Jürgen Berndt-Lüders

Die neue, entscheidende Kraft

„Ich weiß nicht warum“, rief der Filialleiter der Bank und hob die Achseln. „Ihre Sicherheiten sind dürftig, sie sind im Grunde zu alt für jeden Kredit, aber ich befürworte ihn.“
 
Konrad schmunzelte in sich hinein. Die Antwort war ganz nach seinem Geschmack.
 
„Ich kann natürlich nicht allein entscheiden, aber ich habe eine Menge mitzureden, und ich denke, dass es klappt“, schob der Banker hinterher.
 
Konrad lehnte sich zurück und warf den Kugelschreiber auf die Tischplatte. „Ich weiß nicht, aber ich habe in meinem Leben schlechte Erfahrungen mit Krediten gemacht...“
 
„Und Banken  wohl mit Darlehn, die sie Ihnen gewährten“, vermutete der Banker und dachte an seine eigenen, lange zurück liegenden Erfahrungen mit Konrad. „Aber wenn es ein Projekt gibt, dass sie je in ihrem Leben angefasst haben, was viel Aussicht auf Erfolg hat, dann ist es dieses.“
 
„Das wollte ich hören“, rief Konrad, stand auf  und schob geräuschvoll den Stuhl zurück. „Also schaffe ich es auch ohne fremdes Geld.“
 
„Wie Sie meinen“, rief der Filialleiter. „Aber wollen Sie nicht zur Absicherung...“
 
„Als Joker?“, fragte Konrad. „Den brauche ich diesmal nicht.“
 
Der Banker zuckte mit den Achseln. Sowas hatte er noch nicht erlebt.
 
„Mein Joker ist mein Kopf“, murmelte Konrad, als er den Raum verließ.
*
„Und?“, fragte Herr Wurrlichen, und er sah so aus, als würde er bereits die Antwort kennen.
 
„Negativ“, sagte Konrad. „Keine Metastasen. Sie haben das böse Ding restlos weg bekommen.“
Wurrlichens Gesicht verfinsterte sich. „Sie wissen, dass es bei mir nicht so ist. Ich warte im Grunde nur noch auf den Tod. Ich frage mich, weshalb ich nicht den Mut besitze, meinem Leben rasch ein Ende zu bereiten. Als wenn ich scharf darauf wäre, irgendwann unter Schmerzen zu verrecken.“
 
Konrad nahm Wurrlichens Hand. „Die Hoffnung, Herr Wurrlichen, ist eine der größten Antriebskräfte des Menschen.  Ohne sie wäre Amerika nicht entdeckt worden, ohne sie würde niemand rauchen...“
 
Wurrlichen lachte bitter. „Da haben Sie recht. Wie oft habe ich verlauten lassen, dass mein Großvater rauchenderweise über neunzig geworden sei, wenn mich jemand auf meine Qualmerei ansprach.“
 
„Ich habe mich wohl rechtzeitig checken lassen“, vermutete Konrad.  „Sie haben einfach Pech gehabt.“
 
„Nicht nur Pech“, rief Wurrlichen, der sich freute, mit jemandem über seine Krankheit reden zu können, der nicht nur vor Mitleid triefte, sondern der eigenes durchgemacht hatte. „Mein Opa hat auf dem flachen Lande gesunde Luft geatmet. Er hat ein-, zwei Zigarren pro Tag geraucht, und ich rauche...“
 
„...Sie rauchen immer noch?“
 
„Ja, jetzt kommt es doch nicht mehr darauf an. Ich wohne an einer dicht befahrenen Hauptstraße der Großstadt. Da kommt eins zum anderen. Abgase, Teer...“
 
Wurrlichen hatte Tränen in den Augen.
 
„Und was machen Sie jetzt? Wo Sie wissen, dass Sie gesund sind? Das Leben in vollen Zügen genießen?“ fragte Wurrlichen, schon um sich abzulenken.
 
Konrad überlegte. „Auf meine Art schon irgendwie, wenn wohl auch nicht auf die übliche...“
*
„Bist du verrückt?“, fragte  Beate. „Selbst, wenn du im Moment alles super überstanden zu haben scheinst, ist es doch nicht gesagt, dass die nächste Untersuchung nicht doch wieder was ergibt. Genieße den Tag. Du bist Rentner, du hast Zeit, niemand braucht dich wirklich, nur du brauchst dich selber.“
 
Konrad lachte. „Schwesterherz, nun setz dich mal ein Stündchen zu mir, und ich erzähle dir eine selbst erfundene Geschichte.“
 
Beate winkte ab. „Dass du fabulieren kannst, wissen wir beide. Sag mir lieber, weshalb du dich entschlossen hast, jetzt, wo du alt wirst, noch so viel zu arbeiten.“
 
„Genau das werde ich jetzt tun“, sprach Konrad in tiefstem Ernst. Er holte zwei Rotweingläser aus dem Schrank, die er seit Jahren nicht mehr benutzt hatte, wischte sie mit einem sauberen Geschirrtuch aus, entkorkte eine Flasche guten Weins und schenkte ein.
*
„Es war einmal ein Mann“, begann er. „Der hatte das Glück, in einer Zeit und einer Welt geboren zu sein, in der er seine eigenen, selbst bestimmten Dinge tun und seine Schlüsse daraus ziehen konnte.
 
