Inhalt:
Heilig Abend. Du sitzt mit deiner Mutter und der Familie deiner besten Freundin im Wohnzimmer und wartest. Wartest darauf, dass du aus einem Albtraum aufwachst, der dich zu lähmen scheint. Man sagt dir, dass deine Freundin entführt worden ist und dass der Entführer Geld erpressen möchte. Doch ist es wirklich nur das Geld, dass ihn zu so einer grausamen Tag antreibt?
Es war Heilig Abend und die idyllischen Wohnhäuser unserer Siedlung waren zentimeterdick mit glitzerndem Schnee bedeckt. Wir saßen im Wohnzimmer und schwiegen uns an. Ich sah die Tränen in den Augen von Rays Mutter Anna. Sie glitzerten wie der Schnee draußen vor dem Fenster. Der Weihnachtsbaum sah trostlos aus, unbeleuchtet und bereits abgeschmückt. Uns war nicht zum Feiern zumute. Die Bilderbuchatmosphäre - das Gebäck auf dem Tisch, die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum, die Kerzen auf dem Adventskranz - sie trügte. Ich bemerkte, wie mir schon wieder die Tränen in die Augen schossen. Um mich abzulenken starrte ich auf die große Wanduhr. Vor genau sechs Stunden und vierzig Minuten war die erste Nachricht eingetroffen. Wir waren dabei, das Esszimmer zu schmücken und warteten auf Ray, die noch mal in den Supermarkt wollte, als der Anruf kam. Anna war nach dem Telefonat in der Küche zusammen gebrochen. Wir hörten sie weinen und meine Mutter lief zu ihr. Ich legte die Teelichter auf dem Tisch ab und kam nach. Anna saß auf dem kalten Küchenboden und zitterte am ganzen Körper, während sie haltlos schluchzte. „Um Himmels Willen, Anna, was ist denn passiert?“ fragte meine Mutter besorgt. „Ray ... das war ... sie ist entführt worden. Bitte ... wo ist Mark?“ Ihre Stimme hörte sich fremd an und die Sätze, die sie formte, waren so weit weg und unrealistisch, dass ich es nicht begreifen konnte. Entführt? Ray? Ich brachte keinen Ton mehr heraus, obgleich tausend Fragen in meinem Kopf kreisten. Meine Mutter ließ Anna auf dem Boden zurück und rannte nach draußen um Mark, Rays Vater, zu rufen, der im Garten die letzten Lichterketten anbrachte. Als Anna ihm weinend erzählte, dass ihr eine Tonbandstimme eiskalt unterbreitet hatte, dass sich ihre Tochter in der Gewalt eines Entführers befand und dass die Familie so schnell es ging, 300.000 Euro auf ein angegebenes Konto überweisen sollte. Man drohte ihr, Ray etwas anzutun, wenn das Geld in spätestens zwei Stunden nicht angekommen war oder wenn die Polizei verständigt wurde, hatte er sichtlich Mühe nicht wie seine Ehefrau die Fassung zu verlieren. Nach nur wenigen Minuten war es entschieden, sie wollten die Polizei einschalten. Circa zehn Minuten später traf diese dann mit einem ganzen Ensemble bei uns ein. Es wurden allerlei Vorbereitungen für die Telefonabhörung getroffen und man versuchte Rays Eltern so gut es ging, zu beruhigen. Man überprüfte die angegebene Kontonummer, fand heraus, dass es ein Auslandskonto war und seit vier Jahren auf einen gewissen Herrn Fahl zu gelassen war, der allerdings vor mehreren Monaten gestorben war. Dass das Konto nicht gesperrt wurde, sah die Kriminalpolizei als Versehen an. Der leitende Inspektor entschied dann, auf einen weiteren Anruf zu warten. Denn wenn Rays Eltern das Geld tatsächlich überweisen würden, hatten sie keine Garantie, dass der oder die Entführer Ray tatsächlich laufen ließen. Nur eine Stunde später kam der Anruf. Man hatte versucht mich nach Hause zu schicken, aber ich hatte mich mit Händen und Füßen gewehrt. Ich hätte es nicht ausgehalten, zuhause zu sitzen und nicht zu wissen, was mit Ray war, auch wenn unser Haus direkt an das von Rays Familie angeschlossen war. Die Polizisten kümmerten sich schließlich nicht mehr um mich und wir hörten das Gespräch mit. „Sie haben einen gewaltigen Fehler begangen! Wir sind nicht blind! Sie haben gegen unsere Anweisungen die Polizei eingeschaltet. Überlegen Sie sich gut, ob Sie in Zukunft unsere Anweisungen befolgen oder ob sie möchten, dass es Ray noch schlechter geht!“ sagte eine Art Tonbandstimme, die sich wohl für immer in mein Gedächtnis gebrannt hat. „Was heißt noch schlechter?“ fragte Anna mit bebender Stimme. Mark legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. Auch er hatte Tränen in den Augen und seine Hände zitterterten merklich. „Nach ihrem unüberlegten Entschluss die Polizei einzuschalten, mussten wir schließlich irgendwie dafür sorgen, dass Sie sich ihren nächsten Entschluss besser überlegen. Aber keine Panik, ihre Tochter wird es schon überleben, vorrausgesetzt sie befolgen jetzt unsere Anweisungen.“ Ich konnte nicht glauben, was ich das mitanhörte. Man kannte genau diese Szenarien sehr gut aus dem Fernsehen oder aus Romanen. Dass dies alles real war, versuchte ich nicht an mich heranzulassen. „Natürlich! Wir tun, was sie wollen!“ versuchte Mark den Entführer zu beschwichtigen. „Schön! Dann sind wir uns ja einig! Passen Sie gut auf ... Sie werden 300.000 Euro um 19h00 im hiesigen Bahnhof in einer Reisetasche in den Gepäckwagon des ICE nach München stellen. Ich warne Sie! Keine Tricks! Kein Polizist in Zivil der die Reisetasche unauffällig begleitet. Kein GPS-Sender. Keine versteckten Kameras. Läuft irgendetwas schief, dann schwöre ich Ihnen, dass Sie Ihre Tochter, wenn überhaupt, nur schwerverletzt wiedersehen! Wir hören voneinander!“ Dann knackte es in der Leitung. Der Techniker, der versucht hatte, den Anruf zu orten, schüttelte entschuldigend den Kopf. „Tut mir Leid, keine Ortung möglich!“ Inzwischen war es 19h15. Man hatte beschlossen, einen Gegenangriff zu starten, wenn Rays Eltern auch nicht ganz davon überzeugt waren. Es blieb ihnen keine andere Möglichkeit, denn so hatten sie keine Versicherung, dass die Entführer Ray tatsächlich gehen ließen. Mark hatte die Reisetasche mit dem Geld zum Bahnhof gebracht und in den Zug nach München gestellt, ein Polizist in Zivil hatte sich schon einige Haltestellen vorher in den Zug gesetzt und sollte den verhaften, der die Tasche mitnahm. Zudem postierte man an jeder Haltestelle Polizisten, die überwachen sollten, ob jemand die Tasche aus dem Gepäckabteil nahm. Ich hatte solche Angst um Ray. Was sie jetzt wohl durchmachen musste?
