Michael Dauk

Boule



Abends
an einem Sommerabend im Lindenpark in Eimsbüttel. Der Bouleplatz ist
wieder einmal gut besucht. Ich sitze im Schatten einiger
ahornblättrigen Platanen. Die Linden stehen an anderen Stellen, sind
aber gut zu sehen. Die Luft ist drückend. Tagsüber herrschten
Temperaturen von über dreißig Grad im Schatten. Und auch jetzt
gegen neunzehn Uhr dreißig ist es kaum kühler. Die Boulespieler
bewegen sich langsam und träge. Wie viele mögen es sein? Vielleicht
dreißig Personen, fast alles Männer. Nur zwei Frauen sind dabei. Es
sind alle Altersgruppen vertreten, vom Teenager bis zum weißhaarigen
Rentner. Boule ist ein ernsthaft zu betreibendes Spiel. Es darf
allerdings auch gelacht werden. Wehe aber, ein Maßband oder
Zollstock fehlen. Dann kommen aufgelesene Zweige zum Einsatz, die in
den entsprechenden Längen abgebrochen werden, um die Distanzen der
einzelnen Stahlkugeln zum Spielball, der sogenannten Sau, zu
ermitteln. Wer nicht gerade in einem Team spielt, schaut auf einer
der Bänke zu, übt für sich das Werfen der Kugeln, hauptsächlich
das Schießen, bei dem eine bereits liegende Kugel vom Spielball
durch Karambolage entfernt werden soll, oder geht Biernachschub beim
nahen Kiosk holen. Die echten Bouler outen sich dadurch, dass sie bei
einem guten Wurf eines Mit- oder Gegenspielers die in der Hand
gehaltenen Kugeln aneinander klacken lassen und „Tres bien, tres
bien!“ rufen. Aber bloß nicht zu laut. Das Rauchen ist hier auch
auf dem Spielfeld erlaubt.


Um
ein guter Boulespieler zu sein, bedarf es nicht unbedingt einer
gewissen Geschicklichkeit oder eines gut koordinierten
Bewegungsablaufes, nein, entscheidend ist die Konzentration. Und
diese darf nicht nur innerlich statt finden, im Gegenteil, sie muss
der Öffentlich gezeigt werden. Je länger sich der Boulespieler vor
dem Wurf konzentriert, um so höheres Ansehen genießt er. Der Wurf
kann dann ruhig daneben gehen. Hier ist nicht das Ergebnis
entscheidend, sondern die Exzentrik der Ausführung. Der
Spitzenspieler geht mit Vorliebe zunächst in die Hocke, wippt
gefühlte fünf Minuten auf den Zehenballen, die Kugel mit
ausgestrecktem Arm weit von sich gestreckt, richtet sich wieder auf
und wirft die Kugel mit weit vorgebeugtem Oberkörper steil in die
Luft. Mit einem dumpfen Knall trifft sie auf dem feinen, hellbeigen
Schotter auf, ohne in die Nähe der Sau zu gelangen. Ohne die fünf
Minuten in der Hocke wäre das einfach ein Scheißwurf gewesen, so
aber eine stilgerechte Ausführung mit einem Ergebnis, das ohnehin
Niemanden interessiert, am allerwenigsten den Spieler selbst. Die
wahren Profis wechseln sogar nach Abschluss der Konzentrationsphase
die Kugel in die andere Hand. Da macht es dann auch nichts, wenn die
Kugel anschließend gemeinsam in den angrenzenden Büschen gesucht
werden muss. Wichtig ist auch während der Konzentrationsphase das
Drehen der Kugel in der Hand. Sie darf auf keinen Fall ruhig in der
Handfläche gehalten oder von den Fingern umklammert werden. Die
Handfläche muss nach oben zeigen und die Kugel mit leichten
Wellenbewegungen zum Rotieren gebracht werden. Und wehe, sie ist
schmutzig! Aber dafür hat ja jeder der Spieler das eigene Tuch zur
Hand, respektive in der dem Spielarm gegenüberliegenden hinteren
Hosentasche. Ein unverzichtbares weiteres Utensil ist der kleine,
starke Magnet, an einer etwa einen Meter langen Schnur befestigt, mit
dem die Spieler die Kugeln ohne unästhetische Bückbewegungen
aufnehmen können. Schade, ich habe noch keinen Spieler gesehen, der
einen einschaltbaren Magneten an der Hüfte trägt, der, sobald er
aktiviert ist, bei einer bestimmten Position zur Kugel diese an seine
Körpermitte schnellen lässt.