Als er an einem Punkt angekommen war, der für ihn ein Endpunkt hätte sein können, der aber glücklicherweise nur eine kurze Verschnaufpause auf dem Wege bedeutete, vielleicht die letzte,  resumierte er sein Leben und fühlte in sich hinein.
 
Ich habe zwei entscheidende Fehler gemacht, stellte der Mann fest. Erstens habe ich meine beiden Ex-Frauen und die gemeinsamen Kinder als Einheit gesehen. Die Dummheit, die der Staat begeht, nämlich die Früchte der Liebe, solange sie existiert, automatisch den Frauen zuzuordnen, habe auch ich begangen.  Kaum waren meine Ehen zuende, habe ich meine Verantwortung für die Kinder vernachlässigt. Wahrscheinlich deshalb, weil ich Angst vor weiteren Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit hatte, sprich mit den Frauen, mit denen es zuende war.
 
Der andere Fehler war, mir durch mein Verhalten Freunde erkaufen zu wollen. Ich habe mich bei meinen entscheidenden Aktionen im Leben immer dann zurück gezogen, wenn es darum ging, wer den Löwenanteil an einer gemeinsamen Beute erhalten sollte: der andere oder ich. Ich habe dem anderen stets kampflos überlassen, was mir zugestanden hätte. Ich war ja der Starke, der immer noch Möglichkeiten besaß, die er jederzeit wahr nehmen konnte. Und weshalb in Wirklichkeit? Damit er mir wohl gesonnen war. Und war er mir wohl gesonnen? Nein.“
 
„Ich bin dir doch wohl gesonnen“, rief Beate empört.
 
„Du erkennst dich also wieder“, rief Konrad und lächelte. „Aber lass mich weiter berichten. Schließlich bist du nur ein Mosaiksteinchen in meinem Leben, wenn auch ein manchmal sehr liebes.“
 
Er tätschelte ihre Hand und versuchte, der Situation die Schärfe zu nehmen.
 
Konrad sah ein, dass es keinen Sinn mehr machte, seine eigene Geschichte in Form einer anderen Person zu schildern und brachte seine Erkenntnisse von nun an direkt und unmissverständlich.
 
„Jeder ist für sich selbst verantwortlich“, stellte er fest. „Solange ich fair bleibe, habe ich das Recht, das aus meinem Leben zu machen, wozu ich fähig bin. Auch wenn die Erziehung der Kirche, der Eltern und der Umgebung davon spricht, dass es edel sei, zugunsten anderer zu verzichten.“
 
Beate nickte, wenn sie auch nicht genau verstanden hatte, was Konrad meinte.
 
„Meine Ziele sind folgende“, rief er und schenkte seiner Schwester nach. „Ich werde meine Fehler an meinen  Kindern korrigieren. Meine Ex-Frauen sind nicht in der Lage, ihnen entscheidend zu helfen. Dabei wird mich nicht interessieren, ob mich die Gesellschaft dazu verpflichtet sieht oder ob die Frauen diese Hilfe wünschen.  Solange die Kinder mich wirklich brauchen.“
 
Beate nickte, wenn sie sich auch noch nicht vorstellen konnte, woher Konrad plötzlich diese Kraft zu nehmen gedachte. Sie selber war schließlich darüber unendlich glücklich, momentan nicht mehr auf  Hilfe anderer angewiesen zu sein.
 
„Zweitens möchte ich nicht irgendwann in einem Pflegeheim landen. Ich habe noch ein-, zwei Jahrzehnte vor mir, und ich weiß nicht, welche Krankheit mich näher an den Rand des Todes bringen wird. Vielleicht sind auch nur die Kräfte, die langsam nachlassen. Ich möchte in Würde und beschützt und behütet dahin gehen, und nicht das Opfer unserer gesellschaftlichen Strukturen, sprich einer überalterten Gesellschaft und den mangelnden Möglichkeiten von unterbezahlten Pflegekräften sein.“
 
Beate glaubte, eine auf sie selbst abgestimmte Bedeutung in Konrads Worten erkennen zu können. Sie hob den Blick und sah neue Perspektiven für ihr eigenes Leben.
 
„Ich soll dich also pflegen. Und wie willst du mich bezahlen?“ fragte sie, von der vermeintlichen Idee ihres Bruders angetan.
 
„Falsch vermutet“, rief Konrad schroff. „Noch habe ich Kraft und Zeit. Noch kann ich arbeiten und das verwirklichen, wovon ich schon mein Leben lang träume und wovon sogar mein Bank-Berater begeistert ist.  Ich setze nicht auf  Gefühle und Verwandtschaft, sondern auf Fakten. Und Fakt ist, dass ich demjenigen, den ich bezahle, keinen Dank schuldig bin.“
 
Beates Glas war leer, in der Flasche befand sich nur noch ein winziger Rest, und Konrad hatte noch nicht einmal am Glas genippt.
 
„Ich muss mal raus vor die Tür“, rief Beate und erhob sich kraftlos. Ihre Hand suchte in der Hosentasche nach irgend etwas.
 
„Geh nur“, murmelte Konrad und sah ihr traurig nach.
 
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.07.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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