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Als er den Raum betrat, indem sie sie gefangen hielten, war sie noch bewusstlos. Er betrachtete sie zufrieden. Sein Plan war perfekt. Er hatte keine Fehler, nicht wie die Pläne der Kriminellen in schlechten Kinofilmen oder Romanen, die grundsätzlich ein Happy End hatten. Die Sache würde kein Happy End haben, jedenfalls nicht für die Guten der Geschichte. In dieser Geschichte würde das Böse siegen, dessen war er sich sicher. Sie sah aus wie ein Engel. Blonde Locken, strahlend blaue Augen, die wie im Schlaf geschlossen waren. Sie spielte die Hauptrolle in seiner Geschichte. Zusammen mit ihm. Sie war eine perfekte Hauptrolle für eine perfekte Geschichte. Ein perfekter Plan ohne Mängel. Sie war die Unschuld in Person. Zarte siebzehn, unbekümmert und voller Lebensfreude. Er hatte sie in letzter Zeit lange beschattet. Fast überall, zu fast jeder Zeit. Genau wie ihre ahnungslos gewesenen Eltern. Ahnungslos waren sie mittlerweile nicht mehr. Sie waren eingeweiht in einen kleinen, jedoch eher unwichtigen Teil seines Plans. Doch es war zu spät, viel würden sie an dem Schicksal ihrer Tochter nicht mehr rütteln können. Der Atem der kleinen Blonden wurde unruhiger. Bald würde sie aufwachen. Er kniete sich vor sie und war nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, als sie die Augen aufschlug. Erschrocken wollte sie zurückweichen, doch die Wand hinter ihr verhinderte es. Ihre Hände waren mit schmalem Draht gefesselt. „Wer sind Sie? Wo bin ich hier?“ fragte sie mit schwacher Stimme. „Keine Panik, wenn du dich ruhig verhälst, geschieht dir nichts!“ log er. Sein eigentlicher Plan sah jedoch etwas anderes vor. Er hatte sich erst gar nicht die Mühe gemacht, sein Gesicht vor ihren Augen zu verbergen, denn sie würde sowieso nicht die Gelegenheit dazu haben, es irgendjemandem zu beschreiben. „Lassen Sie mich hier raus! Was wollen Sie von mir?“ Ihre Stimme zitterte. „Das kann ich dir noch nicht sagen, erst mal müssen wir abwarten!“ antwortete er in gespielt väterlichem Ton. „Was abwarten?“ Die Kleine wurde immer unruhiger. Ihre gefesselten Hände zitterten, ihre blauen Augen waren vor Angst geweitet. „Das wirst du schon noch sehen ..!“ sagte er ruhig, dann verließ er den Raum wieder und sperrte hinter sich ab. Er musste sich jetzt erst um ihre Eltern kümmern. Es war 19h15. Vor einer viertel Stunde musste ihr Vater die Geldtasche in den ICE nach München gestellt haben. Er war sich sicher, dass die Polizei ihre helfenden Hände da drin hatte. Er hatte sie gewarnt.
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Ray zitterte am ganzen Körper. Ob der Grund dafür die beißende Kälte in diesem dunklen Kellerraum war oder die Angst, die ihr die Kehle zuschnürte, wusste sie nicht. Was wollte dieser Typ bloß von ihr? Als sie aufgewacht war, saß er direkt vor ihr. Seine dunklen, fast schwarzen Augen, starrten sie an, wie ein Raubtier, das genüsslich seine Beute betrachtet. War sie seine Beute? Oder nur ein Mittel zum Zweck? Was hatte er vor? Sie zog sich ihren Wintermantel enger um den schlanken Körper. Ihre Hände und Lippen waren vor Kälte bereits blau angelaufen. Wie gebannt starrte sie an die eiserne Tür. Was würde er tun, wenn er wieder kam? Ihr kamen alle möglichen Horrorszenarien in den Sinn, die sie im Fernsehen gesehen oder in Büchern gelesen hatte. Doch das hier war pure Realität. Um sich abzulenken, versuchte sie sich daran zu erinnern, was passiert war. Sie war von zuhause weggegangen, um die Mittagszeit, um im Supermarkt noch ein paar Sachen zu besorgen, die für das abendliche Festessen noch gefehlt hatten. Sie wusste auch noch, dass sie sich nach dem Einkauf auf den Weg nach Hause gemacht hatte, doch dann war plötzlich alles wie ausgelöscht. Warum war sie bewusstlos gewesen? Was hatte er mit ihr gemacht? Und was er hatte noch mit ihr vor? Sie versuchte nicht auf die Bilder zu achten, die sich in ihrem Kopf zu einer grausamen Geschichte zusammenfügten. Es gelang ihr nicht. Sie wusste nicht, wie viel Uhr es war. Es gab im Raum kein Fenster und sie hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Vielleicht war sogar der nächste Tag, der erste Weihnachtsfeiertag, schon angebrochen. Was ihre Eltern und Marie jetzt wohl machten? Wussten sie schon, wo sie war? Mit ihrer besten Freundin, mit der sie seit Kindheitstagen ein Herz und eine Seele war, deren Mutter und ihren Eltern wollte sie heute Heilig Abend verbringen. Es war das erste weiße Weihnachten seit fünf Jahren und sie saß in einem Kellerverlies, festgehalten von einem wahrscheinlich geisteskranken Entführer. Würde sie ein weiteres Weihnachten womöglich gar nicht mehr erleben? Sie hatte sein Gesicht gesehen. Seine starren Augen, seine markanten Züge, sein ganzes, unheimliches Erscheinungsbild. Er war erstaunlich jung. Höchstens 30. Was geschah hier nur? Welches kranke Spiel wollte dieser Typ mit ihr spielen?
