Günter Gau

(Auch der größte Wald ...) Beginnt mit einem kleinen Bäumchen

 
Sein glücklicher Gedanke, die verehrungswürdige Idee, die kam Eleazar Bouffier,
ganz widersinnig eigentlich, auf einem Friedhof. Jeden Sonntag stand er trauernd
am Familiengrabe. Er als Letzter seiner Sippe war nur noch am Leben. Wenn man
ihn dorthin erst trage, würde es Bouffiers in jenem Landstrich nicht mehr geben.
(Das "Familiengrab"; ein ahnungsvoller Name für den Ort, der hier die letzte
Konsequenz im Wort schon beinah in sich barg.)
 
Am Sonntag fand er sich am Friedhof ein, dann sah man ihn beim Grabe stehen. Jene
Kirche, die daneben stand, besuchte er davor genauso wiederkehrend. Nun jedoch
hat dieses Haus ihn während langer Zeit nicht mehr gesehen. Erst hat er den
Sohn zu Grab getragen und noch wochenlang den Sonntag aufgeteilt an Friedhof
und das Beten. Aber bald danach schon musste er die Frau begraben; wollte
daraufhin das Gotteshaus nicht mehr betreten. Nicht, dass er an keinen Gott
mehr glaubte, zornig war er vielmehr auf den Höchsten; weil er ihm die Allerliebsten
raubte. Fromme Sprüche könnten diesen Schmerz nicht trösten. Also hat er ihn fortan
gemieden, war der Messe ferngeblieben. Hat vielleicht gedacht, so könne er Gott strafen.
Großen Eindruck hat's da oben aber nicht gemacht. Mit solchem trotzigen Verhalten
provoziert man keine Reaktion bei dem Gebieter über die Gewalten. Oder etwa
diesmal schon?
 
An jenem ganz bestimmten Sonntag war sein Schauen, sonst nach innen stets
gekehrt in dumpfe Träume, durch ein Pflänzchen abgelenkt und aufgefangen. Eine
von den Eicheln, die die Friedhofsbäume massenhaft zur Herbstzeit fallen ließen, war
wohl in der Grabeserde aufgegangen. Eine Weile war ihr Sprießen unbemerkt geblieben
und so konnte jener Trieb in seiner anonymen Zeit an Höhe deutlich schon gewinnen.
Dieses Grab, obwohl Bouffier dort jede Woche Stunden blieb, war zugewachsen, nicht
gepflegt, zumindest nicht verglichen mit den nachbarlichen kargen Feldern, die
die andren Särge derer bargen, die bereits verblichen. Er war nicht der Freund
von blank geputzten Erden und Rabatten, wie mit dem Lineal gezogen. Samen, die
nach oben ihren Weg gefunden hatten, ließ er werden. Höchstens griff Eleazar
ein wenig ein, nur hie und da, und lenkte dann den Wildwuchs auf der Gruft;
verschaffte einer Blüte, die zu klein und schwach und wäre sonst erstickt, ein
wenig Luft, damit auch ihr das Leben glückt.
 
Er hätte auch das Treiben dieser Eichenpflanze gerne zugelassen. Doch es war ihm
klar, hier konnte sie nicht bleiben. So beschloss Eleazar, das ganze Eichlein
auszugraben, mit den hohlen Händen seine Wurzel vorsichtig zu unterfassen, und an
einen andren Ort zu tragen. Während er das tat, war er am überlegen, wo er diesem
Baum wohl eine neue Heimat geben könnte. Möglichkeiten gab es grad genug, in
jenem Teil von Frankreich wuchsen kaum noch Bäume. Früher waren diese weiten
Räume voller Wald gewesen. Aber der war nun seit langem abgeholzt, gerodet und
vergangen. Die Beweidung, die man seither intensiv betrieb, tat dann das
übrige, die Zucht von jungen Bäumen zu erschweren, bis nicht einer von den
alten übrig blieb, der durch die Samenfrucht und Tochtertriebe hätte sich
vermehren können. Als dann auch die letzte Nuss, die jahrelang gewartet hatte,
um zum Schluss noch auszutreiben, kaum dass sie ans Licht gekommen, wieder
abgefressen wurde, war die Hoffnung auf ein Bleiben oder Neuentstehen dieses
Waldes wohl zerronnen.
 
