Alexandra Peitsch

Eine blutige Theaterprobe (Teil 1)

     Es war Winter. Eilig folgten sechs Schüler ihrer Lehrerin durch die Nacht. Sie folgten der Außenwand ihrer Schule, bis sie in einer kleinen Bucht verschwanden. Dort schloss Frau Rüdinger die gläserne Tür auf und betrat zusammen mit ihren Schülern das Gebäude. Sie folgten dem Korridor im Erdgeschoss, bis sie in der großen Pausenhalle ankamen. Dort ging die Lehrerin zur gegenüberliegenden Holzwand und öffnete eine weitere Tür. Gemeinsam mit den Schülern betrat sie diesen und betätigte einen Lichtschalter.
     Norah musste sich im ersten Moment die Augen zuhalten, da sie sich erst an das Licht gewöhnen musste. Im ganzen Schulgebäude war es dunkel gewesen und nur die Laternen auf dem Schulhof hatten die Korridore etwas erhellt. In der Aula gab es jedoch keine Fenster, weshalb das Licht eingeschaltet werden musste. Ohnehin wäre dies nicht vermeidbar gewesen, denn sie alle waren hier um für ihr nächstes Theaterstück zu proben.
     Bereits vor drei Monaten wurde über das Stück entschieden und die Rollen waren längst vergeben. Norah durfte die weibliche Protagonisten sein und an der Seite von Chris und Erik spielen. Letzterer war nicht nur in dem Drama ihr Geliebter, sondern auch im echten Leben. Chris hingegen war ihr Exfreund. Sie mochte ihn zwar immer noch, dennoch hatte es vor drei Wochen einen Streit zwischen ihnen gegeben.
     „Amy hat sich heute leider krank gemeldet. Ich denke, dass dies aber auch ohne sie eine gute Nachtprobe werden wird. Ihre Rolle ist ja nicht allzu groß.“, erzählte Frau Rüdinger, während alle ihre Taschen und Jacken auf den Zuschauersitzen abstellten. Die Probe war sehr wichtig, da tagsüber häufig nicht alle Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft kommen konnten. Diese Nacht hingegen war am Wochenende und endlich hatten einmal alle wichtigen Rollen Zeit gehabt. Ausschlafen konnten sie ja am nächsten Tag noch.
     „Wir werden gleich versuchen ein Mal das ganze Stück durchzuspielen. Ab und zu werde ich euch auch mal unterbrechen um ein paar Sätze zur Inszenierung zu sagen. Danach gucken wir dann erst mal wie wir so in der Zeit liegen. Fangt am Besten schon mal an die Bühne für den ersten Akt aufzubauen.“, instruierte die Regisseurin. Sofort gingen die ersten Schüler in den Requisitenraum und begannen ein paar Stühle und Tische aufzubauen. Die anderen kamen ein paar Minuten später hinzu und halfen dann auch gewissenhaft mit.
     Es dauerte nicht lange, ehe alle Vorbereitungen getroffen waren und die Probe offiziell beginnen konnte. Die sechs Schüler spielten den ersten Akt und machten anschließend eine kurze Trinkpause. Norah setzte sich zu der Gruppe und trank einen Schluck aus ihrer Flasche. Ihr Freund Erik nutzte die Gelegenheit und ging auf Toilette, während Frau Rüdinger ein Gespräch mit Sam begann.
     „Kannst du deinen Text für den zweiten Akt? Das wäre wichtig, da die Szene ja sehr lebhaft ist.“, erkundigte sich die Regisseurin und wartete gespannt auf eine Antwort ihres Schülers. Dieser strich sich nur einmal kurz durch sein Haar und antwortete dann motiviert.
     „Ich habe gestern mehrere Stunden den Text geübt. Der letzte Akt sitzt noch nicht so gut, aber der Zweite schon. Dann können wir gleich gut an der Inszenierung arbeiten.“ Norah fiel auf, dass sich nun auch Chris erhoben hatte um auf die Toilette zu gehen. Somit saß sie etwas allein neben Sam und ihrer Lehrerin. Da sie ihren Text bereits konnte, holte sie ihr Handy heraus und überprüfte ihre Nachrichten.
     „Ist das neu?“, fragte Sam plötzlich von der Seite und wendete sich neugierig Norahs Handy zu. Sie nickte nur kurz und gab ihm das Telefon. Beeindruckt musterte ihr Mitschüler es und begann ein paar Knöpfe zu drücken.
     „Du spielst wirklich gut, Norah.“, sprach Frau Rüdinger ihre Protagonistin an. Diese lief daraufhin ein wenig rot an und grinste verlegen. Ihre Lehrerin bemerkte dies auch und fügte sofort ein paar Sätze hinzu.
