Die Gasse war lang und dunkel. Im Grunde genommen ideal.
Er hatte sich hinter einer Mülltonne versteckt. Es stank bestialisch nach faulem Essen und schimmligen Obst, aber der Preis, denn er für dieses Unterfangen bezahlte, war mehr als einfacher Wert. Er war köstlich. Zum Anbeißen.
Das Theater würde seine Vorführung um Punkt elf beenden. Dann würden die Leute aus dem Gebäude stürmen und nach Hause gehen wollen. Alle schick angezogen, mit Smoking und Kleid, alle mit schlicht gebügelter Kleidung. Und jeder von ihnen trug Blut in sich. Jeder einzelne hatte die rote Flüssigkeit, brauchte sie zum Leben.
Er brauchte sie zum Trinken. Er grinste.
Der Vollmond war hinter einer großen, schwarzen Wolke verschwunden. Gewitterwolken türmten sich auf, verdeckten den Abendhimmel mit einer Spur der Finsternis.
Sein Grinsen wurde breiter.
Dann hörte er Stimmen.
Jetzt musste er wachsam bleiben und gut aufpassen. Er kauerte sich weiter hinter die Mülltonne, sodass nur noch seine stechenden roten Augen zum Vorschein kamen. In der Dunkelheit war es der einzige Lichtpunkt inmitten der Gasse. Aber niemand würde darauf achten.
Die Besucher, die sich diesen Abend wahrscheinlich köstlich amüsiert hatten, betraten den Gehweg abseits der dunklen Gasse auf der beleuchteten Straße. Sie lachten. Sie redeten. Niemand von ihnen sah ihn.
Die Schauspieler würden sicher zehn Minuten brauchen, bis sie sich umgezogen hatten. Solange konnte er noch warten. Die Nacht war jung, die schwarzen Wolken herrlich. Nichts würde sich zwischen ihm und seiner Beute stellen.
Nichts.
Die zehn Minuten vergingen schnell. Es dauerte nicht lange, bis die Tür mit der Glühbirne darüber aufgestoßen wurde und ein gnädiger Herr den Treppenabsatz betrat. Er hatte Alltagskleidung an. Jetzt war er gewöhnlich. Kein episches Bühnenmännchen mehr, sondern ein normaler, freundlicher Mann, abseits jegliches Rampenlichts. Aber er wartete weiterhin, hinter der Mülltonne. Der freundliche Mann machte eine schweifende Handgeste. Er bat eine Frau hinaus.
Erbeobachtete derweilen präzise. Anscheinend fühlte sich die Frau geschmeichelt. Sie betrat ebenfalls den Treppenabsatz, der freundliche Mann schloss die Tür, folgte ihr die Stufen hinunter. Am Fuße der Treppe blieben sie stehen.
Der Moment zum Zuschlagen. Für ihn.
Jetzt war es Zeit, aus der Finsternis hervorzutreten. Sein Körper bäumte sich auf, ein langes, schwarzes Gewand viel auf den Boden, sein Gesicht mit den stechenden roten Augen war unter dem Schatten der Kapuze verborgen. Er sah die Blicke – die entsetzten, überraschten und panischen Augen von der Frau und dem Mann, der Blick, wie sie ihn anstarrten, wie sie von Angst attackiert wurden. Das war seine Stunde.
Blut …
Er machte einen Schritt auf die beiden Menschen zu. Sie machten einen zurück, pressten ihre Körper an die schäbige Wand des Theaters. Sie waren gelähmt vor Angst. Zu seinem Nutzen.
Näher … kaum zwei Schritt von ihnen entfernt.
Er riss seinen Mund auf, spitze Zähne, makellos weiß, entblößte seine wahre Identität. Ihr Blut in seinem Mund –
Ein Windstoß. Von oben.
Instinktiv, blitzschnell, sprang er zurück, vollführte einen Rückwärtssalto, und landete wieder auf dem Boden. Das durfte nicht sein! Sein Plan wurde durchkreuzt!