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Nach einer halben Stunde traf Mark endlich wieder bei uns ein. Sein Gesicht war trotz der Kälte leichenblass. Leichenblass ... Was hatte dieser Entführer mit Ray vor. Er würde sie noch nicht etwa umbringen? Bei diesem Gedanken liefen mir die Tränen lautlos über die Wangen, die sich die ganze Zeit angestaut hatten. Meine Mutter nahm mich in den Arm. Ich wünschte mir so sehr, dass Ray jetzt bei uns saß und mit uns Weihnachten feiern konnte. Ein kindischer Gedanke kam in mir auf. Das erste weiße Weihnachten seit fünf Jahren und Ray wurde irgendwo von einem geldgierigen Entführer festgehalten. „Das Geld ist also jetzt im Zug nach München. Aber ich verstehe das nicht. Er muss sich doch denken können, dass wir die Tasche beschatten. Er schickt womöglich einen Kumpanen, um die Tasche zu holen. Wir verfolgen ihn, greifen ihn aber nicht an. Vielleicht führt er uns zu dem Versteck, wo sie Ihre Tochter gefangen halten.“ erklärte ein Polizist. Die weitere halbe Stunde, die verging, bis das Telefon zum dritten Mal an diesem Tag klingelte, kam mir vor wie eine Ewigkeit. Doch dann bemerkten wir, dass es nicht der Festnetzanschluss war. Es war das Handy des leitenden Beamten. Nach einem kurzen Gespräch drückte er ab. „Das war ein Kollege. Die Geldtasche wurde schon bei der nächsten Haltestelle dem Zug entnommen. Unsere Leute sind dem Mann gefolgt. Ganz in der Nähe des Bahnhofs ist er in ein Bürogebäude gegangen. Wir haben ihn festgenommen. Er sagte aus, dass er einen privaten Versanddienst leite und dass er die Tasche so lange behalten solle, bis sie jemand abholen würde. Wir haben ihn wieder zurück geschickt und beschatten sein Gebäude. Sobald jemand die Tasche abholt, schlagen wir zu.“ berichtete der Beamte. Anna schlug die Hände vor dem Kopf zusammen. Wir alle befürchteten jetzt, dass der Entführer wusste, dass Rays Eltern wieder die Polizei eingeschaltet hatten. Unsere Befürchtung bewahrheitete sich nur zehn Minuten später, als wieder das Festnetztelefon klingelte. „Ich habe Sie gewarnt! Wir haben unsere Augen überall. Habe ich nicht gesagt, keine Polizei!? Sie haben meinen armen Lieferanten wohl ganz schön erschreckt. Der wusste natürlich nicht, was sich in der Tasche befindet. Er hatte bloß einen Auftrag von mir. Aber glauben Sie nicht, ich hätte im Ernst daran gedacht, dass ich dieses Geld in dieser Reisetasche wirklich bekomme. Das war ein ganz simpler Test. Ein Test, ob Sie jetzt in der Lage sind meine Anweisungen zu befolgen! Scheinbar nicht! Öffnen Sie in fünf Minuten ihre E-Mailposteingang. Sie werden dann unter Anderem neue Anweisungen erhalten!“ Sofort legte er auf. Ich drückte mich fest an meine Mutter. Ich konnte immer noch nicht glauben, was sich vor meinen Augen abspielte. Anna hatte sich erschöpft und weinend auf die Couch fallen gelassen, während Mark, den Telefonhörer immer noch in der Hand, wie versteinert aus dem Fenster starrte. Seit wir denken konnten, kannten wir uns. Ray und Ich. Wir haben so viel zusammen erlebt. Wir waren überhaupt nicht auseinander zu kriegen. Wie haben uns so gut wie nie gestritten und wenn dann nur wegen Kleinigkeiten. Ich habe mich immer gefragt, ob es so etwas wie Seelenverwandtschaft gibt. Heute glaube ich, dass wir seelenverwandt waren. Sie hat mir sofort angesehen, wenn ich Probleme hatte. Wir haben zusammen gelacht und zusammen geweint. Was, wenn ich sie jetzt nie wieder sehen würde? Ich konnte diesen Gedanken nicht vertreiben, egal wie sehr ich es versuchte. Was würde in dieser E-Mail stehen? Wann würden wir endlich aus diesem Albtraum aufwachen?
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Er hatte es gewusst. Er war sich sicher gewesen, dass die Polizei weiterhin mitspielte. Das änderte jedoch nichts an seinem Plan. Auch die Polizei konnte ihn nicht aufhalten. Sein Plan war bis ins Äußerte durchdacht. Als er von seinem Kollegen den Anruf bekommen hatte, dass die Polizei dem nichts ahnenden Lieferanten gefolgt war, wusste er was zu tun war. Jetzt wurde es ernst. Es war an der Zeit, in die nächste Runde zu gehen. Er hatte ihre Eltern angerufen, um sie auf die bald eintreffende Mail hinzuweisen. Dann war er zu der Kleinen in den Kellerraum gegangen, um den Inhalt der E-Mail vorzubereiten. Sie hatte um Hilfe geschrieen und versucht sich zu wehren. Sie hatte keine Chance. Er hatte so lange auf sie eingetreten bis er selbst außer Atem war und die Kleine zusammen gekauert am Boden lag und keine Kraft mehr hatte, um sich gegen ihn zu wehren. Die Kleine ... Ihm gefiel der Ausdruck, obwohl sie schon fast eine junge Frau war. Für seinen Plan brauchte er keine junge Frau. Das passte nicht ins Konzept. Es gefiel ihm besser, sie „die Kleine“ zu nennen. Sie weinte nicht, sie wimmerte nicht und versuchte auch nicht, beschwichtigend auf ihn einzureden. Er wusste nicht, ob er das nun gut oder schlecht finden sollte, machte sich aber nicht weiter Gedanken darüber. So, wie sie da lag, blutend und völlig entkräftet, fotografierte er sie. Ohne ein weiteres Wort, verließ er den Kellerraum. Oben lud er die Bilder auf den Computer und schickte sie mit einem kleinen Text an die recherchierte E-Mail-Adresse von ihrem Vater. Vielleicht würden es die letzten aktuellen Bilder sein, die er von seiner Tochter sehen konnte.
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Genau fünf Minuten nach dem Anruf traf die E-Mail ein. Meine Mutter wollte nicht, dass ich dabei bin, wenn Mark sie öffnet. Aber seit einigen Wochen war ich 18 und entschied, dass ich es nicht über mich bringen würde, ahnungs- und tatenlos zuhause rumzusitzen. Mit zittrigen Fingern führte Mark den Zeiger zum Button „E-Mail lesen“ und drückte. Der Anblick, der sich uns dann bot, hat sich wie die Tonbandstimme für immer in mein Gedächtnis gebrannt, auch wenn es Minuten dauerte, bis ich realisierte, was ich da sah. Ray lag auf dem Boden. Sie hatte Platzwunden im Gesicht, die teilweise stark blutenden. Man konnte nicht richtig erkennen, ob sie die Augen geöffnet oder geschlossen hatte. Aber sie stützte sich mit dem Ellenbogen auf dem Boden ab, was uns sagte, dass sie zum Zeitpunkt der Fotografie noch gelebt haben musste. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet. Ihre Hände mit Draht gefesselt. „Oh mein Gott ...!“ schluchzte Anna und verbarg ihr Gesicht an Marks Brust. „Beruhigen Sie sich, Frau Sander! Wir finden ihre Tochter, glauben Sie mir!“ versuchte ein Beamter Rays Mutter zu beruhigen. Der Techniker schüttelte wieder entschuldigend den Kopf, so wie bei jedem vorhergegangenen Anruf. Er konnte nicht herausfinden, von welchem Anschluss die E-Mail stammte. Dann las Mark mit schwacher Stimme den Text vor. „Jetzt haben Sie gesehen, wozu ich fähig bin! Wir starten noch einen Versuch. Aber dieses Mal richtig! Mark ... Sie setzten sich ins Auto ... Alleine. Sie werden dort weitere Anweisungen erhalten! In einer halben Stunde geht’s los!“ „Wir verkabeln Sie, dann können wir Sie per GPS verfolgen.“ schlug ein Beamter vor. „Nein! Diesmal machen wir keine Fehler! Ich gehe allein und ohne GPS-Sender. Ich will nicht riskieren, dass die meiner Tochter noch mehr antun!“ Anna hob irritiert den Kopf. Ich konnte sie verstehen. Ihre Tochter war schon in der Hand dieser Verrückten und jetzt wollte sich auch noch ihr Ehemann in die Höhle des Löwen wagen. „Mark, tu’ das nicht! Die Polizei kann uns ...!