Der
junge Mann neben mir auf der Bank hat sich eine mörderische Tüte
gebaut und raucht in langen, genussvollen Zügen. Der süßliche
Rauch steigt mir intensiv in die Nase. Als ich ihn etwas irritiert
anschaue, bietet er mir an, auch einige Züge zu nehmen. Ich lehne
dankend ab. Ich möchte heute Abend noch ein abschließendes Bier
trinken und weiß aus persönlicher Erfahrung um das heikle
Zusammenwirken von Marihuana und Alkohol. Mit gespannter
Aufmerksamkeit schaut er dem Spiel zu. Schließlich kramt er aus
seiner großen Umhängetasche eine kompakte Videokamera und filmt das
Geschehen. Er scheint einige Übung darin zu haben, denn er hält die
Kamera sehr ruhig, vollführt keine hektischen Schwenks. Seine
Einstellungen sind sehr lang, einmal hält er ein Spiel in einer
mindestens zehn Minuten langen, einzigen Szene fest. Die Spieler
schauen immer häufiger zu ihm hinüber. Einige von ihnen werden
offensichtlich unruhig. Wollen sie hier nicht gesehen werden?
Schließlich geht ein junger, kräftiger und großer Mann auf meinen
Banknachbarn zu und bittet ihn, mit der Aufnahme aufzuhören. Die
Mehrzahl der Spieler wolle das nicht, fügt er hinzu. Mein Nachbar
entschuldigt sich, packt die Kamera ein und bemerkt, dass er die
Aufnahme zu Hause löschen wolle. Mit einem gemurmelten o. K. Geht
der junge Mann wieder zu seinen Mitspielern. Ich frage mich, ob er
denn wirkliche die gefilmten Sequenzen löschen wird.


Ich
wende mich wieder dem Geschehen auf der Spielfläche zu. Welche
unterschiedlichen Typen gibt es doch dort zu beobachten! Da ist der
Mann mit dem gelben Poloshirt mit seitlichen grünen Streifen,
ungefähr Mitte vierzig, ausgestattet mit einer Wampe mittlerer
Schronzgröße. Kurzes, krauses Haar, knielange Hose mit ausgebeulten
Cargotaschen, blaue Plastiksandalen. Blau! Er schlurft arthritisch
über den staubigen Schotter, kleine Wolken aufwirbelnd. Wenn er
nicht gerade an der Reihe ist, sitzt er auf einer der Bänke und
raucht. Sein Spielstil erinnert an das eines Kindes: Lassen wir die
Konzentrationsphase einmal fort. Der Oberkörper ist gespannt im
Winkel von fünfundvierzig Grad nach vorn gebeugt, die Kugel in der
rechten Hand locker von oben gehalten, ein kurzes Ausholen fast nur
mit dem Handgelenk, ein ruckartiges Vorwärtsschnellen des Armes, die
Kugel fliegt, der Arm zuckt zwanzig Zentimeter nach oben – und der
Körper fällt in sich zusammen wie ein geleerter Kartoffelsack. Oder
der stets schwarzgekleidete Typ, der nur barfuß durch die Gegend
läuft, auch auf dem Fahrrad zieht er keine Schuhe an. Na, ja, im
Winter habe ich ihn auch ein paar Mal mit Schuhen gesehen. Ich halte
sein Gehabe für Manierismus. Schließlich ist er heute, obwohl er
gleich in der Nähe wohnt, hinunter zur U-Bahn-Station Christuskirche
gegangen, hat sich ein Stadtrad geholt und ist damit zum Bouleplatz
gefahren. Wie erwartet, sah er sich einigen Fragen ausgesetzt. Nichts
anderes hat er wohl gewollt. Seine Spielweise ist dagegen eher
unspektakulär. Überhaupt scheint er die meiste Zeit geistig
abwesend zu sein und schlendert ziellos und in sich versunken über
dem Platz. An den Wettbewerben nimmt er nur wenig teil.