Ein Schatten, der für die menschlichen Augen nicht sichtbar war, huschte an der Wand des Theaters entlang, hätte ihn beinahe getroffen, wenn er nicht ausgewichen wäre. In seinem dunklen Adern pumpte die Wut.
Der Schatten, der ihn beinahe getötet hätte, sprang an die Kante der Häuserwand. Über den beiden Menschen, die alles nur innerhalb weniger Sekunden wahrgenommen hatten.
Dann bretterte der Schatten – sein Feind – nieder.
Durchtrennte den Körper des freundlichen Mannes.
Und jetzt war er sauer.
Der Mann schien für einen kurzen Augenblick noch auf die schreckhafte Gestalt vor ihm zu gucken, dann – langsam gleitend, wie ein Eisbrocken – vielen seine beiden Körperhälften auseinander. Blut spritze, dem Kopf entrann eine Flüssigkeit. Die Frau schrie auf, sprang angewidert zur Seite und hielt sich die Hände vor dem Mund. Ein ausdrucksloser Blick. Ein von Schrecken besetzter Blick. Und jetzt – alles spielte sich weiterhin in wenigen Sekunden ab – schrie sie nicht mehr, sondern sie kreischte wie ein verrückt gewordenes Tier. Ihre Stimme schrill und spitz, ihr Mund endlos weit aufgerissen …
Ein weiterer Windstoß, bevor auch sie durchtrennt wurde.
Diesmal seitlich, direkt durch den Magen. Er, der geduldig gewartet hatte, jetzt aber wutentbrannt dastand, sah Blut und Mageninhalt auf den staubigen Asphaltboden klatschen. Die beiden Menschen kippten fast gleichzeitig um; so schnell war der Angriff gewesen.
Von wem war er gekommen?
Der Schatten huschte für zwei Sekunden über das Dach des Theaters, verschwand, dann ein weiterer, heftiger Windstoß; diesmal direkt hinter ihm. Er sprang zurück, machte dabei in der Luft eine Drehung.
Zwei Gestalten standen sich in der dunklen Gasse gegenüber. Er hatte rote, stechende Augen. Die anderen waren eiskalt und blau.
»Hallo Shyres«, sagte der Schatten mit den blauen Augen.
Er, Shyres, ballte seine weißen Hände zu Fäusten. Wut. Brennende Wu –
»Was tust du hier?«, fragte er seinem Widersacher.
Chron, das kalte Blauauge, wie Shyres zu sagen pflegte, grinste. »Ich war auf der Jagd.«
»Du hast sie durchtrennt.«, sagte Shyres. »Kein Biss.«
»Ich weiß.« Blauauges Stimme war ruhig. »Aber ich habe keine Menschen gejagt.«
Shyres machte einen Schritt nach vorn. »Was dann?«
»Natürlich dich, Shyres.« Ein hinterhältiges Lächeln auf Chrons Gesicht.
»Warum?«
»Weil ich deine Rasse jage, Shyres. Die Ära der Vampire ist vorbei. Die neuen Blutsauger sind vorgetreten.«
»Nur über meine Leiche!«, schrie Shyres.
»Ich glaube, dass lässt sich sogar einrichten.«, sagte Chron. Mit einem eleganten Stoß schwang er seinen Umhang zurück und präsentierte eine eiserne Klinge; ein riesiges Schwert, dessen Klinge mit feinen Rinnsalen durchkreuzt war. In diesen floss eine blaue Flüssigkeit, schimmernd, kalt.
»Nun … « Shyres zögerte. Auf ein Duell war ich nicht vorbereitet, dachte er. Im nächsten Moment brachte auch er seine Klinge zum Vorschein. Ein Zweihandschwert, massiv, mit Runen bestückt, Blut klebte an ihr.Giftiges Blut.
Die beiden Blutsauger standen sich mit erhobenem Schwert gegenüber.
Selbst die Geräusche der Stadt schienen in der kleinen Gasse verstummt zu sein.
»Für die Vampire.«, sagte Shyres.
Chron schwang seine Klinge. »Für eine neue Ära.«
Die Blutsauger rannten aufeinander zu.