“ setzte sie an, doch Mark unterbrach sie. „Die Polizei hat uns genug geholfen! Hast du nicht gesehen, was dabei heraus gekommen ist? Ich will und kann nicht riskieren, dass unserer Tochter etwas zustößt!“ Mark wurde laut. Beschwichtigend legte Anna eine Hand auf seinen Arm, doch er entzog ihn ihr. Ein Beamter wollte ansetzen, etwas zu sagen, doch Mark ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich will nichts davon hören! Ich werde fahren und zwar ohne Ihre Hilfe!“ „Wissen Sie eigentlich, in welche Gefahr Sie sich und ihre Tochter damit bringen! Was ist, wenn der Entführer Ray behält und noch mehr Geld erpresst.“ sagte der Techniker mit fester Stimme. Er hatte Recht. Alleine hatte Mark keine Chance gegen den Entführer. Er könnte problemlos das Geld nehmen und mit Ray wieder verschwinden, oder er hatte Ray erst gar nicht dabei. „Dann können wir es immer noch mit Sender und allem drum und dran machen!“ protestierte Mark. „Mark ... setz das Leben unserer Tochter nicht aufs Spiel, vertrau der Polizei!“ versuchte Anna ihn zu überzeugen. Es dauerte eine Weile, bis sich Mark, die Hände über dem Kopf, in den Sessel fallen ließ. „Also gut ... vielleicht hast du Recht. Dann müssen wir uns jetzt aber beeilen!“ Mark wurde so schnell es ging verkabelt und dann sahen wir zu, wie er sich in sein Auto saß. Er hörte die Anweisungen der Polizei durch einen Empfänger im Ohr. Anna, meine Mutter und ich hörten mit. Man schickte einige Polizisten in Zivil los, um dem Auto von Mark unauffällig und abwechselnd zu folgen. Im Auto wurde ein Mikrofon installiert, falls Mark, womöglich über sein Handy mit dem Entführer sprechen würde. Nach circa zwei Minuten hörten wir ein Handy klingeln. „Hallo?“ hörten wir schließlich Marks Stimme. „Das ist unmöglich! Das Geld ist noch bei ihrem Lieferanten. So schnell bekomme Ich kein Geld von der Bank!“ Nur kurze Zeit später Marks dritter „Monolog“. „Dazu muss ich wieder die Polizei einschalten und das wollten Sie doch nicht!“ „Schalten Sie das Handy auf Freisprechen!“ sagte einer der Beamten, der mit einer Art Headset hinter mir stand. Mark setzte die Aufforderung um, denn wir hörten plötzlich wieder die bekannte Tonbandstimme. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. „Es ist mir egal, wie Sie das Geld beschaffen, aber tun Sie es! Wenn Sie es haben, fahren Sie in die Ravensbacher Schwimmhalle. Dort entnehmen Sie Spint 17 eine neue Reisetasche, in die sie das Geld füllen, die alte Reisetasche, falls Sie das Geld so besorgen, lassen Sie dort. Dann melden Sie sich wieder, indem Sie einfach auf Die Rückruftaste drücken!“ Dann legte er auf. „Hören Sie zu, Mark, Sie fahren jetzt zu dem Lieferanten, wir beschreiben Ihnen den Weg. Sie nehmen das Geld und befolgen die Anweisungen des Entführers. Ich vermute, er will irgendwo einen Tausch abhalten. Das Geld gegen ihre Tochter!“ sagte der Beamte mit dem Headset schließlich.
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Sein Plan schien tatsächlich aufzugehen. Aber das hatte er von vorne herein gewusst. Er fragte sich, was ihr Vater wohl tun würde, wenn er wüsste, dass ihm die Polizei getrost zur Seite stehen konnte. Es würde seiner Tochter auch nichts bringen. Doch das sollte er erst etwas später erfahren. Sie waren alle so blind, dass sie nicht erkannten, was er eigentlich im Schilde führte. Aber wieso auch. Sie kannten seine Hintergründe schließlich nicht. Noch nicht. Vielleicht sollte er der Kleinen mal wieder einen Besuch abstatten.
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Mit aller Kraft versuchte sie sich aufzusetzen. Sie fühlte, wie das warme Blut von der Wunde an ihrer Augenbraue über die Wange bis zum Kinn hinunter lief. Ihre Rippen schmerzten und sie hatte Mühe zu atmen. Sie hatte das Gefühl, dass es immer kälter wurde, denn sie spürte ihre Finger kaum mehr. Warum hatte er das getan? Sie zusammengeschlagen, um sie dann zu fotografieren? Der Gedanke, der ihr kam, ließ sie erschaudern. Er wollte doch nicht etwa ihre Eltern erpressen!? Sie hatten sowieso nicht viel Geld. Wieso hatte er ausgerechnet sie ausgesucht? Als sie den Schlüssel in der Tür hörte, zuckte sie zusammen. Er kam herein und grinste über das ganze Gesicht. Ein selbstgefälliges, krankes Grinsen. „Lassen Sie mich in Ruhe!“ Sie brachte fast keinen Ton mehr heraus. „Warum sollte ich?“ entgegnete er und setzte sich ihr gegenüber. „Was wollen Sie von mir? Wollen Sie mit den Fotos meine Eltern erpressen?“ sprach sie ihre Befürchtung aus. „Erpressen ist vielleicht nicht das richtige Wort ... ich würde eher sagen, ich erteile ihnen eine Lehre!“ Seine Stimme ließ sie stärker frieren, als die Minusgrade in diesem Kellerraum. „Was wollen Sie damit sagen?“ fragte sie mit zitternder Stimme. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, streckte er seine knochige Hand nach ihr aus und legte sie sanft auf ihre Schulter. Ein merkwürdiger Schmerz verteilte sich von der Stelle, an der er sie berührte, über ihren ganzen Körper. Als würde seine Berührung ihre Haut verbrennen. „Fassen Sie mich nicht an!“ zischte sie und versuchte sich seinem Griff zu entziehen. Er ließ sie los. „Ich bin ein Scheusal, ich weiß. Aber meine Vergangenheit hat mich zu dem gemacht, was ich bin!“
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Mittlerweile war Mark an der Schwimmhalle angekommen. Er hatte die Reisetasche geholt und war jetzt auf dem Weg zu dem Lieferanten, der noch das Geld hatte. Während er über Funk mit der Polizei sprach, die sich im Wohnzimmer niedergelassen hatte, bemühte ich mich, das Zittern in meinen Händen zu unterdrücken. Wenn der Entführer schon bei der Tasche im Zug bemerkt hatte, dass die Polizei sie verfolgt, wieso sollte er es dann jetzt nicht wieder können? Was würde er tun, wenn er heraus fand, dass Mark und Anna seine Anweisungen immer noch nicht richtig befolgten. Würde er Ray noch mehr Schaden zufügen? Zuzutrauen wäre es ihm. Auch wenn es sich jetzt im Nachhinein vielleicht weit hergeholt anhört, irgendwie habe ich in meinem tiefsten Innersten geahnt, dass der Entführer nicht nur auf das Geld aus ist. Es war ein schreckliches Gefühl sich darüber Gedanken zu machen. Würde ich Ray womöglich nie wieder lebend sehen? Aber noch war es nicht vorbei. Noch war nicht alles verloren. Vielleicht bildete ich es mir nur ein und der Entführer wollte tatsächlich nur das Geld und ich würde Ray schon bald wieder in meine Arme schließen können. Anna weinte immer noch. Ein Polizist wollte ihr eine Beruhigungstablette anbieten, aber sie hatte abgelehnt. Als mich die Gedanken an Ray und ihren Entführer fast zerrissen, bin ich aufgestanden und habe den Weihnachtsbaum abgeschmückt. Es war für Anna und meine Mutter wohl das Trostloseste, was ich hätte machen können, aber ich konnte es einfach nicht ertragen, die bunten Kugeln und Lichter am Baum anzusehen. Doch als ich den Baum abgeschmückt hatte, ließ mich ein grauenhafter Gedanke erzittern. Hatte ich etwa wirklich schon die Hoffnung aufgegeben? Hatte ich deshalb den Baum abgeschmückt ... weil ich erwartete, dass wir dieses Jahr sowieso keine Kraft mehr hatten, Weihnachten zu feiern? Dass Ray nicht wieder kam und auch nie wieder mit uns unter Tannenbaum die Geschenke auspacken würde? Es war, als hätte ich mit dieser sinnlosen Handlung, mir und all den Menschen im Raum, ob sie Ray nun kannten oder nicht, die Hoffnung genommen, dass sie wieder kam.