Dieser Mangel war  Eleazar nur allzu gut bekannt. Bevor dass seine Frau gestorben,
und er sich hat abgewandt von dem, was einst sein Alltag war, da hat er sich als
Schäfer seinen Lebensunterhalt erworben. Weit war er in diesen nun verarmten
und verkarsteten Gebieten damals noch umher gestiegen. Einer Menge Menschen
konnte jenes Land vor vielen Jahren einen kleinen Wohlstand bieten. Doch die
Bäche hatten aufgehört zu fließen. Wenig von dem Volk, dem dieser Wald, so lang
er stand, einmal als Heimat galt, war noch geblieben. Unterkommen fand, wer
dort noch hauste, in den halbverfallenen Ruinen, deren graue Brocken Wind noch
eher anzulocken als zu hemmen schienen. In den letzten Jahren hat Bouffier die
Ödnis dort gemieden. Seine Schafe waren anderen zur Nutzung übergeben und
Eleazar gab sich zufrieden mit der kleinen Pacht, die diese gaben; denn er
brauchte nicht mehr viel zum Leben. Doch er konnte sich noch gut entsinnen an
die trockenen und darben Orte, die er einst durchzogen. Und auch an ein flaches
Tal mit einem alten Bachlauf drinnen, der zwar nun versiegt war, tief im Boden
aber hatte sich noch Feuchtigkeit gehalten. Zu der Senke wollte er das Bäumchen
bringen, es mit einem Schutzwall sanft umgeben und drauf hoffen, dass ihm
könnte Überleben dort gelingen.
 
In diesen Sekunden, in denen Bouffier im Gedächtnis für's Bäumchen ein passendes
Plätzchen gefunden, entstand jene großartig kleine Idee, die unsterblich ihn
machen hat sollen. Es war noch kein fertiger Plan, bis ans Ende gelesen, es war
nur ein zaghaftes Wollen. Doch ist dieser simple Gedanke fortan Existenz ihm
gewesen; hat Sinn in sein Leben gebracht. Das Ganze war nicht als Kampagne, als
Feldzug gedacht, keine heilige Pflicht, zur Verfolgung von höheren Zielen. Im
selbst sich genügen viel eher verbarg sich ein Teil ihrer Größe und Gnade. Denn
grade durch seine Geduld, die Bescheidenheit, seine Beharrlichkeit schuf und
vollbrachte Bouffier in so vielen ganz einsamen Stunden der ihm noch
verbleibenden Zeit die erstaunliche Tat, welche Ehrfurcht einflöße dem
Menschen, der davon erfährt. Wohl hat mancher schon etwas erfunden von
bleibenden Wert, und es wird ihm bescheinigt, dass schöpferisch sei er gewesen.
Doch hier hat ein fleißiger Schäfer im besseren Meinen das Werk eines
Schöpfers, vielleicht auch des EINEN, alleinigen, schweigsam getan. War von
niemand gezwungen, er hätt's nicht gemusst. Es war einfach nur gut und das war
ihm genug und er ist auch genesen daran. War am Ende versöhnt mit dem Gott,
dessen Werk ihm gelungen, den Menschen, für deren so viele er letztlich
errungen die Bäume, die Räume zum Leben, zum Glück aus der Wüste zurück. Und
nur wenige haben's gewusst oder auch nur bedacht, dass da einer dies alles
gemacht.
 
An jenem Sonntag, an dem Grabe seiner Lieben, konnte er das alles freilich noch
nicht wissen. Der Gedanke war noch roh, die Pläne erst zu schmieden. Konsequenzen
waren höchstens schemenhaft umrissen. Sanft, behutsam setzt er das Bäumchen
wieder auf die Erde, kniete nieder und fing an, mit raschen Händen all die Eicheln,
die dort lagen, aufzuklauben. Seine Beute stopfte er dann in die Taschen seines
Mantels. Während er damit zugange fühlte er, sein Herz, das klopfte anders als bisher.
Als wie wenn lange nicht gekannter Glauben an die Zukunft Einlass dort begehr'.
Eleazar verstand, dass der Gedanke, der ihn überfallen, war in allem edel,
schlicht und gut. Und grade deshalb ohne Schranke, fände er, der Schäfer nur
den Mut, am Leben ihn zu halten und auch zu gestalten. Dass nach all den Jahren
angefüllt mit dunklem Sinnen in ihm drinnen ein Gedanke solcher Güte wieder
blühte, wurde ihm mit einem Mal in vollem Maß bewusst. Es wollte sich ein
Glücksmoment an ihn verschenken. Dankbar war Bouffier dafür, dass die Idee
gerade ihn hat ausgesucht, sie auszudenken. Bald schon hatte er die Taschen
prall gefüllt mit Eichelfrucht zuhauf; die Sammellust gestillt. So hob er
seinen Schössling wieder auf und nahm den Weg nach Hause hin zu seiner
Witwersklause.
 
