabei den Aschenbecher vom Tisch fegte. Erschreckt setzte Katja sich auf und wünschte im gleichen Moment, sie wäre noch am schlafen. Am Fenster stand die unheimliche Frau aus dem Wald. Doch heute war ein warmes Flackern in ihren Augen. „Ich danke dir. Du hast großen Mut bewiesen.“ „Warum,“ traute sich Katja zu fragen. „Warum gerade ich?“ „Weil es deine Bestimmung war. Hier ist der Anfang und das Ende. Hier wirst du weiterleben in deinen Kinder.“ „Ich muss nach Deutschland zurück. Dort ist meine Heimat.“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Heimat ist da, wo das Herz hin will. Du wirst zurückkommen.“ Dann war sie verschwunden. Katja saß noch einige Zeit bewegungslos. Das kleine Kätzchen lugte ängstlich unter dem Schrank hervor. Kopfschüttelnd stand Katja auf. „Was für eine Geschichte!“ Sie wollte zum Hafen und auf die ENEZ SUN warten. In einer halben Stunde würde das Schiff anlegen und Yann zurückbringen. Yann, der Anfang ihres neuen Lebens. Sollte das Ende mit ihm zusammen auf diesem kleinen felszerklüfteten Eiland sein, dann war es eben so. Katja konnte sich schlimmeres vorstellen. Doch jetzt lag die Zukunft vor ihnen. Glücklich radelte Katja ihrer großen Liebe entgegen.

 
Ende

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.07.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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