Interessant
ist der Jüngste der Gruppe: Ein fünfzehn- bis sechzehnjähriger
Jüngling in zerschlissenen Turnschuhen und blauen Jeans, über die
sich ein ausgebleichtes, viel zu großes T-Shirt bauscht. Dieser
Spieler hat nur das aggressive Schießen im Sinn. Er wird von seiner
Mannschaft auch immer nur für diesen Zweck eingesetzt. Die Kugel so
nahe wie möglich an die Sau zu platzieren, ist vielleicht unter
seiner Würde. Das Schießen beherrscht er aber wirklich exzellent.
Der gesamte Körper lehnt sich leicht nach vorn, der rechte Wurfarm
ist waagerecht nach hinten gestreckt, der linke im Winkel von neunzig
Grad zur Seite gehalten, eine fließende und elegante Bewegung ohne
weiteres Ausholen, und die Kugel fliegt zielsicher in flachem Bogen
auf ein gegnerisches Spielgerät zu und feuert es in die Büsche.
Der, mit dem er oft zusammen spielt, ist ein hartgesottener
Altkommunist mit wehendem weißen Haar. Ich verrate hier nicht seinen
Namen, denn er will inkognito bleiben. Zumeist schwarzgewandet,
besticht durch eine ungewohnt zurückhaltende Spielweise, die jedoch
äußerst effizient ist. Er spielt meist am Anfang eines Matches,
weil er in der Lage ist die etwas unebene Oberfläche des Platzes zu
lesen und die Kugel sehr genau neben der Sau zu platzieren. Seine
kurze Konzentrationsphase ist frei von jeglichem, Aufmerksamkeit
heischenden Gehabe. Da ist der kleine Rentner, ebenfalls mit weißer
Haarpracht schon von ganz anderem Kaliber. Gefühlte zehn Minuten
steht er da, reglos, nur die Zehen bewegen sich rhythmisch auf und
ab. Endlich bewegt er den Arm, streckt in langsam nach vorn, wirft
die Kugel mit einer zuckenden Bewegung und zieht anschließend beide
Arme eng an den Körper, wie wenn er sich erschrocken hat wie ein
furchtsames Eichhörnchen. „Huch! Was hab´ ich da bloß gemacht?“


Der
Alte im grün-schwarzen Blockstreifenhemd ist ein Pedant. Eben
Blockstreifenhemd. Akribisch achtet er darauf, dass die Mitspieler
auf keinen Fall den mit der Fußspitze gezogenen Halbkreis
übertreten. Ist dieses doch einmal der Fall, erklärt er den Wurf
sofort für ungültig, gleichgültig, ob dieser völlig daneben ging
oder genau ins Ziel traf. Er trägt sein Tuch nicht in der hinteren
Hosentasche, sondern hält es in der linken Hand. Zwei kurze
Ausholbewegungen, und er wirft die Kugel mit einer mädchenhaften
Manier. Na, ja, so hätte es meine Mutter früher ausgedrückt.
Anschließend zieht er den Wurfarm an die Brust und lässt die Hand
einige Sekunden nach unten hängen. Sein Partner, der große Asket
mit der Halbglatze, verhält sich ähnlich, nur zieht er am Ende die
Hand über die rechte Schulter, genau wie Hitler früher die
johlenden Massen teilweise gegrüßt hatte. Ich hoffe nur, dass er
sich der Ähnlichkeit der Gesten nicht bewusst ist.
Denkt
jetzt aber nicht, dass ich die Boulespieler lächerlich machen
möchte. Ich sitze gern im Lindenpark und schaue den Leuten zu. Es
sind mir halt so einige Sachen aufgefallen.


Hamburg,
Juli 2010

Kurze Skizzen über Boule spielende Menschen, überhaupt nicht böse gemeint. Bein Beobachten im Park diekt in das Notebook geschriebenMichael Dauk, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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