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Er wunderte sich immer noch darüber, dass ihr Vater und deren Freunde und Helfer, die hirnlosen Beamten in mittlerweile blauer Uniform, immer noch nicht begriffen hatten, was sein eigentlicher Plan beinhaltete, als es Zeit war Mark wieder anzurufen. „Das haben Sie gut gemacht! Ich habe Sie beobachtet, als Sie bei meinem Lieferanten die Tasche abgeholt haben. Die Polizei hat Ihnen geholfen, ja!? Na dann hoffe ich, dass sie sich jetzt zurück gezogen haben ... Hören Sie zu: Sie fahren jetzt Richtung Regensburg. Die dritte Ausfahrt biegen Sie ab. Fahren Sie nicht zu schnell, denn Sie müssen noch von der Abfahrt abbiegen, um auf einen Feldweg zu gelangen, der in einem Wald endet. Wenn Sie dort angelangt sind, rufen Sie mich an. Dann erkläre ich Ihnen die weitere Vorgehensweise. Wir hören voneinander.“ Ihr Vater hatte kein Wort gesprochen, bis er auflegte. Er hörte, dass er etwas sagen wollte, aber er ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Du wirst schon sehen, was du von deiner blinden Gerechtigkeit hast!“ sagte er flüsternd in die geschlossene Leitung.
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Wie gelähmt starrte sie unentwegt auf die metallene Tür, die sie von ihrem Entführer trennte. Was würde er mit ihr machen, wenn er wieder kam. Was hatte er damit gemeint, als er sagte, er wolle ihnen eine Lehre erteilen? Wofür? Was hatten ihre Eltern mit diesem Unmensch zu tun? Sie hoffte inständig, dass er sie nicht als Lockmittel benutzte, um später ihren Eltern etwas anzutun. Doch egal wie sehr sich anstrengte, um endlich auf eine Lösung zu stoßen, es gelang ihr nicht. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was dieser Mann mit ihr oder ihren Eltern vorhatte. Sie war müde, aber sie wagte nicht, die Augen auch nur für wenige Sekunden zu schließen.
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Als Mark das nächste Mal anrief – es waren mindestens zwanzig Minuten vergangen – hörten wir, dass er weinte. Seine Stimme bebte und er brachte kaum einen Ton heraus. Wie ein Kind vergrub ich mein Gesicht an der Brust meiner Mutter. Was war geschehen? War die Übergabe fehlgeschlagen, obwohl die Polizisten Mark auf wenige Meter gefolgt waren? Oder hatte es gerade deshalb ein Problem gegeben? Hatte er, wie ich vermutet hatte, doch gemerkt, dass die Polizei immer noch mitspielte? Der Polizist hatte nach den ersten Worten von Mark den Lautsprecher ausgeschaltet. Wir konnten nicht mehr mithören. Das war vielleicht auch gut so, denn Anna hatte nur wenige Minuten vorher einen Nervenzusammenbruch erlitten und musste jetzt gezwungenermaßen ein Beruhigmittel einnehmen. Viel mehr hätte sie wohl nicht vertragen. Und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es vertragen hätte. Trotzdem wollte ich wissen, was geschehen war. Ich wollte aufstehen, um einen der Polizisten zu fragen, doch mein Körper schien seine eigenen Pläne zu haben. Ich fühlte mich plötzlich so ausgelaugt, so zittrig, dass ich keine Kraft mehr hatte, aufzustehen. Ich kämpfte mit aller Gewalt gegen dieses Gefühl an, aber es war nichts zu machen. Endlich kam einer der Polizisten auf uns zu und setzte sich auf den Sessel uns gegenüber. „Es tut mir schrecklich Leid Ihnen das mitteilen zu müssen, aber die Übergabe ist fehlgeschlagen. So wie es aussieht hat der Entführer nie vorgehabt, das Geld anzunehmen. Er hat ihrem Mann befohlen die Geldtasche in einen Tümpel zu werfen und dann wieder umzukehren. Aber ich verspreche Ihnen, wir tun alles, um ihn zu finden!“ Wie so oft an diesem Tag konnte ich wieder nicht glauben, was ich da hörte. So seltsam, es sich anhört, aber ich konnte es wirklich nicht. Wenn man solche Geschichten – ob erfunden oder nicht – im Fernsehen sieht, dann tun einem die Betroffenen, beziehungsweise Darsteller zwar Leid, aber man lässt es eben nicht an sich heran. Die Allerwenigsten machen sich Gedanken darüber, was wäre, wenn ihnen so etwas zustoßen würde. Ich brauchte mir keine Gedanken mehr darüber zu machen. Ich war mittendrin. Und es war die Hölle. Das Beruhigungsmittel verhinderte zwar, dass Anna einen weiteren Nervenzusammenbruch erlitt, aber man sah ihr an, wie schlecht es ihr ging. Ich wollte mir erst gar nicht vorstellen, wie es Ray erging, wenn sie überhaupt noch lebte. Warum konnte ein einziger Mensch so viel Schaden anrichten? Wie konnte er uns nur so etwas antun? Erst machte er Rays Eltern die Hoffnung, dass sie ihre Tochter unbeschadet wiedersahen, wenn sie zahlten und jetzt hieß es, dass alles umsonst war, weil er Ray sowieso nicht mehr hergeben würde. Ich fragte mich zum hundertsten Mal an diesem Tag, was er vorhatte. Wollte er sie aus purer Gewaltlust umbringen oder gedachte er irgendeinen Nutzen aus ihrer Entführung zu ziehen?
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Endlich. Er hatte es ihrem Vater gesagt und es war genau die Reaktion eingetreten, die er sich erhofft hatte. „Warum? Warum gerade unsere Tochter? Was haben wir Ihnen getan?“ hatte verzweifelt ins Telefon geschrieen. Das würde er noch früh genug erfahren. Dann wenn die leeren, starren Augen seines Engels in den kalten, klaren Nachhimmel gerichtet waren und dennoch keinen einzigen Stern mehr erblicken konnten. Es war Zeit der Kleinen einen weiteren Besuch abzustatten, um ihr endlich mitzuteilen, was ihr Schicksal für sie aus dem Ärmel zaubern würde.