Dort, daheim dann angekommen pflanzte er den Spross in einen Blumentopf hinein
und leerte all die Eicheln, die er mitgenommen, auf den Tisch. Er nahm beiseite
jene Samen, die ihm wegen Wurmbefall und auch aus andren Gründen nicht mehr
frisch genug erschienen um als Keim für seinen Plan zu dienen. Reichlich
hundert glatte, runde, augenscheinlich noch gesunde Eicheln ließ die Probe
übrig. Jene Nacht kam widrig an den alten Mann. Er war sonst keiner, der die
Dunkelheit nicht leiden kann. Der kleine Tod der Nacht war das, was ihm am
meisten noch Erlösung hat gebracht, war ihm schon fast zum Freund geworden.
Diesmal aber konnte er den Morgen kaum erwarten. Wollte sehen, fühlen, schaffen
den gedachten Garten. Statt von Müdigkeit war er von Tatendrang wie lange nicht
gekannt auf einmal übermannt. Am nächsten Tag in aller Frühe machte er sich
wetterfest zurecht, verstaute Eicheln und die Pflanze, suchte eine etwas mehr
als meterlange, daumendicke Eisenstange, wog sie in der Hand wie eine Lanze;
wie ein alter Krieger auszieht ins Gefecht, so zog auch er nun wieder aus, auf
dass die Ödnis blühe. Stundenlanges Wandern tat ihm gut und war ihm recht, wenn
auch Eleazars Gelenke die spezielle Mühe des Marschierens schon seit Jahren
nicht gewöhnt mehr waren. Schließlich kam er zu dem schon erwähnten Tal, und
pflanzte dort zunächst das kleine Eichenbäumchen an. Er bohrte dann mit seinem
Eisenpfahl ein Loch in den maroden Boden. Dort hinein versenkte er behutsam nun
den ersten einer langen Folge Eichensamen. Darauf ging er weiter um nun jeweils
ein paar Meter später wiederholt mit seinem Eisenstab zu bohren, Samen dort
hinein zu geben und die Löcher wieder zuzufegen. Zehn bis zwanzig Mal so
vorgegangen wich er ab von der gedachten Pflanzgeraden, um in paralleler Reihe
wie an einem unsichtbaren Faden, fast so schnell als wie im Weitergehen, wieder
eine neue Reihe Eichen anzusäen. Nicht mal eine Stunde war vergangen seit er
mit dem Setzen angefangen; hundertmal hat er mit seinem Eisenstock gestanzt,
die ersten hundert Eichen angepflanzt.
 
"Ich sollte hundert Bäume pflanzen jeden Tag, der mir noch bleiben mag", genau
das war es, was Bouffier an jenem Sonntag auf dem Friedhof dachte. Und im
Folgenden auch machte. Denn er hielt, was er sich selbst versprochen; nur zur
Herbstzeit manchmal unterbrochen, wenn er größere Distanzen zu durchwandern
hatte, um sich weiter fort, wo noch die Wälder standen, einzudecken mit den
Eicheln, die sich dort in der erforderlichen Menge fanden. Später, als er dann schon
weit an Jahren vorgerückt, da gab es noch so manchen andren Tag, so manche
Zeit, in der des Alter's Plage ihn zu sehr gezwickt, wodurch Bouffier in seiner Hütte
festgehalten. Doch nur selten zahlte er auf diese Art Tribut; dem Greisen meinte die
Natur es gut, als wolle sie vergelten nun dem Alten sein jahrzehntelanges gütiges
Verhalten.
 
In der Summe lässt sich's grob nur überschlagen, doch Bouffier hat bis zu seinem
Tod wohl über eine Million an Bäumen eingegraben. Vielen Widrigkeiten, die sich
gegen ihn verschworen, bot er unerschütterlich die Stirn. Die Pflanzung mancher
Woche, manches Monats ging ihm auch verloren. Doch am Ende von Bouffier's
Epoche stand ein wunderschöner Wald von Dutzenden von Kilometern im Quadrat,
wo man zuvor nur Wüstenei gesehen hat und nichts als Steine fand.
 
Eleazar Bouffier und seine Bäume gibt es heut nicht mehr, zumindest kann kein
Mensch mehr einen Wald benennen, welcher sicher als der seine wäre zu erkennen.
Aber sein Gedanke lebt noch sehr und wird unsterblich weiterleben. Und vielleicht
hat's ihn und seinen Wald auch nie gegeben. Unser Held Bouffier; vielleicht war auch
er selber nur Idee; der Einfall Jean Gionos, der sich Mann und Wald erdachte und
den beiden dann ein Denkmal machte. Wenn's so war, dann war dem Autor es
geschenkt, der erste Mensch zu sein, der diesen Glücksgedanken denkt. Gedankt
sei ihm dafür, dass er ihn aufbewahrte und in wohlgesetzten Worten uns, den
Lesern, offenbarte. Oder es gab einen unbekannten, unbenannten Dritten, der sich
die Idee ersonnen und sich dann ein Herz genommen, hätte diesen Weg (vielleicht
nicht ganz so intensiv) beschritten, und dann wäre es dazu gekommen, dass er
beiden, dem Giono und auch seinem Held Eleazar das Vorbild war. Doch wie auch
immer, sei es anders oder so, es dachte jemand den Gedanken, brachte ihn in diese
Welt, wo er nun lebt und uns das Glück beschert, ihn nach-zu-denken, unsren Sinn
auf etwas Gutes hin zu lenken, das bewegt.
 
Wer weiß, vielleicht, vielleicht geschieht es eines Tages, dass Bouffiers Gedanke
den erreicht, der ihn dann denkt und weiterdenkt und dann nach mehr noch strebt
und ihn dann lebt. Das wär ein Segen.
 
Eleazar Bouffiers müsst's viele geben.

 

Prequel zu "Der Mann, der die Bäume pflanzte" von Jean GionoGünter Gau, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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