Andrea Tittel

Verschwommene Lines

Lange Tage, die immer länger werden. Obwohl die Sonne jeden Morgen eine Minute später über die trockenen Bäume schaut. Um am gleichen Abend zwei Minuten früher wieder zu gehen. Lange Tage, an denen ich mich auf den Tag nicht nur freue, es ist mehr. Es ist die Erwartung auf ein Ausbrechen aus meinem Leben. Ein Tag lang darf ich ich sein ohne Fragen beantworten zu müssen, ohne zu überlegen, wie ich meinen Fuß stelle, meinen Arm lege, meinen Kopf setze. Eine Chance meinen Körper zu spüren wie ich ihn anspanne, entspanne und völlig erschöpft im Zug einschlafe. An dem Tag ist für mich Tabula Rasa.

 

Neon, Glitzer, Augen, Hände, Verkleidungen, Lachen. Menschen, Enge, Dunkelheit und ein Funken Angst vor der Masse. Ein Tunnel. „Es kommen bestimmt weniger als erwartet.“ „Wo ist denn der Ausgang? Der Eingang ist der Ausgang!“ Die Angst verschwindet unter der Verkleidung. Die Musik lässt meine Gedanken tanzen, die Musik lässt uns alle vergessen. Ob die Männer und Frauen in Grün auch so denken?

 

...Morgen - in 24 Stunden ist alles schon vorbei. Dann darf ich zurück gehen in mein Leben. Die offizielle Maske ablegen, durchschlafen. Und im nächsten Jahr wieder hier stehen und die Schauspieler in Neon in die richtige Richtung führen...

 

Überall lachende Augen, offene Münder und das Gefühl der Freiheit. Manchmal auch von Pulverschnee starre Augen, die die Lines in Richtung Bewusstlosigkeit genommen haben. Die Verbingungen hinter der Stirn werden bewusstlos, deswegen sind die Augen so leer. Das glaube ich nicht, das weiß ich. Ich schmecke den bitter-herben Geschmack, den ich so liebe, auf meiner Zunge und weiß: alles wird gut. Ich will tanzen, nur tanzen, lass mich einfach tanzen. Jetzt bin ich angekommen.

 

Die Sonne steht schräg am Himmel. „Die machen jetzt schon schlapp – da tanzt gar keiner mehr!“ „Egal – wir umso mehr!“ Und es geht weiter, die Musik ist lange schon weg und wieder da – sie ist schon längst in uns zu spüren und ohrenbetäubend laut. So laut, dass ich taub bin für die Stimmen in mir. „Die machen nicht schlapp, schau doch: die Gesichter sprechen mit dir. Andere machen schlapp.“ Tunnel. Dunkelheit. Doch die Angst ist längst begraben unter der tanzenden Masse. Die Sonne schaut noch ein letztes Mal über die Staubwolken des tanzenden Platzes und verschwindet dann mit erschrockenen Augen an diesem Tag für immer. Wo sind die Grünen?

 

...Erstarrt beweglich nennt sich der Zustand. Benannt von dem verwirrten Geist, der nur noch helfen will und den eigenen Schutz vergisst. Bis ich das Blut rieche, schmecke, fühle. SEHE. Und die Augen geöffnet lasse. Morgen – in 24 Stunden ist wirklich alles ganz schrecklich vorbei...

 

Erstarrte Menschenaugen – doch nicht von Lines erstarrt. Es ist ein anderes Gefühl, etwas, das hier nicht hin passt. Was ist das, das ich so gut kenne und bei den anderen nicht wiedererkenne. Was ist das, was so fremd scheint. Und dann wird alles verschwommene ganz klar. Das weiße etwas in meinen Händen sagt mir „Du hast Empfang – trau dich auszubrechen – hol die Infos aus der richtigen Welt ein!“ Ich mache es. Und alles bleibt still. Niemand gibt mir was ich möchte, alle schauen sich in die vollen Augen. Ich merke: das sind auch meine Augen. Ich habe Empfang! Ich habe Empfang! Warum darf ich trotzdem nicht wissen, was los ist?

 

Viele lange Stunden, angsterfüllte Stunden für die Menschen, die nicht wissen, wer noch auf dem staubigen Schotterplatz ist. Liegt. Steht. Nicht wie die langen Tage bei mir: aufregende Stunden. Sondern viele lange Stunden voller Angst – lebt sie noch? Keine Verbindung in die wirkliche Welt. Nach Hause telefonieren. 2010 ist das unmöglich. Dann die Gewissheit von anderen Augen: eine Million Menschen sind wütend, kommen nicht rein. Die Lines und der bitter-herbe Geschmack lassen bei ihnen alles verwischen – auch die Grenzen zur Realität und der Gewissheit „Ich bin sicher“. Sie sind es nicht. Merken es. Ich spüre es. Der Ausgang ist der Eingang in die Falle, der Eingang ist der Ausgang für 10 Leben. 14. 15. 18. 19.

 

10 Anrufe, 8 SMS. Meine verwirrten Gedanken werden wirr, erst die Gespräche machen das Gehörte zum Passierten. Die Sonne ist vergessen, der bitter-herbe Geschmack im Mund einem faulen gewichen. Ekel. Feiern und sterben, Freiheit wird zu einer noch größeren Freiheit. Die Liebe schlägt in Hass um. Neon wird zu schwarz. Zwei Parallelwelten treffen für mich zum ersten Mal parallel in einer Welt aufeinander. Und die verschwommenen Lines werden zu verschwommenen Lines werden zu verschwommenen Lines werden zu verschwommenen Lines.

 

...die Schauspieler in Neon sind Statisten. Wir haben hier die Hauptrolle – und zwar die des Feindes. Helden sind keine da. Noch nicht mal ein Anti-Held. Und ich wünsche mir, dass die Masken wieder aufgesetzt werden. Die Schauspieler in Neon wieder zu den Menschen ohne Gesichtern werden. Ich wünsche mir, dass es ein Theater für ein Tag bleibt. Sollen sie feiern, glitzern, all das machen, was ich nicht verstehe. Aber sie sollen nicht gehen, wie sie gegangen sind. Ohne einen Hauch von Chance. Und ohne einen Hauch in ihren Lungen. Auch noch 24 Stunen später...

 

Lange Tage, die ich mich auf eine Katastrophe gefreut habe. Lange Stunden an dem einen Tag, an dem ich die Augen geschlossen hatte. Es hätte nichts geändert. Nicht für die Sonne, die jeden Tag später kommt und früher geht. Oder die Menschen, die nie wieder kommen und gehen. Aber für mich. Oder vielleicht doch nicht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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