     „Das stimmt wirklich, allerdings fehlt dir noch ein entscheidender Ausdruck zum Ende des Stückes hin. Ich weiß, dass es sehr schwierig ist diese panische Angst zu spielen. Dann auch noch mit einem Hauch von Verwirrung. Wirklich nicht einfach, aber daran werden wir diese Nacht noch arbeiten.“ Das Grinsen war wieder von Norahs Gesicht verschwunden. Natürlich hatte sie das Lob gefreut, doch ihre Rolle war nicht einfach. Es wartete trotz ihres Ehrgeizes noch eine Menge Arbeit auf sie.
     „Wo sind Finn und Liz?“, fragte Norah nun. Ihr war das Verschwinden der beiden Mädchen gar nicht aufgefallen. Sie kannte sie zwar nur von den Proben, verstand sich allerdings gut mit ihnen. Besonders gefiel ihr an der Theatergruppe, dass es keine großen Altersunterschiede gab. Alle von ihnen waren um die sechszehn Jahre alt gewesen, mal abgesehen von ihrer Lehrerin.
     „Sie sind in ein Klassenzimmer gegangen um ihren Text zu lernen. Ich habe sie schon nach der ersten Szene weggeschickt, da sie erst gleich wieder im Stück vorkommen.“, antwortete Frau Rüdinger, während Sam immer noch mit Norahs Handy beschäftigt war.
     „Soll ich die beiden holen gehen?“, fragen Norah vorausschauend, was ihre Lehrerin sehr beeindruckte. Jene nickte kurz und erklärte ihr dann, dass Finn und Liz im Zimmer von ihrer Klasse waren. Für andere Räume außer dem Hintereingang und der Aula hatte sie nämlich keinen Schlüssel mitgehabt. Nur die Toiletten waren noch offen gewesen, da sie nie verschlossen wurden.
     Norah machte sich auf den Weg und verließ die Aula. In der Pausenhalle kam es ihr nun noch dunkler vor als vorhin, deshalb beeilte sie sich auch um zu der Treppe zu gelangen. Sie musste nur ein Stockwerk höher und dann wäre sie schon fast bei dem Klassenzimmer.
     Plötzlich hörte Norah einen schrillen Schrei und rannte daraufhin instinktiv die Treppenstufen hinauf. Oben angekommen, war schnell klar, woher der Hilferuf kam. Nur wenige Meter von Norah entfernt stand eine Tür weit offen und mitten in ihr eine weinende Finn. Sie schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu sein und starrte wie hypnotisiert auf den Boden des Klassenzimmers.
     Besorgt rannte Norah zu Finn und nahm sie von hinten in den Arm um sie zu stützen. Erst danach sah sie in den Raum und erschrak so stark, dass sie fast selbst noch umgefallen wäre. Norah begann genau wie Finn zu zittern und musste sich an dem Türrahmen festhalten.
     Mitten in dem Klassenzimmer lag Liz, alle Viere von sich gestreckt. Ihr Gesicht war völlig regungslos und mitten auf ihrem weißen Pullover entdeckte Norah ganz viel Blut. Ihr wurde schlecht bei dem Anblick und sie drehte sich fast ohnmächtig um. Beinahe hätte sie ihr Bewusstsein verloren, doch schon im nächsten Moment schossen ihr nur noch Fragen durch den Kopf. Was war passiert? Wer hatte das getan? Was sollte sie jetzt tun?
     „Norah, sie ist tot!“, sagte Finn heiser und weinte dabei elendig. Ihre Schminke war komplett verlaufen und die Augen erschienen nun in einem rötlichen Ton. Norah wollte es einfach nicht wahr haben, was sie dort sah. Liz, eine Mitschülerin von ihr, war während der Nachtprobe gestorben. Sie wollte doch nur den Text lernen gehen und dann das.
     Auf einmal sah Norah verwirrt zu Finn. War sie nicht bei ihrer Freundin gewesen? Schließlich wollten sie zusammen hier hoch gehen und lernen. Das passte doch nicht zusammen.
     „Finn, wo warst du, als das passiert ist?“, fragte Norah mit zittriger Stimme. Sie versuchte wieder ruhiger zu werden, doch es ging einfach nicht. Je mehr sie wieder die Kontrolle über sich erlangen wollte, umso schrecklichere Fragen schossen ihr durch den Kopf. Finn konnte unmöglich Liz umgebracht haben. Sie waren beste Freundinnen gewesen, aber wer war es dann? Vielleicht war der Mörder auch noch in ihrer Nähe und hatte seine beiden nächsten Ziele längst anvisiert.
     „Norah, ich – ich war auf Toilette und dann – dann wollte ich zurück zu Liz und dann…“ Finn musste ihren Satz abbrechen, da sie erneut ihre Beherrschung verlor und in Tränen ausbrach. Norah wäre fast genau dasselbe passiert, doch ihr Verstand siegte bei ihrem Kampf um die Tränen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Liz ermordet worden war und der Täter noch im Schulgebäude umherirrte. Sie war zwar gewarnt, doch ihre weiteren Mitschüler waren noch in der Aula oder auf Toilette gewesen. Sie ahnten ja nicht, dass ein Mörder in der Dunkelheit unterwegs war.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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