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Als die Metalltür klickte und ihr Entführer herein trat, zuckte Ray heftig zusammen. „Na, na, na ... was ist denn los? Hast du etwa Angst vor mir?“ Ray gab keine Antwort. Sie unterdrückte das Klappern ihrer Zähne, aber beim Zittern ihrer Hände hatte sie keine Chance. „Ich finde, es ist Zeit, dir mitzuteilen, wieso du eigentlich hier bist! Wie bereits erwähnt, will ich deinen Eltern durch deinen Tod eine Lehre erteilen!“ Sie starrte ihn entgeistert an. Hatte er gerade „Tod“ gesagt. Er hatte das Ganze so beiläufig vorgetragen, als handele es sich um eine unbedeutendere Information, als ein Todesurteil. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz wolle ihr aus dem Hals springen. So heftig pochte es. Nur mit viel Überwindung konnte sie sich dazu durchringen, ihm die Frage zu stellen, die ihr auf den Lippen brannte. „Aber wieso? Sie haben doch nichts getan!“ Sie bekam fast keinen Ton heraus, ihre Stimme war heiser. „Bist du sicher, dass du das wirklich wissen möchtest?“ fragte er und grinste breit. Das Ganze machte ihm Spaß. Ray nickte vorsichtig. „Deine Eltern haben mir meine Tochter weggenommen und weißt du, was sie dadurch erreicht haben? Elly ist tot. Und wieso? Weil deine Eltern der Überzeugung waren, meine Ex könnte besser für sie sorgen, als ich.” Ray verstand nicht. Was hatten ihre Eltern mit dem Sorgerecht dieses Mannes zu tun? „Sie waren Geschworene beim Gerichtsverfahren, vor zehn Jahren. Das haben sie dir nicht erzählt? Habe ich mir gedacht, na ja, jetzt weißt du ja, wofür du dein Leben lassen musst.“
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Ray lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er wollte sie tatsächlich umbringen. Kurz hatte sie das Gefühl, als bekäme sie keine Luft mehr und fühlte einen stechenden Schmerz in der Rippengegend, als sie tief einatmete, doch sie erholte sich recht schnell. Mit glasigen Augen sah sie ihn an. Wie konnte jemand nur so grausam sein? Ihre Eltern hatten sich damals mit Sicherheit nicht böswillig gegen ihn entschieden. Sie hatten bestimmt ihre Gründe. Hatten sie?
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Mark schaffte es nur noch taumelnd ins Wohnzimmer. Dann fiel er auf die Knie und stützte schweigend den Kopf in die Hände. Wir mussten sie finden. Wir konnten doch nicht einfach zu lassen, dass dieser Unmensch sie umbrachte. Er hatte kein Recht dazu, niemand hatte ein Recht dazu. Ich musste mir wirklich Mühe geben, um nicht ständig loszuheulen. Immer wieder versuchte meine Mutter mich dazu zu überreden, dass ich nach drüben ging. Aber ich blockte ab. Ich war hellwach, überdreht, aber hellwach, obwohl es mittlerweile schon ein Uhr war. „Was tun wir denn jetzt?“ fragte Anna. Ihre Stimme war nur noch ein Piepsen. „Unsere Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Wir geben unser Bestes!“ gab ihr ein Beamter zur Antwort. „Aber wir können doch nicht einfach nur hier rumsitzen!“ warf Mark vorwurfsvoll ein. In dem Moment kam mir eine Idee. Ich verabschiedete mich mit den Worten „Bin gleich wieder da“ und verschwand in unser Haus, schaltete den PC ein und machte mich daran, meine Idee umzusetzen. Ich suchte ein deutliches Bild von Ray, setzte es auf ein Textdokument und tippte darunter „GESUCHT! Wenn Sie dieses Mädchen (17 Jahre, 1m70 groß, blonde Haare, grün-blaue Augen, durchschnittliche Figur, schwarze Jeans, blauer Pullover) gesehen haben oder anderweitige Hinweise zu ihrem Aufenthaltsort haben, so melden Sie sich bitte umgehend bei de Polizei! Danke!“ Dann druckte ich das Dokument 65 mal aus und ging damit wieder zurück. „Ich geh die hier ausfahren! Ist das okay?“ fragte ich an einen Beamten gewandt, hielt das Blatt hoch und hörte, wie meine Stimme zitterte. Der Beamte überlegte kurz, warf einen Blick zu meiner Mutter und nickte dann zustimmend. „Ja, aber fahr vorsichtig. Sei in einer halben Stunde wieder da!“ sagte er. Ich gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und rannte zum Auto. Ich stieg ein und drehte den Schlüssel. Meine Hände wollten kaum meinen Anweisungen folgen. Aber ich musste mich jetzt zusammen reißen. Auf der Straße war noch recht viel los. Schließlich war es Heilig Abend und um diese Uhrzeit fuhren viele von den Familienfesten nach Hause. In jeder Straße hing ich ein Plakat auf und rief nach einer halben Stunde meine Mutter an, um ihr zu sagen, dass ich länger brauchte. Es gab noch keine Neuigkeiten. Es war eiskalt und meine Lippen waren trotz Heizung, Skijacke, Schal und Handschuhen bereits blau angelaufen. Was Ray jetzt empfand? Konnte sie überhaupt noch etwas empfinden? Bei diesem Gedanken schossen mit die Tränen in die Augen. Die Straße verschwamm vor meinen Augen und als dann plötzlich mein Handy klingelte, erschrak ich so, dass ich in die Gegenfahrbahn lenkte und gerade noch so eine Vollbremsung schaffte, bevor ich mit einem anderen PKW zusammen stieß, der wild hupte, aber weiter fuhr. Ich lenkte vorsichtig zurück auf die rechte Fahrbahn und hielt am Straßenrand an. Es war eine SMS.
*
So langsam ging sein Plan in die letzte Runde und damit rückte ihr Tod immer näher. Obwohl er sich darauf freute, fand er dieses Gefühl gleichzeitig abstoßend. Ihr weh zu tun war leicht gewesen. Aber sie gleich umzubringen? Er hatte ihrer Freundin die SMS geschrieben. Sie würde in einer drei viertel Stunde eintreffen, wenn sie die Aufforderung in der Nachricht befolgte. Hoffentlich vor der Polizei, dem Krankenwagen und ihren Eltern. Sie würde nichts mehr für ihre beste Freundin tun können. Genauso wenig, wie ihre gerechtigkeitsliebenden Eltern. Jetzt hatten sie ihre Gerechtigkeit. Er wusste, was er tat. Er war nicht verrückt. Alles war durchdacht und es würde gelingen. Jetzt erst Recht.
*
Nachdem ich die Nachricht auf meinem blau beleuchteten Handydisplay gelesen hatte, habe ich es fallen gelassen und war erst mal unfähig etwas zu tun. Heute mache ich mir ständig Vorwürfe, dass ich in diesem Augenblick vielleicht zu lange gezögert habe. Es begann zu schneien und es kam mir vor, wie eine Ewigkeit, bis meine Frontscheibe komplett zu geschneit war und ich es endlich schaffte meine Mutter anzurufen. Meine Stimme klang fremd, als ich ihr erklärte: „Mum? Schalt auf Freisprechen! Ich habe eine SMS bekommen. Moment, ich lese sie vor: Wenn du deine Freundin wieder sehen willst, dann fahr jetzt los und warte auf die nächste SMS! Beeile dich, jede Sekunde zählt.“ Meine Mutter sagte erst mal gar nichts. „Nina, hör zu ... du tust, was er sagt und gibst uns sofort Bescheid, wenn er dir wieder schreibt, außerdem sagst du uns wo du lang fährst, wir schicken jemanden, der dir folgt!“ meldete sich jetzt ein Beamter. Ich stimmte zu und fuhr los. Ich hatte keine Ahnung in welche Richtung, und bemerkte erst, dass ich in die Falsche gefahren war, als ich die nächste SMS bekam. „Wahner Straße“ stand da. Ich konnte von Glück reden, dass ich ein Navigationssystem im Auto hatte. Ich rief die Polizei an und teilte ihr den Hinweis mit. Wo blieb nur diese verfluchte Polizei. In der Wahner Straße hielt ich an. Keine SMS. Kein Anruf. Ich wartete. Ich wartete auf eine Nachricht und auf einen Polizeiwagen, der hinter mir auftauchte. Nichts geschah. Plötzlich kam eine Gestalt aus der Dunkelheit auf mich zu. Instinktiv verschloss ich die Türen von innen. Er stellte sich direkt neben mein Fenster und zog eine Waffe aus der Tasche. Sein Gesicht war maskiert. Ich konnte nur seine dunklen Augen mit dem stechenden Blick erkennen. Mein Puls raste. „Das Handy! Gib es mir durch den Fensterspalt!“ sagte er laut und klopfte mit der Waffe gegen das Fenster. Mir blieb keine andere Wahl. Mit zittrigen Händen öffnete ich das Fenster und gab ihm das Handy in die Hand. Sofort kurbelte ich das Fenster wieder hoch. „Du fährst diese Straße durch, am Ende biegst du links ab und dann immer weiter gerade aus, die erste rechts und dort am Ende einen Waldweg entlang. Dort findest du deine Freundin. Ich warne dich, ich folge dir. Komm nicht auf dumme Gedanken!“ Mit diesen Worten verschwand er wieder. Ich startete das Auto und fuhr den beschriebenen Weg. Nachdem ich am Ende der Straße abgebogen war, fuhr direkt hinter mir ein schwarzer Jeep. Er schien mir wirklich zu folgen. Ich hatte Angst, aber ich wollte zu Ray. Dieser Wunsch war stärker. Immer noch war keine Polizei zu sehen. Wieso brauchten sie so lange? Es dauerte zehn Minuten, bis ich am besagten Waldweg ankam. Ich schaltete das Fernlicht an, um etwas zu sehen. Ich kam nur einige Meter weit, doch mein Auto würde von der Straße aus, bereits nicht mehr zu sehen sein, dann drehten die Räder meines Kleinwagens durch und ich blieb im tiefen Schnee stecken. Der Fahrer des Jeeps stieg aus und kam auf mich zu. Es war der Mann mit der Waffe von eben. Er klopfte ans Fenster. „Von hier kannst du zu Fuß weiter gehen. Immer gerade aus! Ich bin dann weg! Viel Erfolg!“ sagte er und grinste. Er sah krank aus. Ich stieg erst aus, als er den Rückwärtsgang eingelegt hatte und davon bretterte.
*
Er hatte sie ins Auto geschleift und ihr den Mund mit einem Klebeband verbunden. In ihrer Tasche steckte der Zettel. Es würde ihre letzte Autofahrt werden, dachte er beiläufig. Im nahegelegenen Waldstück warf er sie unsanft auf den Boden. Sie versuchte sich zu wehren, aber sie kam nicht gegen ihn an. Schließlich lehnte sie sich verzweifelt an einen Baum. Sie zitterte. „Es tut mir Leid, Kleines. Aber du warst schon seit deiner Geburt hier für bestimmt! Ich wünsche dir alles Gute!“ sagte er mit gespielt sanfter Stimme. In Wirklichkeit drohte sein Vorhaben an seiner Nervosität zu scheitern. Er zog die Waffe aus der Tasche und richtete sie auf ihren Oberkörper. Ihre Augen waren vor Angst geweitet, Tränen glitzerten auf ihren Wangen, verzweifelt schüttelte sie den Kopf. „Gute Nacht, Kleine!“ sagte er kalt und drückte ab. Ihre schmaler Körper zuckte kurz, dann schlossen sich ihre Augen. Er hatte sich vorher immer wieder klargemacht, dass er sich vergewissern musste, dass sie wirklich tot war, aber er brachte es nicht über sich. Ein letzter Blick auf „seine Kleine“. Aus der Schusswunde im Brustkorb strömte das Blut. „Frohe Weihnachten“ flüsterte er und stieg in sein Auto, um davon zu rasen. Sein Plan war vollendet.
*
Als er die Waffe aus der Tasche gezogen hatte, war sie sich sicher. Er würde sie umbringen. Ein schreckliches Gefühl der Machtlosigkeit stieg in ihr auf. Warum nur? Immer wieder diese Frage? Was hatte sie denn getan? Sie wollte noch nicht sterben. Sie war noch so jung. Sie hatte ihr ganzes Leben vor sich. Sie hatte keine Kraft, um weg zu rennen, als er sie aus dem Auto stieß. Sie hätte die Chance dazu gehabt, aber sie schaffte es nicht mehr. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen. „Du musst kämpfen!“ hatte sie sich eingeredet, aber umsetzen konnte sie es nicht. Sie hatte es versucht. Auf allen vieren war sie zum nächsten Baum geschlichen, um sich dort auf die Beine zu hangeln. Er hatte zugesehen. Wie ein kleiner Junge, der einen auf dem Rücken liegenden Käfer beobachtet, aber nichts unternimmt. Als sie sich schließlich erschöpft an den Baum gelehnt hatte, zog er die Waffe. Er zögerte nicht lange. Kurz bevor er abdrückte, fühlte sie eine endlose Leere in ihrem Kopf. Keine Fragen, keine Zweifel, keine Ängste. Es war zu spät. Sie konnte nichts mehr daran ändern. Sie schloss die Augen. Die Kugel, die nur Millimeter neben ihrem Herz einschlug, bemerkte sie kaum. Ein dumpfes Geräusch drang an ihre Ohren und sie wurde für den Bruchteil einer Sekunde gegen den Baum geschleudert. Das warme Blut, das über ihren Körper lief, fühlte sie erst, als ihr Entführer ins Auto gesprungen war und Gas gegeben hatte. Sie versuchte den Zettel aus der Innentasche ihrer Weste zu ziehen, den er dort platziert hatte, aber sie hatte keine Kontrolle mehr über ihre Arme. Sie konnte sie nicht mehr bewegen. Sie zitterte vor Kälte, langsam verschwamm der dunkle Wald vor ihren Augen. Es war Weihnachten, die Nacht, in der der Heiland geboren wurde. Eine Träne lief über ihre Wange. Dann hörte sie schnelle Schritte. Sie würden nicht mehr rechtzeitig kommen.
*
Ich hatte eine Taschenlampe im Auto gefunden und rannte jetzt geradeaus durch den verschneiten und dichten Wald. Die kalte Luft brannte in meinen Lungen. Und dann erkannte ich sie. Ich hätte sie fast übersehen. Wäre fast an ihr vorbei gerannt. Sie lag da, die Augen geschlossen, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt. Ich lief zu ihr und kniete mich neben sie. Ihre Lippen waren blau, ihre Haut weiß wie der Schnee. Und dann sah ich die Wunde. Entsetzt schlug ich die Hand vor den Mund. „Ray!“ wollte ich schreien, doch es kam nur ein Flüstern heraus. Ich zog meinen Schal aus und drückte ihn auf die blutende Wunde. Dann legte ich ihr meine Jacke um und steckte ihre leblosen, steif gefrorenen Finger in meine Handschuhe. Ich legte den Kopf an ihre Schulter und begann haltlos zu schluchzen. „Danke!“ hörte ich plötzlich jemanden flüstern. Es konnte unmöglich von Ray kommen. Erschrocken wich ich zurück. Sie hatte die Augen geöffnet, ihre stahlblauen Augen waren glasig und nur halb geöffnet. Sie lebte. „Oh Ray, Gott sei Dank, du lebst!“ schrie ich begeistert. „Mir ist kalt!“ flüsterte sie kaum hörbar. Ich zog die Jacke enger um ihren Körper. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte kein Handy mehr und weit und breit war keine Menschenseele. Langsam schloss sie wieder die Augen. „Nein, Ray! Nein, bleib bei mir!“ sagte ich verzweifelt und strich ihr über den Kopf. „Ich kann nicht mehr ...“ Ihre Worte waren nur noch ein Hauch. „Nein, Ray. Nicht aufgeben!“ versuchte ich verzweifelt, sie am Leben zu halten.