Shyres rechnete mit einem weiteren Windstoß, mit einem Ausweicher hoch in die Lüfte, doch Chron vollführte lediglich einen Salto über Shyres Kopf. Dabei versuchte er einen ersten, direkten Treffer, doch der Vampir konnte rechtzeitig sein Schwert heben und den Hieb parieren. Im nächsten Moment landete Chron hinter ihm, und Shyres drehte sich, Klinge traf Klinge, sie kämpften tanzend und elegant in einer modernen, menschlichen Stadt, in der selbst die Nacht erhellt wurde durch bunte, künstliche Lichter …
Chron war es, der seine Kampfposition mit einer Schraube in der Luft verließ und an die Wand des Theaters sprang. Dort dran haftete er wie eine Spinne, ehe er Schwung holte und auf Shyres zusteuerte – dieser sprang mit einer eleganten Drehung in der Luft zur Seite und entging dem massiven Schlang, der Risse in den Asphaltboden presste, als Chron mit seinem Schwert landete.
Nun versuchte der Vampir einen getricksten Angriff: Er lief in schräger Haltung auf Chron zu, und gerade, als er einen Schlag antäuschte, sprang er mit seinem linken Fuß ab und schleuderte sich selbst gegen die Backsteinwand des gegenüberliegenden Gebäudes. Von dort aus schwang er sich blitzschnell in die Höhe, kletterte, dann sprang er erneut in die Höhe, befand sich fünf Meter über Chron, mit dem Kopf nach unten, die Klinge ausgestreckt. Er viel, schnell, doch das Blauauge sprang ebenfalls hoch und die beiden trafen sie genau einen Meter über den Boden. Die Erschütterung war tief, die Klingen vibrierten.
Beide landeten innerhalb einer Sekunde auf dem Boden.
»Niemals in meinem Leben hätte ich gedacht, das Vampire solange durchhalten.«, sagte Chron.
»Wir trinken eben das bessere Blut, Blaukopf.«
»Das Blut, das ihr uns entnommen habt?«
»Nein, denn eures würde ich niemals anrühren. Es stinkt, ist ekelig und hat keinen Geschmack. Und außerdem: Was sollen Vampire mit Sumpfmatsche anfangen?«
War da ein Zucken auf Chrons Gesicht? Ein Anzeichen von Wut und Sprachlosigkeit? Order war das nur Einbildung gewesen?
»Ihr Vampire«, sagte er. »Seit schwächer als wir. Körperlich und geistig.«
»Eine Lüge, wie sie nur aus deinem Munde kommen kann.« Tatsächlich keuchte Shyres.
»Bringen wir die Sache Zu Ende.«, sagte Chron.
Shyres nickte, erhob sein Schwert, während das Blauauge auf ihn zukam.
Und während der Vollmond am beleuchteten Abendhimmel wieder zur Geltung kam, sah niemand, außer ein kleiner Junge an seinem Fenster im dritten Stock eines Wohnhauses die zwei Gestalten, die anscheinend mit zwei großen Stöckern in der Hand in der Gasse tanzten. Der Junge kannte solche Leute. Das waren die, die immer zu viel Alkohol tranken, und dann nicht mehr denken konnten.
Der Junge wandte sich von den beiden Männern ab, die da draußen tanzten.
So sah er auch nicht den Kopf, der von einem der Schultern viel.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Marcel Hartlage).
Der Beitrag wurde von Marcel Hartlage auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.07.2010.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
t-online.de (Spam-Schutz - Bitte eMail-Adresse per Hand eintippen!)Marcel Hartlage als Lieblingsautor markieren

Schnecken queren
von Stefan Nowicki
Es handelt sich um eine kleine Sammlung von Kurzgeschichten und Gedichten in denen der Autor sich im Wesentlichen mit den Schwächen von uns Menschen beschäftigt und versucht durch die gewählte Sichtweise aufzuzeigen, wie liebenswert diese kleinen Unzulänglichkeiten unsere Spezies doch machen.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: