Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 23

Nachdem sie sich eine Weile ausgeruht hatten, drängte Grimmbart zum Aufbruch. Sein Plan stand fest. Sie würden sich weiter durch diese gigantische Höhle vorarbeiten und auf der anderen Seite nach einem Ausgang suchen, der sie eine Ebene höher bringen würde. Auf Grimmbarts Befehl hin hatte sich jeder einen Partner gesucht, da man sich in Höhlen regelmäßig mehr auf- und abwärts als horizontal bewegt und sich Hindernisse zu zweit besser überwinden lassen. Nun bewegten sie sich vorsichtig durch die bizarre Höhlenlandschaft. Der einzige, der keinen Partner hatte, war der Wühler. Dafür besaß er vier Pfoten, was den Nachteil bei weitem ausglich. Wie immer turnte er übermütig herum. Vielleicht suchte er einen neuen Knochen. Michael hoffte inständig, daß er keinen finden würde.
Das Durchqueren der Höhle gestaltete sich ungleich anstrengender als das Durchschreiten der aus dem Fels geschlagenen Gänge. Immer wieder galt es Geröllhalden zu überwinden oder steile Abhänge hinab zu rutschen.
Und mit jedem Meter, den sie zurücklegten, wurde es schlimmer. Tiefe Spalten, deren lotrechte Wände in unergründbare Tiefen hinabreichten, klafften jetzt unverhofft im Boden und verlangten von ihnen zum Teil waghalsige Sprünge. Manchmal vernahmen sie dabei unheimliche Geräusche, die aus der Tiefe bis zu ihnen nach oben drangen. Ein seltsames, rhythmisches Klopfen, das entfernt an Trommeln erinnerte und nicht nur Michael schaudern ließ. Aber auf seine Nachfrage zuckten die Zwerge nur ratlos mit den Achseln.
„Es gibt vieles in der Tiefe der Erde, wovon selbst wir Zwerge nichts wissen“, erklärte Grimmbart, als es galt, eine besonders tiefe Spalte zu überwinden. Michael hatte eine ersterbende Fackel in den Abgrund geworfen, worauf ein gräßlicher Schrei aus der Tiefe bis zu ihnen nach oben gedrungen war und selbst die unerschütterlichen Zwerge hatte blaß werden lassen.
Doch Grimmbart hatte sich schnell wieder in der Gewalt und trieb die Gefährten nun unermüdlich weiter. 
Als der Zwerg etliche Stunden später endlich eine Rast ankündigte, um ein wenig Schlaf zu finden, fiel Michael wie betäubt auf die Knie. Längst hatten sie die unheimlich Halle hinter sich gelassen und waren durch ein weiteres Labyrinth aus Gängen geirrt, nur um erneut in einer gewaltigen Kaverne zu landen.
Aber einen Aufgang hatten sie nicht gefunden.
Jeder vielversprechende Gang, den sie erkundet hatten, hatte nach kurzer Zeit an einer Geröllwand geendet.
Allmählich glaubte Michael hierin so etwas wie ein System zu erkennen. Irgend jemand hatte offenkundig gezielt alle Verbindungen zu den höher gelegenen Höhlensystemen gekappt. Notgedrungen hatte ihr Weg sie daher über steile Pfade immer tiefer in den Schoß der Erde geführt. Michael wagte schon gar nicht mehr darüber nachzudenken, auf welcher Ebene sie inzwischen gelandet waren, aber er befürchtete das Schlimmste.
Abschätzend betrachtete er Grimmbart, der mit der Axt in der Hand ein Stück abseits stand und in die Düsternis jenseits des Fackelscheins spähte.
War er zu demselben Schluß gelangt?
Michael wagte nicht, ihn danach zu fragen, aus Angst, bestätigt zu werden; denn ihm war aufgefallen, daß der Zwerg im Laufe der letzten Stunden immer schweigsamer geworden war. Glyfara, die sich neben ihm in ihre Decke einrollte, schien zu ahnen, was in ihm vorging.
„Sieht ganz so aus, als hätten wir uns endgültig verirrt“, flüsterte sie und seufzte tief. „Dieses Labyrinth macht mir allmählich Angst.“
„Glaubst du, wir kommen hier jemals wieder heraus?“
Glyfara zuckte unter der Decke mit den Schultern. Ihre Augen waren bereits geschlossen, und ihre ruhigen Atemzüge verrieten, daß sie jeden Moment ins Reich der Träume hinüber gleiten würde.
„Ich hoffe es“, murmelte sie schläfrig. „Vielleicht wird morgen ja alles besser.“
Dann war sie eingeschlafen.
„Oder der Alptraum fängt erst richtig ein“, murmelte Michael in Erinnerung an den gräßlichen Schrei, der noch immer in seinem Gedächtnis widerhallte, aber Glyfara konnte ihn schon nicht mehr hören.

Nach einer kurzen Nachtruhe, die keine wirkliche Erholung gebracht hatte, ging der Gewaltmarsch weiter. Stunde um Stunde mühten sie sich erneut durch steile, abwärts führende Gänge, passierten kleine und größere Kavernen, rutschten felsige Abhänge hinunter und drangen so immer tiefer in das gigantische Labyrinth vor.
Michael fröstelte inzwischen in der kalten Luft. Mit mißtrauischem Blick musterte er die tiefen Schatten um ihn herum in Erinnerung an ihre letzte Rast. Zwischen zwei Bissen hatte Grimmbart sie darüber informiert, daß sie die sicheren Ebenen, schon lange hinter sich gelassen hatten und sich nun im Niemandsland befanden. Irgendwo in den Weiten des unterirdischen Höhlensystems, auf das seine Vorfahren vor langer Zeit gestoßen waren und das so vielen zum Verhängnis geworden war.
In der Todeszone.
Beklommenes Schweigen war diesen Worten gefolgt.
Als Grimmbart eine halbe Stunde später zum erneuten Aufbruch befohlen hatte, hatte sich jeder verstohlen umgesehen. Aber das war auch schon wieder Stunden her, und noch immer hatten sie keinen Aufgang gefunden. Statt dessen durchquerten sie nun eine gewaltige Kaverne, dessen Ausmaße Michael noch nicht einmal erahnen konnte. Unablässig kreisten seine Gedanken um das, was Grimmbart ihnen so düster mitgeteilt hatte. Sie waren in der Todeszone unterwegs. Allein der Name war schon nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen, von den Geschichten, die er hierüber gehört hatte, ganz zu schweigen. Zu allem Überfluß stießen sie an einer Spalte, die bis zum Mittelpunkt der Erde zu reichen schien, zum ersten Mal auf die Spuren von Grimmbarts Vorfahren, die einst in diesen Hallen verschollen waren.
Zerbeulte Schilde, Rüstungen und Waffen lagen weit verstreut in einem Halbkreis nahe der Spalte verteilt. Nur von den Überresten der ehemaligen Besitzern fehlte jede Spur. Tiefe Betroffenheit senkte sich über die Gruppe, als sich jeder auf seine Weise auszumalen versuchte, was den Verschollenen vor langer Zeit zugestoßen sein mochte.
„Ein Spähtrupp, zwölf Mann stark und bis an die Zähne bewaffnet“, stellte Grimmbart mit steinerner Miene fest, während er die Überreste entlang der Spalte untersuchte, deren Abgrund ihm schwarz entgegen gähnte. „Auf was auch immer sie gestoßen sein mögen, es hat sie vollkommen überrascht und ihnen keine Chance gelassen.“
„Drachen?“, fragte Michael beklommen, worauf ein leises, Furcht erfülltes Raunen durch die Gruppe ging.
„Möglich“, räumte Grimmbart ein. „Auf jeden Fall war es gefährlich genug, um einen kampferprobten Trupp ohne Probleme auszulöschen. Das könnte für einen Drachen sprechen. Sieht ganz so aus, als könnten wir in ernste Schwierigkeiten geraten, falls es hier unten noch Nachkommen geben sollte.“
„Wir sollten vorsichtshalber unsere besten Männer auf die Flanken und die Nachhut verteilen, während wir selbst die Vorhut sichern“, schlug Streitaxt vor, worauf Grimmbart zustimmend nickte.
„Machen wir uns auf das Schlimmste gefaßt“, grollte er mit tiefer Stimme.
Erneut quälten sie sich Stunde für Stunde durch die Finsternis der unterirdischen Hallen, aber entgegen ihrer Befürchtungen stießen sie auf keine Drachen oder sonstige Kreaturen. Sie schienen alleine hier unten unterwegs zu sein. Gleichwohl war Michaels Stimmung inzwischen auf ihrem Tiefpunkt angelangt. Fast schon apathisch setzte er einen Fuß vor den anderen und begann sich zu fragen, ob er das Tageslicht jemals wieder sehen würde. Derart in trübsinnige Gedanken versunken, dauerte es daher einen Augenblick, bevor er realisierte, daß sich etwas verändert hatte.
„Seid mal alle still“, forderte er seine Weggefährten auf, während er stehen blieb und lauschte. „Ich höre ein seltsames Geräusch.“
Sofort griffen alle nach ihren Waffen und horchten ebenfalls.
„Wasser“, kommentierte der Wühler das kaum wahrnehmbare Geräusch. „Fluß.“
„Klingt nicht gut“, stöhnte Glyfara. Die Aussicht, einen reißenden Fluß zu durchqueren, fehlte gerade  noch, um ihr den Tag endgültig zu verderben.
„Von einem Fluß ist mir nichts bekannt“, murmelte Grimmbart unbehaglich. Als Zwerg hatte er eine tiefe Abneigung gegen Wasser. Unverhoffte Wassereinbrüche in den Minen hatten in der Geschichte der Zwerge immer wieder eine hohe Anzahl von Todesopfern gefordert und dazu geführt, daß sie jede Art von Wasser mieden. Böse Zungen behaupteten, dies würde sogar für das Wasser in Waschtrögen gelten. Auf jeden Fall war die Aussicht, möglicherweise einen reißenden Fluß zu durchqueren, nicht dazu geeignet, die Stimmung aufzuhellen.
Beunruhigt setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung. Nach und nach nahm das Grollen nun zu, bis es schließlich so laut war, daß sich die Gefährten nur noch schreiend verständigen konnten. Schließlich erreichten sie das steile Ufer eines gut fünfzehn Meter breiten Flusses, der im rasanten Tempo ihren Weg kreuzte und sich in beide Richtungen in der Dunkelheit verlor. Die aufsteigende Gischt durchnäßte schnell ihre Kleidung.
„Ich schätze, hier endet unser Weg. Da kommen wir nie hinüber“, brüllte Michael über das laute Rauschen des Flusses hinweg.
„Selbstmord“, pflichtete der Wühler ihm bei. Grimmbart hingegen schwieg, aber sein Gesicht sprach Bände. Als Anführer oblag es ihm, eine Entscheidung zu treffen, und das war alles andere als leicht.  So, wie es aussah, durchschnitt der Fluß die Höhle in ihrer ganzen Breite. Also hatte er nur zwei Alternativen. Umzudrehen, oder einen Weg hinüber zu suchen. Die erste Alternative entfiel, kam sie doch einer Niederlage gleich. Also verblieb nur die zweite, zumal Grimmbart überzeugt davon war, daß sich bereits seine Vorfahren bei der Erkundung dieses Höhlenabschnitts mit diesem Problem auseinandergesetzt haben mußten. Vielleicht hatten sie irgendwo eine Brücke gebaut.
Fragte sich bloß, wo?
Vielleicht waren sie aber auch auf der Flucht vor einem Drachen bei der Überquerung dieses Flusses alle ertrunken und deshalb nie zurückgekehrt. Diese Alternative war nicht gerade aufbauend.  Grimmbart gab sich innerlich einen Ruck. Hier weiter herumzustehen und zu grübeln würde ihn nicht weiter bringen. Die Worte seines alten Lehrers kamen ihn in Erinnerung: Ist das Terrain fremd, gehe immer davon aus, daß die Gefahr an jeder Ecke lauert und halte dich nie zu lange an einem Ort auf, es sei denn, du hast keine andere Wahl.
„Wir folgen dem Flußverlauf und suchen nach einer Stelle zum Überqueren. Vielleicht gibt es irgendwo eine alte Brücke oder zumindest eine bessere Möglichkeit zur Flußüberquerung“, gab er seine Entscheidung bekannt. Die anderen nickten zustimmend und folgten dem Zwerg, der bereits sich bereits über das kiesbestreute Ufer vorarbeitete.
„Optimist“, brummte der Wühler, dann schloß er sich kopfschüttelnd der Truppe an.

Die Nerven des Wandlers lagen blank. Seit einer halben Ewigkeit waren sie nun schon in diesem endlosen Labyrinth unterwegs, und noch immer waren die verfluchte Elbin und ihre Gefährten außer Reichweite. Etliche Male hatte ihre Spur plötzlich in einem verschütteten Gang geendet. Nur der guten Nase der Schnüffler war es zu verdanken gewesen, daß sie ihre Spur wiedergefunden hatten. Leider hatten diese Verzögerungen den Vorsprung der Verfolgten gewaltig ausgebaut.
Mißmutig streifte sein Blick die Schnüffler, die ein paar Schritte voraus wie Schatten durch die gewaltige Kaverne glitten, die Nasen dicht am Boden. Die Überreste eines Lagers bestätigte ihnen, daß sie auf der richtigen Spur waren, auch wenn diese immer tiefer in den Schoß der Erde hinab führte. Als Geschöpf der Finsternis machte dies dem Wandler zwar nichts aus, allerdings glaubte er, hier unten eine Präsenz zu spüren, die sogar ihm und seinen Gehilfen gefährlich werden könnte.
Eine Präsenz von einer einschüchternden Intensität, die besonders stark an einigen der im Boden klaffenden Spalten zu spüren gewesen war.
Selbst die Schnüffler wirkten verunsichert. Tief geduckt schlichen sie über den unebenen Boden und warfen immer wieder verstohlene Blicke nach links und rechts, als würden sie den Angriff eines ihnen weit überlegenen Wesens erwarten.
Angesichts der Wehrhaftigkeit der Schnüffler war dies kein besonders beruhigender Anblick.
Ein unangenehmer Gedanke ging dem Wandler durch den Kopf. Was wäre, wenn die schwarze Steinplatte gar nicht dem Zweck diente, den Zugang in dieses Gewölbe zu verschließen, sondern vielmehr etwas davon abhalten sollte, nach draußen zu gelangen? Falls dies zutraf, brachte er sich und seinen Trupp möglicherweise in große Gefahr.
Verärgert ballte er die Klauen. Er hatte keine Wahl. Sollten seine Widersacher ruhig noch tiefer in dieses Gewölbe fliehen. Er würde sie trotzdem finden, ungeachtet der Gefahren, die hier unten lauern mochten. Wie zur Bestätigung wandte ihm der Rudelführer in diesem Moment sein schweres Haupt zu und knurrte einmal tief und kehlig.
Sie hatten aufgeholt.
Der Wandler nickte zufrieden und beschleunigte seinen Schritt. Schon bald würde er seiner verhaßten Widersacherin Auge in Auge gegenüberstehen, und dann würden ihre Schreie durch dieses Labyrinth hallen.
„Beeilt euch“, zischte er ungeduldig, worauf die Schnüffler leise grollten. Ihr Jagdinstinkt war trotz der bedrückenden Atmosphäre wieder erwacht.



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.07.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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