Christiane Mielck-Retzdorff

Die Lücke, die ich hinterlasse



 
 
 
Sonja Martens wurde an einem Donnerstag von einem LKW überrollt, dessen Fahrer einen Herzinfarkt erlitten hatte, und der sich der Schuld an dem plötzlichen Ableben der 44jährigen durch nahezu zeitgleiches Ableben entzog.
 
Sie hinterließ einen Ehemann und zwei Söhne im Teenageralter, die alle drei sehr aktiv in örtlichen Vereinen waren. Die beiden Jungen spielten erfolgreich Fußball beziehungsweise  Tennis, während der Vater, der Direktor der Sparkasse, neben Aufgaben in verschiedenen Vorständen im Gesangsverein den Bariton gab.
 
Schon seit 17 Jahren wohnte die Familie in einer idyllischen Siedlung mit schmucken Einfamilienhäusern und erfreute sich allgemein großer Beliebtheit. So waren auch verschiedene hilfreiche Hände dem Witwer und seinen Söhnen nach dem tragischen Ereignis behilflich. Und um gerade den Kindern das Leben ohne die Mutter zu erleichtern, sollte alles weiterlaufen wie bisher.
 
Bei der Vorbereitung der Trauerfeier fiel dem Pastor erstmals auf, dass Sonja Martens eine Frau ohne Eigenschaften gewesen war. Niemand wusste etwas Besonderes zu berichten, so dass der Pastor in seiner Ansprache die Verstorbene lediglich als treusorgende Ehegattin und liebevolle Mutter loben konnte.
 
Allerdings bestand ihre Schwester darauf, noch einen Brief zu verlesen, den Sonja Martens ihr schon vor Jahren für den Fall ihres Todes gegeben hatte. Auch wenn sie meinte, dass die Verstorbene wohl kaum etwas Bedeutungsvolles zu sagen hatte, erfüllte sie aus Angst vor Verdammnis die Aufgabe pflichtbewußt, schritt vor den Altar und öffnete halb neugierig halb ängstlich den anvertrauten Umschlag. Mit erstaunten Augen las die Schwester laut: „Die Lücke, die ich hinterlasse, ersetzt mich vollkommen.“
 
Die Trauergäste sahen sich befremdet an, während die Schwester peinlich berührt eilig zu ihrem Platz zurückkehrte. Zur allgemeinen Erleichterung gab der Pastor dem Organisten ein Zeichen und ein Kirchenlied erklang, in das alle mit Inbrunst einstimmten. Niemand erwähnte jemals wieder Sonja Martens letzte Botschaft.
 
Die Haushaltshilfen, die Hubert Martens einstellte, erwiesen sich alle samt nach kurzer Zeit als Versagerinnen. Die eine weigerte sich zu bügeln, die andere fand gar keine Zeit zum Waschen. Konnte eine kochen, vergaß sie das Staubsaugen. Die Fenster erblindeten bis zur Verpflichtung eines Fensterputzers und das von den Eltern des Hausherrn geerbte Silberbesteck oxidierte eindrucksvoll vor sich hin.
 
Als Bankangestellter verstand Huber Martens etwas von Zahlen, aber ihm fehlte die Akribie, sich mit kleinen Haushaltsbeträgen auseinanderzusetzen. Sein Alltagsgeschäft war es, über große Kreditbeträge zu entscheiden und die Entwicklung der Weltwirtschaft im Auge zu behalten. So verlor er bald den Überblick über die Haushaltskasse. Ein Umstand, der gern von den wechselnden Hausangestellten ausgenutzt wurde.
 
Da das Gießen der blühenden Stauden im Garten in die Abendstunden fallen sollte, in denen Vater und Söhne in ihren Vereinen beschäftigt waren, ließen die Blüten bald trostlos die Köpfe hängen, während das Unkraut offensichtlich auch ohne Wasser üppig gedeihen konnte. Ein hinzugezogener Gärtner forderte für seine sommerliche Vollbeschäftigung einen Obolus, der Hubert Martens dazu veranlasste, ihn unter Beschimpfungen vom Grundstück zu jagen.
 
Auch musste der Witwer feststellen, dass seine vom Sohn erbetene Hilfe zur Berichtigung einer Abhandlung auf Englisch bei weitem sein Kenntnisse überstieg wie auch die Erklärung der lateinischen Grammatik. Diese Aufgaben wurden an zwei Nachhilfelehrer weitergegeben, die jedoch bald erkennen mussten, dass das von ihnen verlangte Allgemeinwissen auch sie an ihre Grenzen führte.
 
 Die Nachbarinnen, die immer wieder an der Tür klingelten, weil sie Hilfe bei der Backkunst oder ein Kleidungsstück geändert haben wollten, schienen erst langsam zu begreifen, dass Sonja Martens tot war. Genauso wie ihre Schwester, die anfangs mehrmals wöchentlich anrief, um schließlich zu erkennen, dass ihr verwitweter Schwager keine Lust hatte, sich ständig die Dramen ihrer gescheiterten Liebesbeziehungen anzuhören.
 
Als Hubert Martens eines Abend über den Unkraut umrankten Weg zu seinem ziemlich verwahrlostes Haus ging, den Brief wegen der gefährdeten Versetzungen seiner Söhne in der Hand zusammen mit seinen eigenen, bedrückenden Kontoauszügen, wurde ihm plötzlich bewusst, was seine verstorbene Frau mit jenem Satz gemeint hatte. „Die Lücke, die ich hinterlasse, ersetzt mich vollkommen.“ In dieser Lücke erkannte der Witwer nun eine fleißige, sparsame, gut organisierte, auf vielen Gebieten versierte und dabei immer fröhliche Frau. Sie hatte unendlich viele Eigenschaften gehabt, die nun an jeder Ecke fehlten. Und er war nicht der einzige, der das endlich verstand.      

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