„Du hast versprochen, dass du mich nie alleine lässt. Ray, ich brauche dich!“ schrie ich sie an. „Ich werde immer bei dir sein ... es ... tut ... mir ... Leid!“ Ihre letzten Worte hallten wie ein Echo in meinem Kopf wieder. Ihre Hand in meiner verlor die Spannung. „Nein!“ schrie ich und schluchzte haltlos. „Komm zurück!“ Doch sie kam nicht zurück. Ihr Lächeln war für immer von ihren Lippen verschwunden, der Glanz ihrer Augen für immer erloschen. Ich fühlte mich wie in Trance. Ich schlang meine Arme um ihren leblosen Körper und krallte mich an ihr fest, als hätte ich Angst, dass sie gehen könnte. Sie war gegangen. Grausam aus dieser Welt gerissen. Es dauerte ewig, bis ich die Sirenen der Polizei hörte. In dem Moment hätte ich mir gewünscht, dass sie mich nie gefunden hätten und ich in dieser Nacht bei Ray erfroren wäre.
Polizisten in Schutzwesten und mit Helmen sprangen aus den schwarzen Bussen und rannten auf uns zu. Mansche liefen vorbei, um den Wald nach dem Täter zu durchsuchen. Einer der Polizisten schrie „Hierher! Schnell!“ Ein Sanitäter und ein Notarzt kamen. Der Sanitäter zog mich von Ray weg. Ich leistete keinerlei Widerstand, alles kam mir vor, wie im Film. Der Notarzt prüfte den Puls, dann schüttelte er enttäuscht den Kopf, begann aber sofort mit den Reanimierungsmaßnahmen. Nur wenige Minuten später trafen Rays Eltern ein. Als Anna ihre Tochter sah, brach sie in den Armen ihres Mannes zusammen. Ein weiterer Sanitäter kümmerte sich um die beiden. Irgendjemand legte mir eine Decke um und hob mich hoch. Dann hörte ich die Stimme meiner Mutter. „Nina, alles wird gut, mein Schatz!“ sagte sie sanft und strich mir über den Arm. Nichts würde gut werden. Ray war tot. Was sollte jetzt noch gut werden? Im Krankenhaus spritzte mir ein Arzt ein Beruhigungsmittel. Niemand sagte etwas. Obwohl ich keine Hoffnung hatte, dass der Notarzt es geschafft hatte, Ray wieder zu beleben, traf mich die Aussage „Wir konnten nichts mehr für sie tun!“ wie ein spitzer Pfeil. In zwei Decken gehüllt, fuhr mich meine Mutter nach Hause. Ich fror trotzdem und ich bezweifelte, dass es je wieder warm werden konnte. Nur durch zwei Beruhigungs- und ein Schlafmittel, konnte ich schlafen. Mit einem Foto von meiner besten Freundin im Arm.
*
Heute ist ihr zweiter Todestag. Mit tränennassem Gesicht sitze ich unter „unserer“ Eiche im Garten. Es ist der erste Weihnachtsfeiertag. Es hat geschneit, aber der Schnee ist nicht liegen geblieben. In meiner zittrigen Hand halte ich meine Trauerrede, die ich an ihrer Beerdigung gehalten habe. Ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich sie vermisse. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an sie denke. So gut wie keine Nacht, in der ich nicht mit Tränen in den Augen aufwache. Es ist schwierig, sehr schwierig. Aber warm geworden ist es trotzdem wieder. Auch wenn ich es nie für möglich gehalten hätte. Es hat lange gedauert, bis ich wieder lächeln konnte. Die Gedanken an ihren Tod verdränge ich so gut es eben geht. Im Vordergrund stehen die an unsere gemeinsame Zeit. Oft sitze ich an ihrem Grab. „Für immer in unseren Herzen!“ steht in silbernen Buchstaben auf dem Grabstein. Die Worte treffen zu. Sie wird für immer in meinem Herzen sein. „Ich bin immer bei dir!“ waren ihre letzten Worte. Sie werden mir wohl nie wieder aus dem Kopf gehen, aber sie sind der größte Trost in dieser Zeit. Meine Mutter und ich verbringen viel Zeit bei Rays Eltern. Anna ist immer noch traumatisiert, aber es geht aufwärts. Man hat den Zettel in Rays Tasche erst recht spät gefunden. Ich finde, dass es keine gute Idee war, ihn Rays Eltern zu geben. Es war die Nachricht von Rays Mörder. „Ich hoffe, sie wissen jetzt, was es heißt immer zwischen Hoffen und Bangen hin und her gerissen zu sein, um dann zu wissen, dass alles umsonst war. Ich hoffe, sie wissen jetzt, was es heißt, eine Tochter zu verlieren. Tobias Steinmaar.“ stand darauf. Mark macht sich immer noch Vorwürfe, musste zeitweise deswegen so gar Antidepressiva einnehmen. Ich bin der Überzeugung, dass sie keine Schuld trifft. Sie haben nach bestem Gewissen gehandelt, als sie sich in Sachen Sorgerecht für Elly Steinmaar für deren Mutter entschieden. Dass die beiden wenig später bei einem Autounfall sterben, konnte niemand ahnen. Tobias Steinmaar wurde vor einem halben Jahr in Mauretanien gefunden. Erhängt. Ich hoffe für ihn, dass er es wegen Rays Ermordung getan hat. Dass er es bereut hat. Das hoffe ich wirklich. Ob ich Hass für ihn empfinde? Er hat meine beste Freundin umgebracht. Er hat uns Hoffnungen gemacht, dass wir sie unbeschadet wiedersehen. Dabei hat er alles von Anfang an geplant. Hass ist der falsche Ausdruck, es ist einfach nur tiefste Enttäuschung, über das, was sich heutzutage Mensch nennt. Wie in Zeitlupe falte ich das Papier in meinen Händen sorgfältig zusammen und ertaste mit der freien Hand das kleine Symbol an meiner Halskette. Das chinesische Zeichen für Rays Namen. Sie trug das Zeichen meines Namens. Sie trägt es immer noch. Wir haben sie uns gekauft, als wir vor acht Jahren zusammen in Spanien waren. Seitdem hat keiner von uns diesen Freundschaftsbeweis auch nur für eine Sekunde abgelegt. Sanft lege ich meine eiskalten Hände an den breiten Stamm „unserer“ Eiche. Im Sommer haben wir immer unter diesem wunderschönen Baum gesessen und herum gealbert. Ich schließe die Augen. Ich höre ihr Lachen. Eine letzte Träne bahnt sich ihren Weg über meine Wange. Der Baum beruhigt mich, er hat mich schon immer beruhigt. Ich ziehe ein Taschenmesser aus meiner Jacke und ritze vorsichtig meinen Gedanken in die Rinde. Dann streiche ich mit der Hand darüber, wie als wenn ich mich für die Wunden entschuldigen möchte und lese jeden einzelnen Buchstaben. Der Wind rauscht durch die blätterlosen Äste. Es ist wie eine Antwort. Ein Lächeln auf meinen Lippen, meine Stimme nur in meinem Kopf.
„Wir werden dich nie vergessen, Ray!“
Vorheriger TitelNächster TitelTut mir Leid, dass ich eine "Weihnachtsgeschichte" mitten im Sommer hier online stelle, aber ich hab sie wieder ausgegraben und dachte, sie könnte dem ein oder anderen gefallen.
Gruß,
LenaLena Weidmann, Anmerkung zur Geschichte
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Der Beitrag wurde von Lena Weidmann auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.08.2010.
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